Dezember 2002
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Chinesisches Allerlei

Sind die Schatten zu retten?
Der traditionellen Volkskultur eine Bühne bieten

Sind die Schatten zu retten?

Von Olivier Roos

Von rechts verdunkeln unscharfe Umrisse das Licht auf der Leinwand, von links schiebt sich ihnen ein riesiger Schatten entgegen. Das Knattern der Holztrommel wird immer schneller, dazwischen scheppert ein Gongschlag. Die Musik kündigt einen dramatischen Kampf an. Während sie sich einander nähern und ihre Schatten immer kleiner werden, erkennt man allmählich Form und Farbe der Figuren: zwei Reiter, ein roter und ein goldener, prächtig geschmückt mit Bannern auf dem Rücken und zwei langen Fasanenfedern auf ihren Helmen. Einen bangen Augenblick lang stehen sie einander gegenüber, man glaubt, sie vor Anspannung zittern zu sehen. Dann holt der Goldene mit seiner Hellebarde aus, der Rote pariert mit dem Schwert, wendet sein Pferd und stiebt davon, sein Gegner folgt ihm dicht auf den Fersen. Das Licht flackert und blitzt, während die zwei Reiter in einer wilden Verfolgungsjagd über die Leinwand rasen.

Aus dem Publikum gibt es Szenenapplaus, wie noch manches Mal an diesem Abend. Die Vorführung findet in der Peking-Universität statt. Rund 200 Zuschauer, zumeist Studentinnen und Studenten, haben sich eingefunden, um das Schattenspiel der Truppe aus Huanxian in der Provinz Gansu zu sehen. Diese wiederum, ein Puppenspieler und sieben Musiker, sind jedoch nicht nach Beijing gekommen, um der Stadtjugend Unterhaltung zu bieten. Sie haben einen gewichtigen Auftrag und anstrengende Zeiten vor sich. Während knapp einer Woche treten sie jeden Abend auf, an manchen Tagen sogar zweimal. Zwei Tage und zwei Nächte sind sie im Kleinbus durchgefahren, um in der 1700 km entfernten Hauptstadt bei der UNESCO vorzusprechen und um Aufnahme ins Weltkulturerbe anzusuchen. Mitgereist sind deshalb einige Gemeindevertreter, der Direktor des Kulturhauses Huanxian, und ein Vertreter des örtlichen Fernsehens darf selbstverständlich auch nicht fehlen. Die Schattenspieltruppe soll mit ihren Aufführungen an verschiedenen Universitäten in Beijing Werbung machen für ihre Kunst und das Interesse der Großstädter wecken, in diesem Fall der jungen Bildungselite.

Vor einem Jahr startete die UNESCO ein neues Programm im Rahmen des Weltkulturerbes, mit dem nicht-materielle Kultur, auch „unsichtbare“ Kultur genannt, geschützt werden soll. Diese umfasst in erster Linie mündlich überliefertes Kulturgut wie orale Literatur, Volkslieder, Theaterstücke usw. Bisher wurde aus China erst die Kunqu, die Oper der Provinz Jiangsu, ins Inventar aufgenommen. Zhang Haiming, der Leiter des Kulturhauses Huanxian, ist zuversichtlich, dass das Schattenspiel aus seiner Heimat als Weltkulturerbe anerkannt wird. „Schattenspiel gibt es zwar noch an vielen Orten in China, doch nirgendwo hat sich eine solch große Anzahl von Spielern und Bühnen erhalten wie in Huanxian. Im Bezirk sind noch rund 80 Truppen aktiv“, erklärt er. Auf nationaler Ebene hat dieser Umstand bereits Anerkennung gefunden: Im Juni verlieh die Vereinigung für chinesische Volkskultur dem Ort den Titel „Heimat der Schattenpuppen“.

Huanxian hat es in erster Linie seiner Abgeschiedenheit zu verdanken, dass sich dort das Schattenspiel in einer ursprünglichen Form erhalten hat. Während im angrenzenden Ningxia, dem Autonomen Gebiet der Hui-Nationalität, ein kleines Wirtschaftswunder stattfindet und die Uhren schneller zu ticken beginnen, bestimmt im nordöstlichsten Zipfel von Gansu noch immer die Fruchtfolge auf den Feldern den Rhythmus des Lebens. Der Fortschritt zog an Huanxian vorbei. „Viele Dörfer sind noch immer ohne Stromversorgung, es gibt kein Fernsehen. Für die Leute dort ist Schattenspiel eines der wenigen Unterhaltungsangebote“, meint Herr Li, Parteisekretär von Huanxian. Die Isolation, die für die wirtschaftliche Entwicklung ein Nachteil war, entpuppte sich in kultureller Hinsicht jedoch als Glücksfall. Ihre Einbettung in das stark landwirtschaftlich geprägte gesellschaftliche Umfeld verhinderte, dass die Schattenspielkunst allzu rasch verschwand. Die Schattenpuppenspieler und Musiker sind Bauern geblieben, und so finden die meisten Aufführungen dann statt, wenn es auf dem Acker nicht viel zu tun gibt, zu Festtagen und Hochzeiten, aber auch zu Begräbnissen.

