Dezember 2002
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Sonderberichte

Veränderung des Wohnviertels „Goldfischteich“ in Beijing

Von Zhang Xiwen

Früher bereitete die Regensaison Zhao Yunshu die größte Sorge. Da meldeten sich jeden Tag über zehn Leute, die sie wegen verstopfter Abwasserleitungen, undichten Stellen im Dach oder Stromausfall um Hilfe baten. Ihre Aufgabe war nun, mit dem Fahrrad schnell zur Hausverwaltung zu fahren und die Reparatur zu organisiseren. Da arbeitete sie wie die Feuerwehr.

Aber während der vergangenen Regensaison kehrte bei Frau Zhao Ruhe ein. Im Büro des Nachbarschaftskomitees des Wohnviertels „Goldfischteich“ trank sie in Ruhe ihren Tee, und das Telefon klingelte nur selten.

Die Wohnung von Frau Zhao liegt im Wohnviertel „Goldfischteich“ unweit des Nordtors des Himmelstempels. Früher standen hier mehrere Reihen alter grauer Wohnhäuser. Ihre vierköpfige Familie – sie und ihr Mann, der Sohn und die Schwiegermutter – lebte 30 Jahre lang in einer nur 14 m2 großen Wohnung. Damals hieß dieses Wohnviertel „Drachenschnauzhaargraben“.

Als ein wichtiger Teil des städtischen Aufbaus von Beijing wurden neulich die alten Wohnhäuser in diesem Wohnviertel abgerissen und durch neue Wohngebäude ersetzt. Das Wohnviertel wurde auch auf den schön klingenden, bereits in der Ming-Dynastie verwendeten Namen „Goldfischteich“ umbenannt. Der Prozess der Modernisierung der Stadt Beijing mit dem Abriss alter Häuser verändert das Leben vieler Einwohner. Durch das Schicksal von Frau Zhao, einer älteren Beijingerin, gewinnt man einen Einblick in die wirtschaftliche und gesellschaftliche Veränderung bei den einfachen Einwohnern.

Zhao Yunshus Geschichte beginnt in den 50er Jahren. Sie wurde in einem Vorort von Beijing geboren, der damals noch nicht zum Stadtgebiet zählte. Die auf dem Land lebenden Dorfbewohner beneideten die Städter, die ein festes Monatseinkommen hatten. Zhao Yunshu war damals ein Bauernmädchen mit einem Grundschulabschluss und einer Portion Ehrgeiz. Sie wollte einen Städter heiraten, so wie sich manche chinesische Mädchen vor einigen Jahren um eine Ehe mit einem Ausländer bemühten. Ihr Wunsch ging in Erfüllung und sie fand einen Mann, der als Elektriker in einer staatlichen Fabrik arbeitete und in einer von der Arbeitseinheit zugeteilten Wohnung lebte. Sie war einstöckig, aus ungebrannten Ziegeln gebaut und befand sich im Wohnviertel „Drachenschnauzhaargraben“. Diese Ehe war damals aus Sicht von Zhao Yunshus Freundinnen sehr beneidenswert.

Als Zhao Yunshu zum ersten Mal ins Haus trat, fiel es ihr schwer, sich mit den Verhältnissen anzufreunden. Das Wohnviertel „Drachenschnauzhaargraben“ war vor der Befreiung 1949 ein Slumgebiet. Die Häuser waren niedrig und aus Lehm gebaut. Ihre nur 10 m2 großen Wohnzimmer hatten nur ein Fenster. Selbst bei sonnigem Wetter war es darin dunkel. Besonders schlimm war es bei Regen. Vom Dach tropfte es, und aus der Abwasserleitung strömte eine stinkende Brühe. Viele Gegenstände in der Wohnung schwammen auf dem trüben Wasser. Selbst ihr Wohnhaus auf dem Land war viel besser als ihre städtische Wohnung. Im Gespräch mit ihren Verwandten und Nachbarn vermied sie es immer, ihre Wohnverhältnisse zu erwähnen. Sie sagt, sie fürchtete, ausgelacht und geringgeschätzt zu werden.

In den 60er Jahren wurden die alten, aus Lehm gebauten Häuser abgerissen. Sie wurden mit zehn Wohnblöcken ersetzt, in denen für vier Familien ein Waschraum und ein Bad zur Verfügung standen. Frau Zhao freute sich damals natürlich über ihre neue Wohnung, die allerdings nur 14 m2 groß war. Diese Wohnung war bald voll mit Möbeln und Gebrauchsgegenständen. Wie andere Bewohner auch, stellte sie ihren Kochherd in den öffentlichen Gang. Nachdem ihr Sohn geboren wurde, wurde das Raumproblem ernster. Dazu sagt sie: „Wir haben uns in den darauf folgenden 30 Jahren kein Möbel und kein elektrisches Gerät gekauft.“ Ihr Sohn benutzte sein Bett als Schreibtisch, bis er die obere Mittelschule absolvierte.

Im Jahr 1978 wurde unter der Leitung von Deng Xiaoping eine tiefgreifende Reform der chinesischen Wirtschaft eingeleitet. In den mehr als 20 Jahren, die seither vergangen sind, haben sich über 200 Millionen Chinesen von der Armut verabschiedet. Obwohl manche Leute von diesem wirtschaftlichen Wandel profitiert haben, gab es auch Leute, die durch Personalabbau in maroden staatlichen Betrieben ihre Arbeit verloren. Solche Leute gerieten dann auch in wirtschaftliche Schwierigkeiten.

