Dezember 2002
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Kultur und Kunst

Umsiedlung von Stadtbewohnern in Pingyao zum Schutz des Weltkulturerbes
Wenn der „amerikanische“ Musikstil auf ein europäisches Publikum trifft
Ein zeitloses Musikstück in Chinas Altertum
Bemalte Reliefziegel

Umsiedlung von Stadtbewohnern in Pingyao zum Schutz des Weltkulturerbes

Von Li Wuzhou

Ein Film verändert das Schicksal einer Stadt

Der alte Wohnhof der Familie Qiao unweit von Pingyao ist durch den Film Die Rote Laterne mit dem Filmstar Gong Li bekannt geworden. Die Altstadt von Pingyao verfügt über 4000 alte Wohnhöfe, die dem alten Wohnhof im Film ähnlich sind. Bevor Die Rote Laterne gezeigt wurde, hatten die Bewohner dieser Wohnhöfe nicht erkannt, welch großer kultureller und künstlerischer Wert diese über ein Jahrhundert alten Wohnhäuser in sich bargen, schon gar nicht, dass diese ihnen großen wirtschaftlichen Gewinn bringen würden.

Wenn der Film nicht dort gedreht worden wäre, wären diese alten Häuser wohl, wie viele an anderen Orten in China, bereits abgerissen und durch modernere Gebäude ersetzt worden.

Das Städtchen Pingyao hat nur 40 000 Einwohner und eine Fläche von 2,25 km2. Aber jedes Jahr reisen über 800 000 in- und ausländische Touristen dorthin. Darauf sind die Stadtbewohner sehr stolz, und sie fühlen sich an den Ruhm und die Träume ihrer Vorfahren erinnert. Die Bauern dienen als ortskundige und mit den einheimischen Sitten und Bräuchen vertraute Reiseführer, betreiben Souvenirläden bzw. -stände oder fahren elektrische Wagen für die Touristen. Wenn es viele Touristen gibt, dann können sie 100 Yuan pro Tag verdienen. Im vorigen Jahr brachte der Tourismus dieser kleinen Stadt Einnahmen von mehr als 10 Mio. Yuan ein. Das ist zwar gerade mal so viel wie der höchste Tagesumsatz eines Vergnügungsparks in Shenzhen, bedeutet aber für die ärmere Region Pingyao eine beachtliche Summe.

Die Vorfahren der Bewohner Pingyaos galten einst als „ländliche Väter der modernen chinesischen Banken“. Die Stadtbewohner von heute sind zwar noch nicht so reich wie ihre Vorfahren, aber sie verabschieden sich mit dem von ihren Vorfahren geschaffenen Kulturerbe von einem Leben in Armut. Deshalb achten sie sehr auf den Schutz ihrer Altstadt und folgen den Vorschlägen von Experten, 20 000 Bewohner aus der dicht bewohnten Altstadt auszusiedeln.

Die besterhaltene Altstadt der Ming- und Qing-Dynastie (1368–1644, 1644–1911)

Pingyao liegt in der Mitte der Provinz Shanxi, 100 km von der Provinzhauptstadt Taiyuan entfernt. Es wurde in der Westlichen Zhou-Dynastie unter König Xuanwang (827–782 v. Chr.) gegründet. 1370, in der Ming-Dynastie, wurden die Stadtmauern zum Zweck der militärischen Verteidigung mit Ziegelsteinen befestigt. Hier begann der Aufstieg der alten Stadt.

Zu Beginn der Ming-Dynastie wurden neun strategisch bedeutende Städte errichtet, und in Datong und Taiyuan waren zahlreiche Truppen stationiert. Um ihren logistischen Bedarf zu decken, unterstützte das Kabinett der Ming-Dynastie mit günstigen Bedingungen die Händler, die die stationierten Truppen mit Gütern aus dem Landesinneren und dem Osten versorgten. Dadurch wurde eine große Anzahl von Kaufleuten herangebildet, die als Shanxier Geschäftsleute eine wichtige Stellung in der Geschichte einnahmen. 1823 wurde das Geldinstitut „Rishengchang“ gegründet, das auch als Vorläufer der modernen Bank betrachtet wird. Die einstigen reichen Bewohner von Pingyao, von den Shanxier Geschäftsleuten bis zu den Bankiers der Neueren Zeit, haben ihren Nachkommen zahlreiche Bauwerke hinterlassen.

Die Altstadt Pingyaos setzt sich aus vier größeren und acht kleinere Straßen sowie 72 gewundenen Gassen mit verschachtelten Häusern zusammen. Eine prominente Mittelachse zieht sich von Norden nach Süden, und das Amtsgebäude befindet sich im Stadtzentrum. Das ganze achitektonische Konzept entspricht dem damals geltenden „Ritensystem“. Damit ist die kleine Stadt ein typisches Beispiel für Han-chinesische Wohnkultur.

