Umsiedlung
von Stadtbewohnern in Pingyao zum Schutz des Weltkulturerbes
Von
Li Wuzhou
Ein Film verändert das Schicksal einer
Stadt
Der alte Wohnhof der Familie Qiao unweit von
Pingyao ist durch den Film Die Rote Laterne mit dem Filmstar
Gong Li bekannt geworden. Die Altstadt von Pingyao verfügt über
4000 alte Wohnhöfe, die dem alten Wohnhof im Film ähnlich
sind. Bevor Die Rote Laterne gezeigt wurde, hatten die
Bewohner dieser Wohnhöfe nicht erkannt, welch großer
kultureller und künstlerischer Wert diese über ein Jahrhundert
alten Wohnhäuser in sich bargen, schon gar nicht, dass
diese ihnen großen wirtschaftlichen Gewinn bringen würden.
Wenn der Film nicht dort gedreht worden wäre,
wären diese alten Häuser wohl, wie viele an anderen
Orten in China, bereits abgerissen und durch modernere Gebäude
ersetzt worden.
Das Städtchen Pingyao hat nur 40 000
Einwohner und eine Fläche von 2,25 km2. Aber
jedes Jahr reisen über 800 000 in- und ausländische Touristen
dorthin. Darauf sind die Stadtbewohner sehr stolz, und sie fühlen
sich an den Ruhm und die Träume ihrer Vorfahren erinnert.
Die Bauern dienen als ortskundige und mit den einheimischen
Sitten und Bräuchen vertraute Reiseführer, betreiben Souvenirläden
bzw. -stände oder fahren elektrische Wagen für die Touristen.
Wenn es viele Touristen gibt, dann können sie 100 Yuan
pro Tag verdienen. Im vorigen Jahr brachte der Tourismus dieser
kleinen Stadt Einnahmen von mehr als 10 Mio. Yuan ein. Das ist
zwar gerade mal so viel wie der höchste Tagesumsatz eines
Vergnügungsparks in Shenzhen, bedeutet aber für die ärmere
Region Pingyao eine beachtliche Summe.
Die Vorfahren der Bewohner Pingyaos galten
einst als „ländliche Väter der modernen chinesischen
Banken“. Die Stadtbewohner von heute sind zwar noch nicht so
reich wie ihre Vorfahren, aber sie verabschieden sich mit dem
von ihren Vorfahren geschaffenen Kulturerbe von einem Leben
in Armut. Deshalb achten sie sehr auf den Schutz ihrer Altstadt
und folgen den Vorschlägen von Experten, 20 000 Bewohner
aus der dicht bewohnten Altstadt auszusiedeln.
Die besterhaltene Altstadt der Ming- und
Qing-Dynastie (1368–1644, 1644–1911)
Pingyao liegt in der Mitte der Provinz Shanxi,
100 km von der Provinzhauptstadt Taiyuan entfernt. Es wurde
in der Westlichen Zhou-Dynastie unter König Xuanwang (827–782
v. Chr.) gegründet. 1370, in der Ming-Dynastie, wurden die Stadtmauern
zum Zweck der militärischen Verteidigung mit Ziegelsteinen
befestigt. Hier begann der Aufstieg der alten Stadt.
Zu Beginn der Ming-Dynastie wurden neun strategisch
bedeutende Städte errichtet, und in Datong und Taiyuan
waren zahlreiche Truppen stationiert. Um ihren logistischen
Bedarf zu decken, unterstützte das Kabinett der Ming-Dynastie
mit günstigen Bedingungen die Händler, die die stationierten
Truppen mit Gütern aus dem Landesinneren und dem Osten versorgten.
Dadurch wurde eine große Anzahl von Kaufleuten herangebildet,
die als Shanxier Geschäftsleute eine wichtige Stellung
in der Geschichte einnahmen. 1823 wurde das Geldinstitut „Rishengchang“
gegründet, das auch als Vorläufer der modernen Bank betrachtet
wird. Die einstigen reichen Bewohner von Pingyao, von den Shanxier
Geschäftsleuten bis zu den Bankiers der Neueren Zeit, haben
ihren Nachkommen zahlreiche Bauwerke hinterlassen.
Die Altstadt Pingyaos setzt sich aus vier
größeren und acht kleinere Straßen sowie 72
gewundenen Gassen mit verschachtelten Häusern zusammen.
Eine prominente Mittelachse zieht sich von Norden nach Süden,
und das Amtsgebäude befindet sich im Stadtzentrum. Das
ganze achitektonische Konzept entspricht dem damals geltenden
„Ritensystem“. Damit ist die kleine Stadt ein typisches Beispiel
für Han-chinesische Wohnkultur.
