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Der Rückbesinnung bzw. -führung der Germanistik in China auf ihre eigentlichen Lehrgegenstände ist überdies in einem größeren Zusammenhang zu sehen. Es ist jener des Disputs über die Situation und die Rolle der Literatur in der heutigen, an der Marktwirtschaft orientierten Zeit im Kontext der viel diskutierten Literaturkrise. Denn spätestens in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts sah sich die Literatur auch in China sozusagen an den Rand der gesellschaftlichen Kulturstruktur gerückt, als deutlich wurde, dass sie sich verändert hatte und nicht mehr so intensiv wahrgenommen wurde wie bisher. Wozu liest man noch Literatur, wenn sich alles um die Neo-Trinität von Ökonomie, Technik und Wissenschaft dreht? Seitdem die Wissens- oder Informations- oder Mediengesellschaft auch in China gängige Bezeichnungen für die Gesellschaft der Gegenwart geworden sind, entwickelte sich hier in Fachzeitschriften und in Tageszeitungen ein reger Diskurs über die Werte der Literatur, über die Intentionen des Literaturunterrichts in der universitären Ausbildung, über die fachlichen Begründungen für eine literaturdidaktische Ausrichtung, über die zu vermittelnden Inhalte und die anzuwendenden Methoden sowie – und dies vor allem – über das studierende Subjekt bzw. letztlich darüber, wie das Studieren funktioniert. Nur, in China wurde über die Werte und Funktionen der Literatur nie ernsthaft negativ geurteilt, wie heftig auch debattiert wurde. Das hat mit der kulturellen Tradition und mit der herrschenden Ideologie zu tun. So war es nicht verwunderlich, dass die ganze Diskussion im Kontext der Literaturkrise nicht durch Disparität der Positionen und durch Kontroversen, sondern durch Homogenität der Ansichten von bedeutenden Fachvertretern der chinesischen Literaturwissenschaft bestimmt war. Diese entsprachen dem Erwartungshorizont der Literaturfreunde und konnten auf der ganzen Linie Akzente setzen, indem sie die Stimmen der Literatur kritisch ins Spiel brachten und vornehmlich für sie sprachen.

Die Literatur hat in der heutigen Zeit, wo die Wirklichkeit der Veränderung bedarf und wo junge Menschen viel Zeit vor dem Fernseher und dem Computer verbringen sowie von der Konsumwelt zugeschüttet werden und wo ihnen wenig Zeit bleibt, ihr literarisches Interesse zu entwickeln, ihre notwendigen kompensatorischen Werte: Sie bietet eine facettenreiche Welt von Intellekt, Gefühl, Erfahrung, Individualität, Vorstellungskraft, Tugend und Moral, Gerechtigkeit, Originalität, ästhetisches Bewusstsein, Lebensideal, Existenzdasein und vielem mehr. Damit kann sie z. B. das ideelle Vakuum, das auch bei den Studenten mit dem Aufbau der chinesischen Marktwirtschaft und mit der Transformation Chinas von einem in sich isolierten Land in eine nach außen geöffnete Gesellschaft entstanden ist, zu füllen bzw. den lebensanschaulichen Nihilismus der Studenten überwinden helfen. Die Literatur kann dazu führen, dass sie ihre literarischen Fähigkeiten entdecken, schätzen und erweitern mögen. Sie kann Sensibilität, Fantasie und Kreativität entfalten sowie das kritische, emanzipierte Zurechtfinden und Verhalten in einer von Technik bestimmten Welt aktivieren. Sie kann also, kurz gefasst, als Gegengewicht zum allein rational orientierten Weltzugang einen ganzheitlichen Zugang zur Welt fördern. Und im Literaturunterricht können dann nicht nur Wissen, Kenntnisse, humanistischer Geist, gesellschaftliche Einstellungen und wissenschaftliche Fachmethoden vermittelt werden, sondern die Studenten können auch in ihren persönlichen und sozialen Schlüsselqualifikationen und Handlungsfähigkeiten ausgebildet werden. 3 All diese von bedeutenden Fachvertretern der chinesischen Literaturwissenschaft auf die Literatur exponierten Werte bzw. dem Literaturunterricht zugewiesenen Funktionen mögen in der Außensicht idealistisch klingen, verbinden sich aber mit dem chinesischen Literaturverständnis, dass gesellschaftlich erzeugte Mängel und Defizite durch literarische Erfahrungen ausgeglichen werden können. Das ist ein Wertdenken in Bezug auf Literatur, dessen geistige Wurzeln in der alten chinesischen Kulturphilosophie liegen. So überrascht es nicht, dass die Meinungen der bedeutenden Fachvertreter der chinesischen Literaturwissenschaft den gängigen Meinungen in China in Sachen Literatur im Unterricht entsprechen und auch Konsens bei den Fachvertretern der fremdsprachlichen bzw. ausländischen Literatur finden.

So kann man z. B. in der Zeitung lesen, dass die Einbeziehung der ausländischen Literatur in den Literaturunterricht eine unabdingbare Ergänzung zur chinesischen Literatur darstelle, um nicht auf eigene Ressourcen beschränkt zu bleiben. Die ausländische Literatur sei deshalb geeignet, weil sie als wichtiger Bestandteil der menschlichen Zivilisation eine Vielfalt von ästhetischen Formen und poetischen Instinkten aufweise und geistige Bestrebungen der Menschen und deren Selbstentwürfe in verschiedenen Epochen repräsentiere bzw. codiere. Sie  betrachte und erkläre die Welt aus der sich unterscheidenden Perspektive anderer Nationen. Die Behandlung der ausländischen Literatur im Unterricht und die Auseinandersetzung mit ihr könnten den Gesichtskreis und die Denkweise sowie die ästhetische Erfahrung der Studenten folgerichtig vergrößern und erweitern. Anspruchsvolle ausländische Literatur sei übrigens noch dadurch gekennzeichnet, dass sie sich mit Geschichtsbewusstsein und Zukunftsvisionen für die Gesellschaft engagiere, ohne auf eine unmittelbare Wirksamkeit propagandistischer Art abzuzielen. Sie sei vielmehr unaufdringlich konzipiert, auf Langfristigkeit im Sinne der suggestiv-subversiven Kraft ausgerichtet und könne daher die Jugendlichen eher ansprechen. Sie könne sanft und tief auf sie wirken wie der Nieselregen bei der Nacht auf die Erde 4 – All dies sind sicherlich Ansichten, die nicht erst heute formuliert worden sind. Dass sich der Verfasser des Artikels bei seiner Ausführung ganz auf der Ebene der bedeutenden Fachvertretern der chinesischen Literaturwissenschaft bewegt und bei seinen Funktionsbestimmungen der ausländischen Literatur im Unterricht wie selbstverständlich an deren Meinungen anschließt, entspricht wiederholt der traditionellen chinesischen Auffassung, der Literatur gemeinhin einen hohen bildungspädagogischen Wert zuzugestehen.

 

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