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Die Rolle deutschsprachiger Literatur in der chinesischen Germanistik
Von Li Changke*
Die Germanistik in China ist ein Studienfach an den Hochschulen, das traditionell auf die Vermittlung der deutschen Sprache ausgerichtet ist und seine Aufgabe in der Ausbildung von Fremdsprachenphilologen als Übersetzer, Dolmetscher, Korrespondent, Reiseführer, Deutsch-Lehrer usw. sieht. Weil der chinesische Germanist naturgemäß zuerst die deutsche Sprache lernen muss, ist sein Studium vor allem durch ein intensives Deutschlernen gekennzeichnet, wobei praktische Übungen wie Phonetik, Grammatik, Syntax, Hörverständnis, Leseverständnis, Wortschatzarbeit, Schreibhandlung, mündliche Kommunikation, Übersetzens- und Dolmetschenstraining schlichtweg den wesentlichen Teil seines Lerninhaltes ausmachen. Dabei kann nicht nur die chinesische Germanistik bei ihrem festgelegten Lehrprogramm im Grund genommen als Fach Deutsch als Fremdsprache angesehenen werden, sondern bei allen fremdsprachlichen Studienfächern an chinesischen Hochschulen ist es so, da das chinesische Verständnis von den auf Fremdsprachen bezogenen Studienfächern grundsätzlich zuallererst von der Bildung der fremdsprachlichen Fertigkeiten geprägt ist.
Die Literatur ist eben in diesem fremdsprachlichen Bildungsrahmen positioniert. Es werden zwar, wie dies die überregional verwendeten Lehrbücher zeigen, in jedem Studienjahrgang literarische Texte gelesen, diese dienen aber nicht primär dem Literaturstudium, sondern sie bilden hauptsächlich den Hintergrund für die Verbesserung der sprachlichen Fertigkeiten der Studenten, haben also eine reine sprachvermittelnde Funktion.
In den letzten Jahren sind aber etliche Veröffentlichungen in China in Fachzeitschriften erschienen, die dafür plädieren, das Fremdsprachenstudium an den chinesischen Hochschulen neu zu konzipieren. Unter dem Hinweis darauf, dass das Fremdsprachenlernen heute in China schon in der Mittel- und Grundschule, teilweise sogar im Kindergarten, erfolgt, so dass die Studierenden bereits über gute bzw. sehr gute Fremdsprachenkenntnisse verfügen, wenn sie an die Hochschule kommen, wenden sich die Verfasser gegen die bestehenden Curricula und vertreten die Ansicht, dass im fremdsprachlichen Studiengang, der als ein akademisches Studienfach einen wissenschaftlichen Anspruch haben muss, dem Spracherwerb keine zentrale Bedeutung mehr beigemessen, sondern mehr Raum für Fachinhalte der fremdsprachlichen Geisteswissenschaft gewährt werden sollte. Ihr Leitgedanke lautet: statt der bisher praktizierten fremdsprachlichen „Massenbildung“ nun z. B. eine Bildung der „Kulturelite“ durchzuführen. 1
Die Situation, dass die Studenten bereits als Studienanfänger über gute Fremdsprachenkenntnisse verfügen, trifft grundsätzlich nur auf Englisch als Fremdsprache zu. Die Germanistikstudenten in China müssen fast immer zuerst die deutsche Sprache erlernen, bevor sie mit dem Fachstudium beginnen. Aber auch hier haben sich wiederholt Stimmen gemeldet, die für eine Umgestaltung des Lehrprogramms eintreten. Der Hauptgrund dazu ist wiederum eine Situation, die die Deutschabteilungen an chinesischen Hochschulen schon einmal unter so starken Druck gesetzt hatte, dass ihre Existenzberechtigung in Frage gestellt war. Der chinesische Staat hatte mit einer bildungspolitischen Reform die Zuteilung von Arbeitsstellen an Hochschulabsolventen gestoppt, und damit die bisherige staatliche Regelung aufgehoben. Nun mussten die Absolventen aller Studiengänge und -fächer sich selber den Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt stellen. Dadurch änderte sich auch die Ausbildungssituation an den Hochschulen: Studierende hatten andere Lernbedürfnisse und Lehrende sowie die germanistisch orientierten Deutschabteilungen modifizierten ihre Lehrinhalte.
Um der neuen Situation zu begegnen und um die Tatsache zu berücksichtigen, dass die Absolventen der Germanistik aufgrund des ökonomischen und gesellschaftlichen Wandels im Land immer öfter in der freien Wirtschaft nach einer Arbeitsstelle suchen, wurde in die Germanistenausbildung nun als ein neues Konzept die Fachsprache eingeführt: Das Unterrichtsfach Wirtschaftsdeutsch wurde ins Leben gerufen, bei dem die Studenten eine fachsprachliche Lexik aus der Betriebs- und Volkswirtschaftslehre und ein gewisses Basiswissen davon erwerben können – eine vielerorts als Ausbildungsschwerpunkt betrachtete Fachrichtung, die bei nicht wenigen Hochschulen nicht nur im Lehrplan Einzug hielt, sondern den bisherigen Literaturunterricht völlig aus dem Programm verdrängte. Wozu noch Literaturunterricht, wenn er keinen direkten Nutz bringe und zum Berufseinstieg und –leben der Studenten gar nichts beitragen könne? Inzwischen aber, kaum dass das Wirtschaftsdeutsch fest im Unterricht verankert ist, stellt es sich heraus, dass dieses Konzept auch nicht des Problems Lösung bietet. Denn abgesehen von den Problemen dieses Unterrichtsfachs (in der Hinsicht des Lehrmaterials und Lehrpersonals) und abgesehen davon, dass die moderne Arbeitswelt immer neue Anforderungen an Arbeitnehmer stellt, sind es in der Hauptsache die Berufsinteressen und die Berufstätigkeitsfelder der Absolventen, die heute so unterschiedlich und verschieden sind, dass eine konzentrierte Ausbildung in Wirtschaftsdeutsch als einem zusätzlichen Berufsprofil entweder nicht nötig oder unzureichend oder untauglich ist. 2 Die Erfahrung, dass man in einem geisteswissenschaftlichen Studiengang die Studenten nicht mit vom Arbeitsmarkt geforderten technischen Fachkompetenzen auf einen Arbeitseinstieg vorbereiten und sie auch nicht wirtschaftsadressatenorientiert ausbilden kann, wurde auf Tagungen der chinesischen Germanisten diskutiert. Daraus resultiert, dass das Anleitungskomitee für die Germanistik an chinesischen Hochschulen, ein Organ, das dem Chinesischen Bildungsministerium untersteht, in seinen neu erarbeiteten Lehrplänen und Curricula den Literatur- und Linguistikunterricht, der einst für die kritische Situation der Germanistik in China verantwortlich gemacht wurde, nun als Anforderungsprofil des Faches wieder hervorhebt.
* Prof. Dr. Li Changke ist Dekan der Germanistik an der Peking-Universität