Die Hauptgeschäftsstraße
in der Altstadt ist der Südteil der Mittelachse. Zu beiden Seiten
stehen alte Geschäftshäuser aus der Ming- und Qing-Dynastie.
In diesen Häusern waren früher Kreditgeschäfte, Pfandgeschäfte,
Güter- und Personenschutzdienste sowie Lackwarengeschäfte
untergebracht. Diese Straße bietet ein unfassendes Bild
von der Kultur, Wirtschaft, und Gesellschaft sowie der Religion
in der Ming- und Qing-Dynastie.
Glückhaftes Überleben der Altstadt
Pingyaos
Obwohl die Gegend um Pingyao wegen ihrer strategischen
Bedetutung seit jeher heiß umkämpft war, nahm die
Stadt kaum Schaden. Außerdem überlebte die Altstadt die
Kulturrevolution, was als Wunder gelten kann. Das alte Pingyao
ist von einer 12 m hohen, massiven Mauer umschlossen, die nur
sehr schwer zu erstürmen und auch nicht leicht zu zerstören
war. Nach 1949 wurden die privaten Wohnhöfe und Geschäftshäuser
in Büros und Lagerhäuser umgewandelt, doch die alten Bauwerke
blieben architektonisch unverändert. Selbst in der Kulturrevolution
(1966–1976), als alles Traditionelle als zu beseitigende Überreste
des Feudalismus galt, wurden die bewohnten alten Häuser
nicht abgerissen, sondern nur ihre Dekorationen wie Tonfiguren
oder Schnitzereien durch das Bauamt entfernt.
Manche schreiben die Erhaltung der alten Bauwerke
der regionalen Armut zu. Die Provinz Shanxi ist wirtschaftlich
ziemlich unterentwickelt, und Pingyao liegt im ärmsten
Kreis des von Armut betroffenen Bezirks Lüliang. Die Stadtregierung
von Pingyao war wirtschaftlich einfach nicht in der Lage, an
Stelle der alten Häuser moderne Gebäude zu errichten.
Der Beweis dafür ist, dass in der Altstadt in den letzten 20
Jahren nur eine Handvoll vierstöckiger neuer Häuser
gebaut wurden.
Was auch immer der Grund dafür gewesen sein
mag, die Altstadt mit ihren Mauern, Straßen, Wohnhäusern,
Geschäftshäusern und Tempelanlagen ist weitgehend
erhalten geblieben, und dafür sollte man dankbar sein. Unter
den kostbaren Bauwerken der Altstadt gibt es buddhistische,
daoistische und Konfuziustempel. Heute sind in der Altstadt
3797 alte Wohnhäuser zu verzeichnen, wovon sich 387 vollkommen
im ursprünglichen Zustand befinden..
Aussiedlung aus der Altstadt
Die Aussiedlung von Bewohnern und Behörden
aus der Altstadt Pingyaos ist eine umfassende Aktion, die erstmals
in der Welt zum Schutz eines Weltkulturerbes durchgeführt wird.
Begonnen hat sie bereits im Jahr 1997. Damals zog zuerst die
Kreisverwaltung aus dem alten Amtsgebäude aus, anschließend
verließen 74 Ämter bzw. Büros und sieben Fabriken
– insgesamt über 2000 Menschen – die Altstadt. Der Auszug erfolgt
diesmal jedoch gründlicher. Sämtliche Fabriken und Verwaltungsbüros
samt Schulen und Krankenhäuser werden umgesiedelt und über
20 000 Einwohner werden umziehen – etwa die Hälfte der
Bevölkerung wird also die Altstadt verlassen.
Für die Umsiedler hat die lokale Verwaltung
unweit der Altstadt, im Südwesten, eine neue Stadt errichtet.
Sie ist ausgestattet mit allen Einrichtungen für das tägliche
Leben und einer großen Grünfläche, die Wohnviertel
dort verfügen über Schulen und Spitäler sowie Hausmeisterdienste.
Über 400 Familien sind bereits in neuen Wohngebäuden
untergebracht. Es sind noch drei weitere größere
Wohnviertel geplant, und wenn die Geldmittel planmäßig
bereitgestellt werden, kann der Bau vor 2005 abgeschlossen werden.
Bis dahin werden in der Altstadt nur noch einige wenige Schulen
und Kliniken sowie Unterhaltungsstätten verbleiben, die
der dort wohnenden Bevölkerung dienen. Der Hauptteil der
Gemeinschaftseinrichtungen für die heutige Stadtbevölkerung
wird bis dahin aus der Altstadt verlegt sein.