Das Schattenspiel soll ursprünglich aus China stammen und breitete sich zwischen dem 13. und dem 15. Jh. über den ganzen asiatischen Kontinent aus, von Indonesien bis in die Türkei und sogar bis nach Griechenland. Die früheste Überlieferung über die Verwendung einer Schattenpuppe stammt aus der Han-Dynastie (206 v. Chr.–220 n. Chr.). Kaiser Wu Di war nach dem Tod seiner Frau so untröstlich, dass sich einer seiner Diener etwas einfallen ließ, um ihm ein Wiedersehen mit der Verstorbenen zu ermöglichen. Er hängte einen Vorhang auf und bat den Kaiser am Abend, aus einiger Entfernung seinen Blick darauf zu richten. Schon nach einer kurzen Weile konnte Wu Di im Widerschein einer Lampe die Silhouette seiner Frau erkennen. Natürlich war es nur der Schatten einer Figur, die der Diener aus Leder hatte anfertigen lassen.

In Aufführungen verwendete man später für die Puppen neben Leder auch festes Papier. Die traditionelle Herstellung einer Schattenpuppe aus Leder ist eine äußerst aufwendige Angelegenheit, die in Huanxian unter den 300 000 Einwohnern nur noch eine Handvoll Männer beherrschen. Zahlreiche Arbeitsschritte sind notwendig, um die Kuhhaut – andernorts, z. B. in Hebei, verwendet man auch Eselshaut – zu gerben und einzufärben. Um das Leder lichtdurchlässig zu machen, wird es mit Öl getränkt. Dann geht es ans Ausschneiden. Für die unheimlich filigranen Puppen und Kulissen muss ein Schnitzer über 3000 Schnitte ansetzen. Selbstverständlich werden in Huanxian Schattenspielfiguren inzwischen auch in größerem Rahmen hergestellt, die als Geschenke oder Souvenirs zum Verkauf angeboten werden, doch diese können sich mit der alten Handwerkskunst nicht messen. Die Farben der neuen Puppen verblassen rasch, deshalb werden für die Aufführungen Figuren verwendet, die bis zu 150 Jahre alt sind. Braun und verwelkt sehen diese auf den ersten Blick aus, auf der Leinwand jedoch, im Scheinwerferlicht, leuchtet ihre Farbenpracht wie neu.

Aber erst in den Händen von Shi Chenglin, dem Puppenspieler, werden die delikaten Kunstwerke zum Leben erweckt: Ein General, dem der eigene Erfolg über den Kopf wächst und der den Kaiser herausfordert, ein Mönch, der auf seiner Pilgerreise von Dämonen bedroht wird, eine Hofdame, deren Herzensgüte keine Anerkennung findet, die sich aus Gram darüber umbringt und nach ihrem Selbstmord in der Unterwelt von ihrem reuigen Gatten besucht wird – Figuren aus alten Legenden und Mythen, die in China jedes Kind kennt, wie „Die Reise nach dem Westen“, „Die weiße Schlange“ u. a. Selbstverständlich siegen die Guten und die Schlechten sehen ihr Unrecht ein oder erleiden eine gerechte Strafe, so dass am Schluss die sozialen Verhältnisse wieder im Lot sind. Es sind Moritaten, welche seit Generationen den Kindern beibringen sollen, was sich gehört und was nicht, und die Erwachsenen zur Rechtschaffenheit ermahnen. Shi Chenglin trägt die Erzählungen in einem Singsang vor, der kennzeichnend ist für das Daoqing-Schattenspiel. Diese Form wurde musikalisch stark von daoistischen Praktiken beeinflusst. Ihr Gesangsstil hat sich vor Jahrhunderten aus der Art entwickelt, wie daoistische Mönche aus dem Kloster am Xinglong-Berg im Bezirk Huanxian in ihren Ritualen religiöse Schriften rezitierten. Ebenso altertümlich ist die Sprache, die darüber hinaus mit zahlreichen Dialektausdrücken versetzt ist. Damit das eigentümliche Idiom für das Publikum in Beijing nicht ganz unverständlich bleibt, hat die Delegation aus Huanxian Seitentitel vorbereitet, die mit einem Overhead-Projektor neben die Leinwand projiziert werden.

