Besitzen Sie die
wissenschaftlichen Fähigkeiten?
Ein Interview mit Yu Hai, Mitglied der Gesellschaft
zur Förderung der Demokratischen Entwicklung
Viele von uns besitzen nach der Schulbildung
ein umfangreiches Buchwissen. Aber wenn sie im Alltagsleben vor
Problemen stehen, wissen sie nicht, wie sie sie lösen sollen.
Warum? Dazu befragten wir Yu Hai, Mitglied der Gesellschaft zur
Förderung der Demokratischen Entwicklung und stellvertretender
Rektor der Medizinischen Hochschule Zhejiang.
China heute: Die Chinesische Gesellschaft
für Wissenschaft und Technik hat eine Untersuchung über
die wissenschaftlichen Fähigkeiten der Chinesen vorgenommen.
Das Ergebnis zeigt, daß nur 0,3% der Chinesen über solche
Fähigkeit verfügen. Im Verhältnis zu den Amerikanern
ist das nur 1:23 und zu den Europäern 1:15. Der Untersuchung
zufolge ist aber der Anteil der Chinesen, die eine Weiterentwicklung
der Wissenschaft und Technik befürworten, höher als der
in den USA und in Europa. Was meinen Sie dazu?
Yu Hai: Man legt in China großen Wert
auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik, das bedeutet nicht,
daß man schon wissenschaftliche Fähigkeiten besitzt.
Um die wissenschaftliche Fähigkeit des Volkes zu erhöhen,
reicht nicht aus, wenn man nur appelliert, den Aufschwung des Staates
durch die Entwicklung von Wissenschaft und Technik zu fördern.
China heute: Was hat man eigentlich unter
dem Begriff "wissenschatliche Fähigkeit des Volkes"
zu verstehen?
Yu Hai: Nach der allgemein anerkannten Definition
bedeutet das die Auffassungsgabe und
das Erkenntnisniveau des Volkes. Dazu gehören eine wissenschaftliche
Denkweise, die Kenntnis wissenschaftlicher Fachausdrücke und
Kenntnisse über wissenschaftliche Forschungnsmethoden. Außerdem
soll man wissen, welche Einflüsse die Wissenschaft und Technik
auf die Gesellschaft ausüben und entsprechende Fragen vernünfig
beantworten können.
China heute: In den letzten Jahren werden
in vielen Gebieten Chinas Tempelanlagen rechtswidrig errichtet.
Pseudowissenschaft verbreitet sich im ganzen Land. Ist daran die
unterentwickelte wissenschaftliche Fähigkeit des Volkes schuld?
Yu Hai: Genau. Mangelnde wissenschaftliche
Kenntnisse führen leicht zum Aberglauben und zum blinden Gehorsam.
Ein gutes Beispiel dafür ist, daß Produkte, die keinerlei
positive Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen haben, dank
schöner Verpackung und Reklame einen guten Absatz finden. Außerdem
hat der Grad der wissenschaftlichen Fähigkeit des Volkes Einfluß
auf die Entwicklung der Wissenschaft und der Gesellschaft insgesamt
sowie auf die politische Stabilität.
China heute: Die feudalistische Herrschaft
in China hat über Jahrtausende die Entwicklung von Wissenschaft
und Technik und die Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse behindert.
Seit der Gründung des Neuen China, besonders seit der Einführung
der Reform- und Öffnungspolitik 1979, hat die chinesische Regierung
großen Wert auf die Entwicklung von Wissenschaft und Technik
gelegt. Warum ist die wissenschaftliche Fähigkeit des chinesischen
Volkes immer noch so niedrig?
Yu Hai: Die wichtigsten Gründe dafür
sind das niedrige Bildungsniveau, die mangelhaften Bildungsressourcen
und das Ignorieren des wissenschaftlichen Geistes. Der Kern des
wissenschaftlichen Geistes ist die Suche nach der Wahrheit. Die
Behauptung einer neuen Theorie erfordert ein unwiderlegliches Beweismaterial,
das ist die Grundlage für die Existenz der Wissenschaft.
China heute: Kann man sagen, daß man
über einen wissenschaftlichen Geist verfügt, wenn man
wissenschaftliches Know-how besitzt?
Yu Hai: Nein. Es kommt vor, daß Wissenschaftler
mit einem umfangreichen und tiefgründigen Wissen nicht am wissenschaftlichen
Geist festhalten, sondern sich an Pseudowissenschaften hingeben.
Die Anhänger der Falonggong-Sekte sind ein gutes Beispiel dafür.
Denn viele von ihnen haben die Hochschule abgeschlossen.
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