Die Hauptgeschäftsstraße in der Altstadt ist der Südteil der Mittelachse. Zu beiden Seiten stehen alte Geschäftshäuser aus der Ming- und Qing-Dynastie. In diesen Häusern waren früher Kreditgeschäfte, Pfandgeschäfte, Güter- und Personenschutzdienste sowie Lackwarengeschäfte untergebracht. Diese Straße bietet ein unfassendes Bild von der Kultur, Wirtschaft, und Gesellschaft sowie der Religion in der Ming- und Qing-Dynastie.

Glückhaftes Überleben der Altstadt Pingyaos

Obwohl die Gegend um Pingyao wegen ihrer strategischen Bedetutung seit jeher heiß umkämpft war, nahm die Stadt kaum Schaden. Außerdem überlebte die Altstadt die Kulturrevolution, was als Wunder gelten kann. Das alte Pingyao ist von einer 12 m hohen, massiven Mauer umschlossen, die nur sehr schwer zu erstürmen und auch nicht leicht zu zerstören war. Nach 1949 wurden die privaten Wohnhöfe und Geschäftshäuser in Büros und Lagerhäuser umgewandelt, doch die alten Bauwerke blieben architektonisch unverändert. Selbst in der Kulturrevolution (1966–1976), als alles Traditionelle als zu beseitigende Überreste des Feudalismus galt, wurden die bewohnten alten Häuser nicht abgerissen, sondern nur ihre Dekorationen wie Tonfiguren oder Schnitzereien durch das Bauamt entfernt.

Manche schreiben die Erhaltung der alten Bauwerke der regionalen Armut zu. Die Provinz Shanxi ist wirtschaftlich ziemlich unterentwickelt, und Pingyao liegt im ärmsten Kreis des von Armut betroffenen Bezirks Lüliang. Die Stadtregierung von Pingyao war wirtschaftlich einfach nicht in der Lage, an Stelle der alten Häuser moderne Gebäude zu errichten. Der Beweis dafür ist, dass in der Altstadt in den letzten 20 Jahren nur eine Handvoll vierstöckiger neuer Häuser gebaut wurden.

Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mag, die Altstadt mit ihren Mauern, Straßen, Wohnhäusern, Geschäftshäusern und Tempelanlagen ist weitgehend erhalten geblieben, und dafür sollte man dankbar sein. Unter den kostbaren Bauwerken der Altstadt gibt es buddhistische, daoistische und Konfuziustempel. Heute sind in der Altstadt 3797 alte Wohnhäuser zu verzeichnen, wovon sich 387 vollkommen im ursprünglichen Zustand befinden..

Aussiedlung aus der Altstadt

Die Aussiedlung von Bewohnern und Behörden aus der Altstadt Pingyaos ist eine umfassende Aktion, die erstmals in der Welt zum Schutz eines Weltkulturerbes durchgeführt wird. Begonnen hat sie bereits im Jahr 1997. Damals zog zuerst die Kreisverwaltung aus dem alten Amtsgebäude aus, anschließend verließen 74 Ämter bzw. Büros und sieben Fabriken – insgesamt über 2000 Menschen – die Altstadt. Der Auszug erfolgt diesmal jedoch gründlicher. Sämtliche Fabriken und Verwaltungsbüros samt Schulen und Krankenhäuser werden umgesiedelt und über 20 000 Einwohner werden umziehen – etwa die Hälfte der Bevölkerung wird also die Altstadt verlassen.

Für die Umsiedler hat die lokale Verwaltung unweit der Altstadt, im Südwesten, eine neue Stadt errichtet. Sie ist ausgestattet mit allen Einrichtungen für das tägliche Leben und einer großen Grünfläche, die Wohnviertel dort verfügen über Schulen und Spitäler sowie Hausmeisterdienste. Über 400 Familien sind bereits in neuen Wohngebäuden untergebracht. Es sind noch drei weitere größere Wohnviertel geplant, und wenn die Geldmittel planmäßig bereitgestellt werden, kann der Bau vor 2005 abgeschlossen werden. Bis dahin werden in der Altstadt nur noch einige wenige Schulen und Kliniken sowie Unterhaltungsstätten verbleiben, die der dort wohnenden Bevölkerung dienen. Der Hauptteil der Gemeinschaftseinrichtungen für die heutige Stadtbevölkerung wird bis dahin aus der Altstadt verlegt sein.