Für Pingyao, wie für andere Gebiete aus dem
Landesinneren auch, stellt das größte Problem für
die Umsiedlungsaktion der Mangel an Geldmitteln dar. Dieses
fehlt zum einen der lokalen Verwaltung, so dass sie momentan
nicht in der Lage ist, Subventionen für den Umzug der Stadtbewohner
zu zahlen. Zum anderen sind die Stadtbewohner nicht reich, sie
unterstützen zwar die Umsiedlungsaktion, aber der junge Tourismus
hat den Stadtbewohnern noch nicht so viel Wohlstand gebracht,
dass sie sich eine große Wohnung außerhalb der Altstadt
leisten können. Unter manchen der bereits umgezogenen Einwohner
macht sich Missmut breit, weil sie keine Entschädigung
für die Umsiedlung bekommen können. Manche Stadtbewohner,
die noch in der Altstadt wohnen, warten deshalb Begünstigungsmaßnahmen
der lokalen Verwaltung ab.
Auch die 78-jährige Mittelschule von
Pingyao mit 4900 Schülern und 3000 Lehrern und Mitarbeitern
muss den Ort wechseln. Durch ihre Umsiedlung erhält sie
ein mehr als doppelt so großes Schulgelände, und
das Verkehrsproblem in der südöstlichen Ecke der Altstadt
kann gelöst werden. Doch viel wichtiger ist, dass dadurch
der kulturhistorische Wert des über 1000 Jahre alten Konfuziustempels
besser zur Geltung kommt. Die Unterrichtsgebäude und Wohnheime
der Schüler werden gerade gebaut, und voraussichtlich im kommenden
Herbst soll die neue Schule den Betrieb aufnehmen. Aber die
von den Behörden zugesagten Geldmittel sind bis jetzt noch
nicht bereitgestellt worden, und die bisherigen Baukosten werden
fast alle von den Baufirmen vorgestreckt. Der Schuldirektor
macht sich große Sorgen über dieses finanzielle Problem.
Die umfangreiche Umsiedlung zum Schutz des
Weltkulturerbes Pingyao bringt diesen recht armen Kreis in eine
schwierige Lage. Der Kreisvorsteher Li Dingwu gab vor kurzem
bekannt, dass die Kreisverwaltung plant, den umgesiedelten Bewohnern
Wohnungen zu günstigeren Preisen zu bieten, Kredite zur Verfügung
zu stellen und Umsiedlungsentschädigungen zu zahlen. Außerdem
sucht Pingyao aktiv finanzkräftige Investoren, die Pingyao
beim Schutz des Weltkulturerbes und bei der Umsiedlung von Stadtbewohnern
helfen.
Der Umzug von Zhao Changbens Familie
Der pensionierte Zhao Changben, geboren 1938,
arbeitete früher im Amt für Kulturgegenstände des Kreises
Pingyao und wohnte im Norden der Stadt. Sein Wohnhaus wurde
1874 von seinem Großvater gekauft, der Beamter in der
Erziehungsbehörde war, und bestand aus zwei Wohnhöfen.
Als die lokale Verwaltung einen Teil der Bewohner zum Umziehen
aufrief, verließ er wie die meisten älteren Menschen
mit Wehmut die Altstadt. Doch er war bereit, mit seiner Frau
in ein neues Wohnhaus außerhalb der Altstadt einzuziehen,
denn die neue Wohnung kommt seiner Frau gesundheitlich zugute,
die an Rheuma leidet. Im alten Haus gab es keine Zentralheizung.
Der Umzug störte allerdings sein inneres
Gleichgewicht. Er hatte sich beruflich mit Kulturgegenständen
und alten Bauwerken beschäftigt und wusste viel zu genau,
dass der Vorteil eines alten Hauses gerade darin liegt, dass
seine Bewohner unmittelbar mit der Erde in Berührung stehen,
wodurch ein Gleichgewicht zwischen Yin und Yang hergestellt
wird, das ein langes Leben gewährleistet. Er mag die von
seinen Vorfahren überlieferten Dinge und hat deshalb auch vor,
in dem Haus zu sterben, in dem er geboren wurde.
Zhao Penghuan, 32, der zweite Sohn Zhao Changbens,
wollte wie die meisten jüngeren Leute in ein neues Wohngebäude
einziehen und den Komfort des modernen Wohnens genießen.
Er findet das alte Haus viel zu unbequem, es gibt keine Dusche
und kein Bad und auch keine Toilette. Selbst bei tiefster Nacht
und im kalten Winter muss man auf die öffentliche Toilette
gehen, außerdem sind die Lichtverhältnisse und die
Belüftung im alten Wohnhaus alles andere als ideal. Weil er
jedoch sein ganzes Geld ins Geschäft investiert hat, muss
er sich mit dem Umzug gedulden und in einem Haus in der Altstadt
ausharren.