Shi Chenglin hat so viele Stücke im Gedächtnis gespeichert, dass er ohne weiteres einige Abende damit füllen könnte. Die längsten dauern bis zu vier Stunden, doch sie werden selten im vollen Umfang gespielt, meistens besteht eine Aufführung aus Ausschnitten verschiedener Erzählungen. Schon mit 17 begann er, die Schattenspielkunst von seinem Vater zu erlernen, inzwischen betreibt er sie seit 40 Jahren. Doch so, wie es aussieht, wird die Familientradition mit ihm enden, denn von seinen Söhnen zeigt keiner Interesse daran, die Schattenpuppen zum Sprechen zu bringen. Das hat nicht zuletzt handfeste ökonomische Gründe: Pro Aufführung erhält jedes Mitglied einer Truppe rund zehn Yuan. Das ist in einem Gebiet, wo das durchschnittliche Jahreseinkommen gerade einmal 1000 Yuan beträgt, zwar nicht wenig, doch wer sein Glück versucht und in den Zentren des wirtschaftlichen Booms Arbeit findet, bringt es auf ein Vielfaches davon.

Mit ihrem Desinteresse für das Schattenspiel sind Shi Chenglins Söhne nicht allein. Gerade unter der jüngeren Bevölkerung schwindet die Wertschätzung für das altmodische Theater. Das Schattenspiel kämpft nicht nur mit Nachwuchsproblemen, ihm läuft dort, wo es sich über Dutzende von Jahren besser als anderswo erhalten hat, das Publikum davon. Trotz der landesweit einmaligen Dichte von Truppen und Bühnen ist es auch in Huanxian eine aussterbende Kunstgattung. Umso dringlicher sind Bemühungen zu seiner Rettung. Gemäß Parteisekretär Li plant die Bezirksregierung spezielle Schulklassen, in denen Schattenpuppenspieler von klein auf ausgebildet werden sollen. Schattenspiel müsse aber auch finanziell attraktiv werden, um den Nachwuchs zu sichern, erklärt er, es müsse zu einem Beschäftigungszweig ausgebaut werden, und er spricht von einem Markt, den es zu diesem Zweck zu erschließen gelte. Über das Publikum an der Peking-Universität zeigt er sich hoch erfreut. So viel Applaus, eine solche Begeisterung habe er kaum je erlebt. Ohne Zweifel, der „Markt“ ist hier, in den großen Städten, wo in gewissen Kreisen ein Bewusstsein für den drohenden Verlust althergebrachten Kulturguts herangereift ist. Es wirkt paradox, vielleicht ist es aber auch nur folgerichtig und ein Zeichen für die Entwurzelung, für den Identitätsverlust in den Großstädten, dass die Zukunft der letzten Zeugen traditioneller Volkskünste, die in den unzugänglichsten Gebieten des Landes, in verschlafenen Nestern überdauert haben, in den großen, sich rasch wandelnden Städten des Landes zu liegen scheint, die mit ganzer Kraft zu internationalen Metropolen ausgebaut werden.

Wer weiß, ob die „Nachfrage“ in den städtischen Zentren Chinas das Über- und Weiterleben des Schattenspiels in Huanxian gewährleisten kann. Letztendlich stellt sich die Frage, wie weit der Schutz „unsichtbarer“ Kultur an den Erhalt ihres gesellschaftlichen Umfelds gebunden ist. Dass die ursprünglichsten Formen der Volkskünste in den entlegensten, ärmsten Winkeln des Landes zu finden sind, ist kein Zufall. Ihre beste Überlebensgarantie ist bisher die Armut gewesen, möchte man meinen. Was aber wird mit dem Schattenspiel geschehen, wenn eines Tages die Elektrizität in die Dörfer kommt und mit ihr die Fernseher? Werden sich die alten Schatten gegen ihre Kinder, die „elektrischen Schatten“, wie der Film auf Chinesisch wörtlich heißt, behaupten können?

Man kann Parteisekretär Li, der die Zukunft des Schattenspiels gern in ökonomische Begriffe fasst, und seinen Kollegen nur viel Umsicht und Fingerspitzengefühl wünschen bei dem Vorhaben, die Kunst zu einer Einnahmequelle zu machen, um ihr Weiterbestehen zu sichern. Es bleibt zu hoffen, dass die Tradition, wenn sie erst einmal zu einem Motor für wirtschaftliches Wachstum umgewandelt wurde, nicht ihre eigene Existenzgrundlage zerstört.

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