Für Pingyao, wie für andere Gebiete aus dem Landesinneren auch, stellt das größte Problem für die Umsiedlungsaktion der Mangel an Geldmitteln dar. Dieses fehlt zum einen der lokalen Verwaltung, so dass sie momentan nicht in der Lage ist, Subventionen für den Umzug der Stadtbewohner zu zahlen. Zum anderen sind die Stadtbewohner nicht reich, sie unterstützen zwar die Umsiedlungsaktion, aber der junge Tourismus hat den Stadtbewohnern noch nicht so viel Wohlstand gebracht, dass sie sich eine große Wohnung außerhalb der Altstadt leisten können. Unter manchen der bereits umgezogenen Einwohner macht sich Missmut breit, weil sie keine Entschädigung für die Umsiedlung bekommen können. Manche Stadtbewohner, die noch in der Altstadt wohnen, warten deshalb Begünstigungsmaßnahmen der lokalen Verwaltung ab.

Auch die 78-jährige Mittelschule von Pingyao mit 4900 Schülern und 3000 Lehrern und Mitarbeitern muss den Ort wechseln. Durch ihre Umsiedlung erhält sie ein mehr als doppelt so großes Schulgelände, und das Verkehrsproblem in der südöstlichen Ecke der Altstadt kann gelöst werden. Doch viel wichtiger ist, dass dadurch der kulturhistorische Wert des über 1000 Jahre alten Konfuziustempels besser zur Geltung kommt. Die Unterrichtsgebäude und Wohnheime der Schüler werden gerade gebaut, und voraussichtlich im kommenden Herbst soll die neue Schule den Betrieb aufnehmen. Aber die von den Behörden zugesagten Geldmittel sind bis jetzt noch nicht bereitgestellt worden, und die bisherigen Baukosten werden fast alle von den Baufirmen vorgestreckt. Der Schuldirektor macht sich große Sorgen über dieses finanzielle Problem.

Die umfangreiche Umsiedlung zum Schutz des Weltkulturerbes Pingyao bringt diesen recht armen Kreis in eine schwierige Lage. Der Kreisvorsteher Li Dingwu gab vor kurzem bekannt, dass die Kreisverwaltung plant, den umgesiedelten Bewohnern Wohnungen zu günstigeren Preisen zu bieten, Kredite zur Verfügung zu stellen und Umsiedlungsentschädigungen zu zahlen. Außerdem sucht Pingyao aktiv finanzkräftige Investoren, die Pingyao beim Schutz des Weltkulturerbes und bei der Umsiedlung von Stadtbewohnern helfen.

Der Umzug von Zhao Changbens Familie

Der pensionierte Zhao Changben, geboren 1938, arbeitete früher im Amt für Kulturgegenstände des Kreises Pingyao und wohnte im Norden der Stadt. Sein Wohnhaus wurde 1874 von seinem Großvater gekauft, der Beamter in der Erziehungsbehörde war, und bestand aus zwei Wohnhöfen. Als die lokale Verwaltung einen Teil der Bewohner zum Umziehen aufrief, verließ er wie die meisten älteren Menschen mit Wehmut die Altstadt. Doch er war bereit, mit seiner Frau in ein neues Wohnhaus außerhalb der Altstadt einzuziehen, denn die neue Wohnung kommt seiner Frau gesundheitlich zugute, die an Rheuma leidet. Im alten Haus gab es keine Zentralheizung.

Der Umzug störte allerdings sein inneres Gleichgewicht. Er hatte sich beruflich mit Kulturgegenständen und alten Bauwerken beschäftigt und wusste viel zu genau, dass der Vorteil eines alten Hauses gerade darin liegt, dass seine Bewohner unmittelbar mit der Erde in Berührung stehen, wodurch ein Gleichgewicht zwischen Yin und Yang hergestellt wird, das ein langes Leben gewährleistet. Er mag die von seinen Vorfahren überlieferten Dinge und hat deshalb auch vor, in dem Haus zu sterben, in dem er geboren wurde.

Zhao Penghuan, 32, der zweite Sohn Zhao Changbens, wollte wie die meisten jüngeren Leute in ein neues Wohngebäude einziehen und den Komfort des modernen Wohnens genießen. Er findet das alte Haus viel zu unbequem, es gibt keine Dusche und kein Bad und auch keine Toilette. Selbst bei tiefster Nacht und im kalten Winter muss man auf die öffentliche Toilette gehen, außerdem sind die Lichtverhältnisse und die Belüftung im alten Wohnhaus alles andere als ideal. Weil er jedoch sein ganzes Geld ins Geschäft investiert hat, muss er sich mit dem Umzug gedulden und in einem Haus in der Altstadt ausharren.

