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Über einige Tendenzen der zeitgenössischen Literaturkritik und Germanistik in China

Von Li Changke*

I.

Der gesellschaftlich-wirtschaftliche Umbruch, in dem sich China befindet, erfasst jeden, der sich auf dem Buchmarkt bewegt. Der damit verbundene Strukturwandel bringt zwar einen Abbau von normativem Druck mit sich und löst alle, die an der Buchszene beteiligt sind, weitgehend von den bisher vorhandenen Zwängen (sei es der weltanschaulich-ideologischen Optik, sei es der politisch-gesellschaftlichen Fortschrittsemphase, oder sei es der moralisch-sittlichen Korrektheit), stellt die Beteiligten allerdings gleichzeitig vor veränderte Buchmarktbedingungen, und damit vor veränderte Arbeits- und Lebensbedingungen. In der neuen Situation kann man jetzt nicht nur alles machen, sondern muss sich auch neu sortieren bzw. neu orientieren. Und in den neuen Unterscheidungen und Zuordnungen ist dann eine allgemeine Entwicklung zur Marktorientierung sichtbar.

Der „Zwang zum Markt“ ist überall da, oder die Bedeutung des Marktes wächst gleich viel für alle, die an der Buchszene beteiligt sind: die Verlage, die Autoren, die Medien und die Literaturkritiker und selbstverständlich auch die Buchkäufer und Buchleser, und alle müssen sich dem Strukturwandel des Marktes anpassen, und das macht das Buch in seiner anderen Natur als Ware leicht angreifbar und hat also Auswirkungen auf das Schreiben selber, sowohl auf die Schreibweise der Autoren als auch auf die Schreibweise der Kritiker. Unter dem Einfluss der geänderten Marktbedingungen oder besser gesagt unter der Dominanz der Marktorientierung schreiben die Autoren und die Kritiker heute anders als früher. Wenn früher die Literatur als Vorläufer der gesellschaftlichen Aufklärung und Emanzipation und der politischen Öffentlichkeit galt, so ist sie heute bei ihnen mehr oder weniger mehr denn je ein Konsumgegenstand geworden und fast nur noch ein Geschäft wie jedes andere in der Marktwirtschaft. Bücher sind in erster Linie Verkaufswaren und erst in zweiter Linie möglicherweise Güter der besonders schutzwürdigen, weil kulturell-wertvollen Art. Das Buch gerät in immer größere Gefahr, seine Rolle und seinen gesellschaftlichen Schutz als Kulturgut zu verlieren und nur noch als Ware behandelt zu werden.

Diese Entwicklung überlagert das bisherige traditionelle dreiteilige Zusammenspiel zwischen Autoren, Verlagen und Kritikern, so dass hier eine neue Konstellation eintritt, in der die entsprechenden Positionen jeweils mit Produzent, Vertrieb und Kundschaft zu bezeichnen wären. Sprechen wir nun nur über die Kritiker, um zu unserem Thema zu kommen. Zur Vereinheitlichung des Marktes tragen sie bei, indem sich ihre Berichterstattung über literarische Themen und Bücher deutlich in Richtung Populismus verschoben hat. Sie machen an der von Medien und Verlagen betriebenen Marktbeschleunigung aktiv mit und treten ihre kritische Kompetenz an die Marktgängigkeit ab, um wie ein Vertriebsagent zu fungieren, dessen überkommene Aufgabe der Geschmacks- und Meinungsbildung sich auf eine Art Warentestfunktion reduziert. Bücher werden besprochen wie saisonale Modeartikel. Über Bücher wird so berichtet, als handle es sich um tagesaktuelle Events. Es geht immer weniger um klassische Literaturkritik, sondern immer mehr um Unterhaltung, Tratsch und Gossip. An die Stelle des Kritikers ist der „Vorkoster“ getreten. Die Konsumenten-Ideologie ersetzt die kritische Debatte und den Austausch von Argumenten, Gedanken, Ideen und Lesarten. Es werden nur diejenigen Bücher wahrgenommen, für die die lauteste Werbung gemacht wird. Das Gewicht verlagert sich immer mehr auf die Vorausberichterstattung, eigentlich, auf die Vorausreklame. Wenn in der klassischen Kritik die Bedeutung eines Werkes erst herausgearbeitet werden sollte, so wird sie jetzt schon vorausgesetzt und vorher verbreitet. Es wird ja sogar über Bücher geschrieben, ohne sie wirklich zur Kenntnis genommen zu haben. Wenn dabei noch Zuwendungen vom Verlag oder vom Autor im Spiel sind,[1] dann wirken die Kritiker nur noch wie die Werbetexter und journalistischen Cheerleader des auftraggebenden Verlages, nur noch wie Handlanger und Warenausrufer des verkaufenden Literaturbetriebs.

 
[1] Das ist heute eine immer häufigere Praxis.

* Prof. Dr. Li Changke lehrt Germanistik an der Peking-Universität

 

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