August 2003
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Tibet geht zwischen Tradition und Modernisierung einen eigenen Weg

Zwar liegen die Veränderungen, die Tibet seit der demokratischen Reform 1959 erfahren hat, offen vor aller Augen, es gibt aber immer noch nicht wenige Leute, die sich dazu unverantwortlich oder gedankenlos äußern. Eine der gängigen Meinungen ist z.B.: „Es ist eigentlich nicht ungewöhnlich, dass Tradition und Moderne gleichzeitig existieren, weil dieses Phänomen überall auf der Welt zu finden ist. Aber in anderen Orten gibt es immer eine Hauptströmung, wobei die Tradition allmählich zerfällt und schließlich in der Modernisierung aufgeht. Leider ist dies in Tibet nicht der Fall. In Tibet hängen Tradition und Moderne nicht zusammen, sondern gehen in verschiedene Richtungen. Die beiden sind wie zwei Welten, die miteinander kaum in Verbindung stehen. Mit der modernen Entwicklung wird der Abstand zwischen ihnen immer größer. Der Grund liegt darin, dass die anderen Gesellschaften selbst über die Bedingungen und Antriebskräfte für die Modernisierung verfügen, so dass die Koexistenz von Tradition und Moderne nur eine vorübergehende Erscheinung und die Modernisierung eine unaufhaltsame Tendenz ist. Genauer gesagt, widerspiegelt die Koexistenz von Tradition und Moderne das unterschiedliche Tempo verschiedener Teile der Gesellschaft bei der Modernisierung, und die Gesellschaft wird schlussendlich als Ganzes umfassend modernisiert werden. Im Gegenteil dazu ist Tibet aus himmlischen Gründen vorbestimmt, keine Bedingungen und Möglichkeiten für die Modernisierung aufzuweisen. Aus diesem Grund kann die Modernisierung in Tibet nur von äußeren Kräften angetrieben und weitergeführt werden. Eine solche Modernisierung ist mit dem Wesen der tibetischen Gesellschaft nicht vereinbar. Auf diese Weise ist die traditionelle Gesellschaft Tibets nicht zu modernisieren. Da zeigt die Dualität den Zustand der Spaltung der Zivilisation.“ 

Entwicklung ist der einzige Ausweg für Tibet, und niemand hat das Recht, sie zu stoppen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Volk wegen der Entwicklung und der Modernisierung seine eigenen Traditionen verloren hat. Umgekehrt gibt es viele Beispiele dafür, dass ein Volk erst während der Modernisierung seine traditionelle Kultur weiterentwickelt und zur vollen Entfaltung gebracht hat. Die oben erwähnte Ansicht möchte ich nicht kommentieren, denn meiner Meinung nach soll man zuerst hören, was Tibeter selbst dazu sagen.    

Hier möchte ich eine Geschichte erzählen, die ich persönlich erlebt habe.      

Das Lied Lobgesang über den göttlichen Adler wurde vom tibetischen Dichter Zhaxi Dawa, den ich gut kenne, geschrieben. Durch den bekannten tibetischen Sänger Yadong ist es sehr populär geworden. Sein Text lautet wie folgt:

Am Ort, wo die Sonne jeden Tag hochsteigt,

fliegt der silberfarbene Adler ins uralte Schneegebiet.

Mit Leuten aus allen Himmelsrichtungen

kommen Hostessen behend und anmutig wie Nymphen.

Den Weg, den unsere Vorfahren ein Leben lang nicht zu Ende gegangen sind,

Ah, göttlicher Adler –

Du hast ihn schon im Nu hinter dir gebracht.

Oh, verschwommene Berge,

Oh, weite Wege,

Wer kreist frei zwischen Himmel und Erde?

Ah, göttlicher Adler, du hast meine Sehnsucht in die Ferne entführt.

So fliegt mein Herzchen mit bis in die weiteste Ferne,

Um die Lichter der Städte und das blaue Meer zu sehen.

Als mein Traum Wirklichkeit wird, indem ich in die große Kabine eintrete,

Blicke ich auf die Welt hinab, heiße Tränen schießen mir in die Augen.

Die Schritte der Vätergeneration bei der Pilgerfahrt klingen noch in meinen Ohren.

