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VII.

Aber der Leser hat doch auch ein berechtigtes Interesse an der deutschen Gegenwartsliteratur, und da sind die chinesischen Germanisten als Kritiker im Sinne von Literaturvermittlern gefragt und haben die Aufgabe, dem chinesischen Publikum zu berichten, was an der deutschen Gegenwartsliteratur neu und wert ist, wahrgenommen zu werden. Das werden die chinesischen Germanisten auch gerne tun, wenn sie es können. Aber sie haben dabei ungeheuere Schwierigkeiten. Denn wie Sie, meine Damen und Herrn, wohl schon an den von mir soeben aufgeführten Beispielen für die Vermittlungsaktivitäten der chinesischen Germanisten gemerkt haben, haben sich die chinesischen Germanisten bei ihrer Arbeit stets an den von der deutschen Literaturwissenschaft kanonisierten Personen und Werken orientiert. Diese Orientierung ist notwendig, um als ausländische Germanisten aus einer zeitlich, räumlich, geschichtlich und kulturell großen Entfernung im uferlosen Meer der deutschen Literatur zurechtzukommen. Diese Orientierung hat auch gut funktioniert. So war neulich in einer chinesischen Zeitung eine Rezension von einem chinesischen Schriftsteller über „Die gerettete Zunge“ von Elias Canetti zu lesen. Der Rezensent hebt in seinem Artikel jene Stelle in Canettis autobiographischem Werk hervor, wo sich das Taschenmesser der Zunge des kleinen Kindes nähert, und bewertet das Buch als eine große Dichtung, die mit Souveränität und Sensibilität und Behutsamkeit die Gefährdungen der umgebenden Welt sowie die Erfahrungen des Schreckens wahrnimmt, auslotet, registriert und reflektiert. In diesem Befund und Urteil spiegelt die Rezension die Weichen wider, die die chinesischen Germanisten in ihrer an der deutschen Literaturwissenschaft orientierten Literaturdarstellung für die Canetti-Rezeption in China gestellt haben.

 

Aber jetzt, wo aus der deutschen Literaturwissenschaft noch keine Orientierungshilfe da ist und wohl auch in Kürze nicht zu erwarten ist, müssen die chinesischen Kollegen frei wählen und selber für das chinesische Publikum herausfiltern, was eben an der deutschen Gegenwartsliteratur aktuell und bedeutsam ist. So bemühen sich die Kollegen, aus den zahllosen Neuerscheinungen in Deutschland und aus dem dadurch unübersichtlichen Bücherberg literaturgeschichtlich Bedeutsames herauszuarbeiten und einen literarischen Bildungsfundus mit gültigen Werken zu konstituieren. Die Kollegen lesen sicherlich mit ihren spezifisch intellektuellen Neigungen und ausgebildeten Perspektiven die in Frage kommenden Werke und ziehen aber auch gelegentlich aus den deutschen Medieninformationen oder - das ist ebenfalls nicht auszuschließen - aus den dort fulminanten Verkaufsrekorden die nötige Orientierungshilfe heran, um mehr oder weniger doch eine gewisse Richtschnur im Bücherlabyrinth zu bekommen.

 

So wurde z. B. in den chinesischen Zeitungen vollen Lobes über die jungen Autoren, vor allem über die jungen Autorinnen berichtet, die eloquent, selbstsicher, medien-tauglich und herzeigbar nicht nur in Lesungen und Talk-Shows sind und sich gewandt und keck durch die Medien-Öffentlichkeit bewegen und im Debütanten-Boom auf dem deutschen Buchmarkt zu Helden ausgerufen und wie Pop-Stars behandelt werden. Oder so wurde der Roman „Herr Lehmann“ von Sven Regener in China auf den Buchmarkt gebracht und „Tod eines Kritikers“ von Martin Walser ins Chinesisch übersetzt. Oder so wurde „Mein Leben“ von Reich-Ranicki in chinesischer Sprache publiziert und in der Literaturzeitung als sehr lesenswert rezensiert, um für die chinesische Literaturkritik ein ausländisches Lernmodell zu präsentieren.

 

Und weitere Beispiele ließen sich noch leicht nennen. Aber die Genannten sollten genügen, um die Arbeiten der chinesischen Germanisten zur Zeit im Hinblick auf die deutsche Gegenwartsliteratur zu zeigen. Sie sollten aber auch genügen, um bei Ihnen, meinen Damen und Herrn aus Deutschland, innerlich eine Reaktion auszulösen. Ob Sie nun im Innern mit dem Kopf nicken oder aber mit dem Kopf schütteln, um still bei sich zu sagen, dass die chinesischen Kollegen doch der Marktbeschleunigung und dem Marktgeschrei in Deutschland auf den Leim gegangen seien.

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