Bars
in der Altstadt
Von Guan Yunzhang
Es ist
sieben Uhr abends. Der letzte Sonnenschein fällt auf
die Baumkronen und Hausdächer. Der Abendwind weht über
den See, lauwarm und feucht. Die Bars am Shichahai-See in
Beijing sind voller junger Leute. Sie plaudern und trinken.
Rund um den See hört man das Wispern der Menschen, ab
und zu Vogelgezwitscher. In diesem Barviertel gibt es über
10 Lokale, es ist nicht weniger bekannt als das Kneipenviertel
in Sanlitun.


Traditionelle
Kultur als Hintergrund
In den
letzten 10 Jahren hat sich Beijings Stadtkultur stark verändert.
Großflächige Hutong-Viertel (Hutong bedeutet „Gasse“)
sind modernen Hochhäusern und breiten Straßen gewichen.
Der einst gemächliche Lebensrythmus beschleunigt sich.
Viele traditionelle Imbisse und Delikatessen verschwinden
allmählich aus dem Alltagsleben. Historische Spuren findet
man nur noch in den Büchern oder Museen. Zwar sind manche
alten Bauwerke und Relikte erhalten geblieben, aber in ihrer
veränderten Umgebung erkennt man ihre ursprüngliche Bedeutung
kaum.
Zum Glück
hat sich das Bild von Shichahai fast komplett erhalten. Seit
der Yuan-Dynastie (1271–1368) wurden rings um den See viele
Residenzen, Tempel, Gildenhäuser und Wohnhäuser
erbaut, die nicht nur gut erhalten geblieben sind, sondern
in den letzten 10 Jahren mehrmals restauriert wurden.
Der Barbesitzer
„Zöpfchen“ musste einst wegen des Abbruchs der Hutongs
umziehen. Heute lebt er noch immer in einer Hutong. Er meint,
die Hutongs seien eine eigene Kulturform. Die Viertel seien
nur scheinbar lärmig und gedrängt. In Tat und Wahrheit
lebe man in einer Hutong frei und entspannt.
Auch
Lao Qi ist nostalgisch. Er besitzt zwei Kneipen am See, die
sehr behaglich eingerichtet sind. Die Innenausstattung hat
er selbst gemacht. In der einen Kneipe gibt es einen kleinen
Kohleofen, aus dem ein Schornstein aus Eisenblech ragt. In
der anderen hängt ein Foto aus der Vergangenheit, auf
dem ein Slogan aus den 80er Jahren zu lesen ist: „Zehntausend
Haushalte praktizieren die neue Heirats- und Geburtspolitik,
alle werden glücklich.“
Der Luxus
und das Verschwenderische des Kneipenviertels in Sanlitun
passen gut zu den Hochhäusern, modernen Hochstraßen
und glitzernden Glasfassaden der Wolkenkratzer, die in der
Umgebung die Atmosphäre einer Metropole ausmachen. Das
nur 5 km entfernte Shichahai-Viertel ist eher ruhig und verbindet
die Kultur einer modernen Stadt mit den traditionellen Künsten.
Was gibt
es Schöneres, als in einem bequemen Lehnstuhl zu sitzen,
vor sich einen duftenden Kaffee und im Haar die frische Brise,
und den Blick über den stillen See schweifen zu lassen, die
grünen Trauerweiden, saftig grüne Lotosblätter, tausenjährige
Brücken, schmale, ruhige Hutongs und die majestätischen
Glocken- und Trommeltürme – ein herrliches Bild.
„Kleinbürgerliche“
Färbung
„Zöpfchen“
war unter den ersten, die am Shichahai eine Bar gründeten.
Später eröffnete er ein Zweiggeschäft auf der
Insel in der Mitte des Sees. Nach 8 Uhr abends ist die Bar
oft voll besetzt. „Zöpfchen“ ist sehr stolz: „Die Gäste
sind meistens Ausländer und Chinesen, die es verstehen,
das Leben zu genießen..“
Die Chinesen
nennen diese Leute „Xiaozi“ (Kleinbürger) oder „bobo“ (von
„bourgeois bohemians“). Diese Gruppe wird durch ihre Lebensanschauung
statt durch ihr Monatsgehalt bestimmt. Sie streben nach einer
besseren Lebensqualität, und Bars, Cafés, Reisen auf
eigene Faust und Fitness sind wichtige Bestandteile ihres
Lebens. Sie sehen sich westliche Filme an, essen Eis bei Häagen-Dazs
und gehen für einen Einkaufsbummel in die Läden für Exportkleidung.
In ihrem Leben sind sie zwischen Tradition und Moderne hin-
und hergerissen.