Ah, göttlicher Adler –

Ich habe vom Gestern Abschied genommen und das Licht des Lebens gefunden.

Oh, streichelnder Wind,

Oh, feiner Sprühregen,

Der Sohn des blauen Himmels ist wieder in die Heimat zurückgekehrt.

Ah, göttlicher Adler, durch dich ist der Traum meiner Kindheit in Erfüllung gegangen.   

Am Anfang schenkte ich diesem Lied keine große Aufmerksamkeit, weil es sich um ein modernes Verkehrsmittel handelt und es scheint, dass man lieber traditionelle tibetische Lieder hören möchte. Später stellte ich fest, dass es ein Lieblingslied vieler meiner tibetischen Freunde ist. Besonders auf meiner letzten Tibet-Reise sangen einmal alle im Bus unwillkürlich mit, als sie aus den Lautsprechern hörten: „Oh, verschwommene Berge, oh, weite Wege, wer kreist willkürlich zwischen Himmel und Erde. Ah, göttlicher Adler, du hast meine Sehnsucht in die Ferne entführt. So fliegt mein Herzchen mit bis in die weiteste Ferne, um die Lichter der Städte und das blaue Meer zu sehen“. Gesang aus vollem Herzen ertönte über der gewundenen Landstraße des Plateaus und hallte in den schaumgekrönten Wellen des Yarlunzangbo-Flusses wider. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass die Tibeter von den Lichtern der Städte träumen, während sich viele Leute, die in der modernen Zivilisation leben, nach der Naturlandschaft auf dem Tibet-Plateau sehnen. Niemand hat das Recht, diese Sehnsucht aus ganzem Herzen zu unterdrücken. Jedesmal, wenn ich „Ah, göttlicher Adler, durch dich ist der Traum meiner Kindheit in Erfüllung gegangen“ höre, habe ich das gleiche Gefühl.

Später erzählte mir ein Kollege, dass das Lied „Lobgesang über den göttlichen Adler“ speziell für Zhaxi Cering, einen der ersten Piloten Tibets, geschrieben wurde. 1954 wurde Zhaxi Cering in einer armen Bauernfamilie des Dorfes Toba, Kreis Ganze, geboren. Er war das neunte Kind und hatte sechs Brüder und zwei Schwestern. Vor der friedlichen Befreiung mussten seine Eltern das ganze Jahr über für ihren Lehnsherr wie Tiere arbeiten, um die große Familie zu ernähren. Infolge der Armut und der schlechten medizinischen Betreuung starben alle sechs Brüder Zhaxi Cerings einen frühen Tod. Nach seiner Geburt baten seine Eltern einen Lebenden Buddha, ihm den Namen „Zhaxi Cering“, was Glück und Langlebigkeit bedeutet, zu geben. Ihr einziger Wunsch war es, dass der Buddha das Leben ihres Sohns segnen würde. Zhaxi Cering meint heute allerdings: „Da ich in einer neuen Epoche groß wurde, konnte ich gesund aufwachsen und Pilot werden“. Für seine Landsleute ist er ein Glück verheißender Vogel, nämlich ein göttlicher Adler.

Das Lied Lobgesang über den göttlichen Adler klingt immer wieder in meinen Ohren. Für Tibeter ist der göttliche Adler der heiligste Vogel. Sie vergleichen Flugzeuge mit dem göttlichen Adler, weil Flugzeuge ihr Leben grundlegend verändert haben. Immer mehr Experten und Touristen fliegen nach Tibet, und die Tibeter leben dadurch nicht mehr wie früher infolge schlechter Verkehrsbedingungen in einer isolierten Welt. Zwar ist es nicht zu vermeiden, dass die Verbindungen mit der Außenwelt mehr oder weniger negative Einflüsse auf die alte Zivilisation Tibets ausüben, aber wer kann den Herzenswunsch der Tibeter nach Modernisierung übergehen? Ist die Meinung, die manche Leute im Westen vertreten, nicht unmenschlich, dass Tibet nur ein lebendes Fossil der traditionellen Kultur sein soll?

Blickt man von der Gegenwart Tibets in die Zukunft, kann man zum Schluss kommen, dass Tibet zwischen Tradition und Modernisierung einen eigenen Weg geht und bestimmt eine glänzende Zukunft hat.     

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