Zhao Yunshu arbeitete früher in einer staatlichen Sockenfabrik, die jedoch von einem kleineren, flexibleren Gemeindeunternehmen aus dem Markt gedrängt wurde. Zhao Yunshu verlor dadurch ihre Arbeitsstelle. Sie nahm die Arbeit als Putzfrau auf und brachte es damit auf 200 Yuan im Monat, das war mehr als ihr Lohn in der Sockenfabrik. Obwohl sie zu dieser Zeit mehr Geld brauchte, entschied sie sich zwei Monate später dennoch für eine Stellung im Nachbarschaftskomitee, für die sie monatlich nur 50 Yuan bekam.

Gleichzeitig vergrößerte sich in diesen Jahren der finanzielle Abstand zwischen den Familien. Manche Familien kauften sich einen Kühlschrank, einen Fernseher, eine Waschmaschine, ein Fahrrad, und so wurde immer mehr öffentlicher Raum besetzt. Die veralteten Stromleitungen waren der Belastung nicht mehr gewachsen und es traten oft Pannen auf, auch die Wasserleitung war verrostet. Da die Abwasserleitung sehr oft verstopfte, schulte jeder Haushalt ein Familienmitglied zum Klempner. Durch Lecks in der Wasserleitung ging viel Wasser verloren. Einmal belief sich Frau Zhaos Wasserrechnung auf 100 Yuan – fünfmal soviel wie für einen normalen Haushalt. Wegen der schlechten Wohnbedingungen gab es häufig Streitigkeiten zwischen den Nachbarn.

Mitte der 90er Jahre fand Zhao Yunshus Ehemann wieder eine Anstellung und verdiente mit seiner Rente zusammen monatlich über 2000 Yuan. Ihr Sohn trat auch in seinen Beruf ein, und die Bezahlung für die Arbeit im Nachbarschaftskomitee hatte sich ebenfalls erheblich erhöht. Nach einigen Jahren hatte die Familie Spareinlagen von über hunderttausend Yuan. Das Ehepaar Zhao hegte nun den Wunsch, eine größere Wohnung zu kaufen, um ihrem Sohn die Gründung einer Familie zu ermöglichen.

Im April 2002 leistete Frau Zhao eine einmalige Zahlung von 110 000 Yuan für die neue Wohnung. Danach ist sie unzählige Male zur Baustelle gegangen und hat das Wohngebäude, das noch im Bau war, besichtigt. Nun wohnt die vierköpfige Familie in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit einer Fläche von über 70 m2, deren große Fenster viel Licht hereinlassen. Die Innengestaltung ist zwar schlicht, aber die Wohnung ist mit verschiedenen elektrischen Haushaltsgeräten ausgestattet. Es gibt einen neuen Fernseher, eine Waschmaschine, einen Kühlschrank eine Klimaanlage und einen Boiler. Die Wohnung ist zwar nicht sehr groß, aber komfortabel. Jetzt braucht sich Frau Zhao nicht mehr vor einem Stromausfall in der Wohnung zu fürchten.

Zur neuen Wohnung meint Frau Zhaos Sohn: „Seit meiner Kindheit habe ich mir ein eigenes Zimmer gewünscht, jetzt auch eine eigene Wohnung. Sie soll allerdings nicht weit von der Wohnung meiner Eltern liegen, denn so kann ich mich einerseits um meine Eltern kümmern, andererseits brauche ich nicht zu kochen. Mein heutiger Lohn ist zwar nicht sehr hoch, aber ich kann einen Kredit aufnehmen.“

Zhao Yunshus zwei jüngere Brüder haben die neue Wohnung auch besichtigt. Sie wohnen in der Vorstadt, wo inzwischen ein Villenviertel entstanden ist. Früher mußte Frau Zhao ihre Brüder auf dem Land gelegentlich finanziell unterstützen. Heute ist es umgekehrt. Für die Anschaffung der neuen Wohnung griffen sie ihr unter die Arme. Der eine Bruder betreibt eine Blumenfarm und liefert frische Blumen in die Stadt, ein sehr einträgliches Geschäft; der andere betreibt noch Landwirtschaft und bringt, wenn er zu seiner Schwester auf Besuch kommt, oft frisches Gemüse und Obst mit – „aus eigenem Anbau, also ohne Chemie“, wie er sagt. Übernachten tun sie aber selten bei Zhao Yunshu. Ihre Häuser, finden sie, seien geräumiger als Frau Zhaos Wohnung.

Aus ihrem Fenster kann Frau Zhao die großen Veränderungen betrachten, die in ihrem Wohnviertel stattgefunden haben. Die heruntergekommenen Wohnhäuser und die schmutzigen Straßen sind verschwunden, ein neues Wohnviertel mit geräumigen Grünanlagen ist entstanden, die Straßen sind sauber und gepflegt, und in der Mitte der Siedlung bildet der „Goldfischteich“ eine Attraktion für die Bewohner.

Frau Zhao arbeitet immer noch im Nachbarschaftskomitee, beschäftigt sich aber nicht mehr mit der Organisation von Reparaturen. Sie hat ein schwarzes Brett zur Verbreitung von medizinischen und juristischen Kenntnissen eingerichtet. Außerdem hat sie noch ein Tagesaltersheim gegründet, in dem ansonsten recht isoliert lebende ältere Menschen zusammen Schach spielen, malen lernen oder Gymnastik machen können.

Im vergangenen Monat stießen drei Hochschulabsolventinnen zum Nachbarschaftskomitee hinzu. Dadurch wurde Frau Zhao in ihrer Arbeit entlastet und hat mehr Zeit für sich. Sie kauft heute in einem in der Nähe liegenden Hongkonger Supermarkt ein und geht öfters im Himmelstempel spazieren. Abends macht sie einen Bummel durch die Geschäftsstraße Wangfujing. Sie genießt ihr Leben.

 

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