Der 29-jährige
Li Yong ist Angestellter in einer Firma. Er ist ein Stammgast
des Barviertels am Shichahai. Sanlitun gefalle ihm nicht,
sagt er, es sei zu lärmig. „Außerdem ist es dort
so verkommen, das macht mich unwohl.“
„Zöpfchen“
ist nicht glücklich, wenn er „Xiaozi“ genannt wird. Diese
Bezeichnung hat in China eine abwertende Bedeutung. „Bobo“
gefällt ihm besser. Seine erste Bar heißt „Pass-by
Bar“ und liegt tief versteckt in einer kleinen Gasse. Er hat
ein Siheyuan (einen viereckigen Wohnhof mit ebenerdigen Häusern)
gemietet, der noch mit Steintrommeln und Fenstergittern im
alten Beijinger Stil versehen ist. „Zöpfchen“ organisiert
ab und zu Ausflüge und Expeditionen. Als Student der Künste
und der Malerei war er mehrmals in Tibet. Einmal fuhr er sogar
mit dem Fahrrad von Golmud nach Lhasa. In seinen Kneipen sieht
man tibetischen Hängeschmuck. „Zöpfchen“ beharrt
darauf, dass Reisen im Leben unentbehrlich sei. Ein Leben
ohne Reiseerlebnisse sei fade. Seine Stammgäste sind
oft Mitreisende. Sie schauen sich zusammen die Fotos von den
Reisen an oder hören sich seine Abenteuergeschichten
an. „Zöpfchens“ zweite Bar ist mehr kommerziell ausgerichtet,
während er seine erste nur aus Interesse eröffnete.
In den ersten drei Jahren nach ihrer Eröffnung machte
er gar keinen Gewinn.
Verwestlichte
Form
„Musik,
Alkohol, Menschengedränge“ – das ist es, was man in der
Regel unter westlicher Barkultur versteht. Die Bars in Sanlitun
sind sowohl hinsichtlich der Innenausstattung als auch des
Musikstils und der Bewirtschaftungsform im europäisch-amerikanischen
Stil gehalten. Die Bars in Shichahai dagegen haben von westlichen
Bars nur die Form übernommen.
Die „Nali“-Bar
(„There“) liegt in der Mao’er-Hutong. Der Barbesitzer hat
ein Siheyuan in ein Haus im deutschen Stil umbauen lassen.
Das Besondere an der Bar sind die zahlreichen Fotos, die entweder
von namhaften Fotographen oder von Freunden des Barbesitzers
gemacht wurden. In der Bar werden manchmal Fotoausstellungen
veranstaltet. Auf Flugblättern der Bar steht: „Das Leben
ist nicht anderswo, sonder dort...“
Die Baifeng-Bar
liegt am Houhai-See zwischen der Di’anmen-Straße und
der Yindian-Brücke. Das Haus sieht schäbig aus. Man kann
sich nur schwer vorstellen, dass hier eine Bar ist. In der
Bar ist es ruhig, leichte Musik hängt in der Luft. Verglichen
mit vielen anderen Bars ist diese geeignet für Rendezvous.
Wenn
man dem See entlang nach Süden in eine Hutong geht, erblickt
man die „Zuo’an“-Bar („Linkes Ufer“). Der Name geht auf das
Südufer der Seine in Paris zurück, womit er Kultur und Kunst
signalisiert. In der Bar werden oft Filme gezeigt. Das Innere
der „Zuo’an“-Bar ist schlicht gehalten. Ein chinesischer Tisch
steht am Eingang, auf dem ein Aquarium mit Goldfischen steht.
Die Sofas sind sehr weich. Im Sommer kann man den Abend draußen
im Hof in einem großen Korbsessel verbringen.
Die „Hutong
Xieyi“-Bar ist so klein, dass sie oft übersehen wird. Im engen
Raum hängen viele impressionistische Bilder. Die Bar
sieht wie ein kleines Malerstudio aus. Vor der Tür sieht man
oft viele Ausländer am See sitzen.
Hinweise:
1.
Am 28. September
2002 wurde in Beijing das erste „touristische Kulturfest Shichahai“
veranstaltet. Während des 10-tägigen Fests gab es
viele Programmpunkte wie Residenz-Besichtigungen, Bummeln
in den alten Straßen, die Besichtigung alter Tempel
und Wohnhäuser, Rikschafahrten in den Hutongs, das Besteigen
des Glocken- und des Trommelturms, Kulinarische Angebote und
Bootsfahrten.
2.
Sechs Buslinien
führen zum Shichahai: 107, 111, 118, 13, 810 und 850.