Zhao Pengtu, 36, der älteste Sohn Zhao Changbens, ist einer der Intellektuellen, die die Altstadt und die alte Kultur lieben und großen Wert auf die traditionelle chinesische Kultur legen. Entsprechend groß war sein Widerwille, aus dem alten Haus auszuziehen. Als Restaurateur von alten Bauwerken hat er eine ausgeprägte Vorliebe für sie. Er wartet nun darauf, dass die anderen Bewohner aus dem alten Wohnhof ausziehen, damit er ihn vollständig instand stellen kann. In seinen Zimmern stehen von ihm gesammelte alte Fensterrahmen, einige Jahrhunderte alte Tische und Stühle, die mit verschiedenen Schnitzereien versehen sind, sowie Hausaltäre. Die alten Möbelstücke sind nicht als Dekoration für die Touristen gedacht, vielmehr will er das Ambiente eines Künstlerhauses herstellen.

Traditionsreiche Gaststätten

Im westlichen Stadtteil besuchten wir eine alte Pension. Nachdem die früheren Bewohner umgesiedelt worden waren, hat man den Wohnhof restauriert. Es handelt sich um einen für Pingyao typischen Wohnhof, der in der Qing-Zeit unter Kaiser Kangxi gebaut wurde.

Wir öffneten eine gesprenkelte Tür, traten ins Zimmer ein und standen vor einem rechteckigen Tisch aus edlem Birnbaumholz. Um den Tisch standen acht Stühle und daneben ein Schrank und eine Frisierkommode. Der Boden war mit schwarzen Ziegelsteinen belegt und die Decke bestand aus geflochtenem Schilfrohr. Auf dem Kang, einem gemauerten, beheizbaren Bett, das tagsüber als Sitzfläche dient, stand ein kleines Betttischchen mit einer Lampe und stapelten sich Baumwollsteppdecken. Hält man sich nur eine kleine Weile in dieser Umgebung auf, kann man das Lebensgefühl vergangener Zeiten auf dem Lössplateau nachempfinden – erst recht natürlich, wenn man mehrere Tage dort verbringt.

Dieses antiquarische Zimmer war jedoch nicht von der modernen Welt abgeschottet, in der grauen Wand war eine Telefonbuchse für die Verbindung ins Internet, und hinter einer Tür im Zimmer verbarg sich ein Bad, das dem Standard eines Drei-Sterne-Hotels entsprach. Hier kriegte man einen Eindruck davon, welche Verwendung die alten Häuser nach der Umsiedlung finden werden.

Die Zeit wird in Pingyao nicht stehen bleiben

Die Kreisverwaltung hat für die Entwicklung des Tourismus eine Obergrenze für die Zahl der traditionellen Gasthöfe gesetzt: Sie darf 100 nicht überschreiten. Die Zahl der Souvenirläden wurde ebenfalls begrenzt, denn die Lokalverwaltung will nicht, dass Pingyao zu einer reinen Touristenattraktion verkommt. Vielmehr legt sie großen Wert darauf, dass Pingyao eine lebende Stadt mit einer festen Bevölkerung bleibt

Die lokale Verwaltung will die Fehler vermeiden, die beim Schutz des Städtchens Chinon in Frankreich begangen wurden. Ein striktes Verbot jeglicher baulicher Veränderung hatte zur Folge, dass ein modernes Leben kaum möglich war und keiner mehr weiter dort wohnen wollte. Pingyaos Behörden verfolgen deshalb das Ziel, dass eine bestimmte Zahl von Einwohnern weiterhin in der Altstadt wohnt und arbeitet und in den alten Wohnhäusern ihrer Vorfahren ihre Lebensfreude genießt. Nur dadurch können die Vitalität der Stadt, die Lebensweise der Bewohner auf dem Lössplateau und die Sitten und Bräuche erhalten werden. Aus diesem Grund werden die alten Wohnhäuser im Innern umgebaut, ihre Wohnfläche vergrößert und Bad und Küche eingebaut, um die Wohnqualität zu verbessern. An Stelle der Wohnhäuser, die nicht renovierbar sind, werden entweder zur Verbeserung der städtischen Umwelt Grünflächen angelegt oder neue Einrichtungen für das tägliche Leben errichtet. Damit wird auch den Menschen in der Altstadt ein modernes Leben ermöglicht.

Die Haltung der Kreisverwaltung zur Umsiedlung ist aktiv, aber behutsam. Nicht die Geschwindigkeit zählt, sondern die ständige Überprüfung des Prozesses. Sie hat wiederholt Machbarkeitsstudien angestellt und vermeidet bei der Umsiedlung nach Kräften jeglichen Schaden, der nicht wiedergutmachbar ist. Ihr Wunsch ist es, den Nachkommen ein lebendiges Weltkulturerbe zu hinterlassen statt der toten Kulisse einer alten Stadt.

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