Zhao Pengtu, 36, der älteste Sohn Zhao
Changbens, ist einer der Intellektuellen, die die Altstadt und
die alte Kultur lieben und großen Wert auf die traditionelle
chinesische Kultur legen. Entsprechend groß war sein Widerwille,
aus dem alten Haus auszuziehen. Als Restaurateur von alten Bauwerken
hat er eine ausgeprägte Vorliebe für sie. Er wartet nun
darauf, dass die anderen Bewohner aus dem alten Wohnhof ausziehen,
damit er ihn vollständig instand stellen kann. In seinen
Zimmern stehen von ihm gesammelte alte Fensterrahmen, einige
Jahrhunderte alte Tische und Stühle, die mit verschiedenen Schnitzereien
versehen sind, sowie Hausaltäre. Die alten Möbelstücke
sind nicht als Dekoration für die Touristen gedacht, vielmehr
will er das Ambiente eines Künstlerhauses herstellen.
Traditionsreiche Gaststätten
Im westlichen Stadtteil besuchten wir eine
alte Pension. Nachdem die früheren Bewohner umgesiedelt worden
waren, hat man den Wohnhof restauriert. Es handelt sich um einen
für Pingyao typischen Wohnhof, der in der Qing-Zeit unter Kaiser
Kangxi gebaut wurde.
Wir öffneten eine gesprenkelte Tür, traten
ins Zimmer ein und standen vor einem rechteckigen Tisch aus
edlem Birnbaumholz. Um den Tisch standen acht Stühle und daneben
ein Schrank und eine Frisierkommode. Der Boden war mit schwarzen
Ziegelsteinen belegt und die Decke bestand aus geflochtenem
Schilfrohr. Auf dem Kang, einem gemauerten, beheizbaren Bett,
das tagsüber als Sitzfläche dient, stand ein kleines Betttischchen
mit einer Lampe und stapelten sich Baumwollsteppdecken. Hält
man sich nur eine kleine Weile in dieser Umgebung auf, kann
man das Lebensgefühl vergangener Zeiten auf dem Lössplateau
nachempfinden – erst recht natürlich, wenn man mehrere Tage
dort verbringt.
Dieses antiquarische Zimmer war jedoch nicht
von der modernen Welt abgeschottet, in der grauen Wand war eine
Telefonbuchse für die Verbindung ins Internet, und hinter einer
Tür im Zimmer verbarg sich ein Bad, das dem Standard eines Drei-Sterne-Hotels
entsprach. Hier kriegte man einen Eindruck davon, welche Verwendung
die alten Häuser nach der Umsiedlung finden werden.
Die Zeit wird in Pingyao nicht stehen bleiben
Die Kreisverwaltung hat für die Entwicklung
des Tourismus eine Obergrenze für die Zahl der traditionellen
Gasthöfe gesetzt: Sie darf 100 nicht überschreiten. Die
Zahl der Souvenirläden wurde ebenfalls begrenzt, denn die
Lokalverwaltung will nicht, dass Pingyao zu einer reinen Touristenattraktion
verkommt. Vielmehr legt sie großen Wert darauf, dass Pingyao
eine lebende Stadt mit einer festen Bevölkerung bleibt
Die lokale Verwaltung will die Fehler vermeiden,
die beim Schutz des Städtchens Chinon in Frankreich begangen
wurden. Ein striktes Verbot jeglicher baulicher Veränderung
hatte zur Folge, dass ein modernes Leben kaum möglich war
und keiner mehr weiter dort wohnen wollte. Pingyaos Behörden
verfolgen deshalb das Ziel, dass eine bestimmte Zahl von Einwohnern
weiterhin in der Altstadt wohnt und arbeitet und in den alten
Wohnhäusern ihrer Vorfahren ihre Lebensfreude genießt.
Nur dadurch können die Vitalität der Stadt, die Lebensweise
der Bewohner auf dem Lössplateau und die Sitten und Bräuche
erhalten werden. Aus diesem Grund werden die alten Wohnhäuser
im Innern umgebaut, ihre Wohnfläche vergrößert
und Bad und Küche eingebaut, um die Wohnqualität zu verbessern.
An Stelle der Wohnhäuser, die nicht renovierbar sind, werden
entweder zur Verbeserung der städtischen Umwelt Grünflächen
angelegt oder neue Einrichtungen für das tägliche Leben
errichtet. Damit wird auch den Menschen in der Altstadt ein
modernes Leben ermöglicht.
Die Haltung der Kreisverwaltung zur Umsiedlung
ist aktiv, aber behutsam. Nicht die Geschwindigkeit zählt,
sondern die ständige Überprüfung des Prozesses. Sie
hat wiederholt Machbarkeitsstudien angestellt und vermeidet
bei der Umsiedlung nach Kräften jeglichen Schaden, der
nicht wiedergutmachbar ist. Ihr Wunsch ist es, den Nachkommen
ein lebendiges Weltkulturerbe zu hinterlassen statt der toten
Kulisse einer alten Stadt.