Chinas
blühende Mobiltelefonindustrie
Von Li Wuzhou

Als das
Mobiltelefon in den späten 80er Jahren zum ersten Mal
auf dem chinesischen Markt auftauchte, kostete es zwischen
10 000 und 20 000 Yuan und war so groß wie ein Ziegelstein.
Es galt als das ultimative Statussymbol – der Volksmund nannte
es „da ge da“, was soviel wie „mächtiger großer
Bruder“ bedeutet. Damals stand der Verkauf eines tragbaren
Telefons unter Staatsaufsicht und die Stückzahlen waren sehr
niedrig. Interessenten hatten eine Bestellung einzureichen
und eine Vorauszahlung von 80% zu leisten. Wie sich die Dinge
geändert haben! Mobiltelefone sind heute an jeder Ecke
erhältlich, in verschiedenen Größen, Farben
und mit zahlreichen Funktionen.
„Daumenkultur“
Als junger
Student blieb Huang über Internet-Chat mit seinen ehemaligen
Klassenkameraden in Kontakt. Seit er vor zwei Jahren eine
Stelle in Beijing antrat, wechselte er auf SMS (Short Text
Messages). Auf Klassentreffen schwenkt das Gespräch,
wenn die Erinnerungen abgehandelt sind, sogleich dazu über,
wer das neueste Handymodell besitzt und wie die neuesten SMS-Witze
lauten. SMS sind mittlerweile der letzte Schrei der zeitgenössischen
Kommunikation im modernen China und wurden auch schon das
„fünfte Medium“ genannt. Die chinesischen Mobiltelefonbenutzer
versenden jährlich 60 Mrd. Kurznachrichten – dies bedeutet,
dass eine von sechs SMS auf der Welt in China unterwegs ist.
Mit SMS machen nicht nur Witze die Runde, auch Wettervorhersagen,
die Lotteriezahlen, Börseninformationen und Glückwünsche
werden übermittelt. Die Chinesen, v. a. die jungen zwischen
15 und 25, lieben diese Art der Kommunikation über alles.
Sie kostet wenig, ist schnell und lässt dennoch genug
Zeit, um eine Nachricht mit Bedacht zu formulieren.
Diese
„Daumenkultur“ hat sich quer durch alle Gesellschaftsschichten
ausgebreitet. Chinas zwei führende Mobiltelekommunikationsunternehmen,
China Mobile und China Unicom, übermittelten 2002 90 Mrd.
SMS. Bei 0,1 Yuan pro Nachricht ergeben sich Einnahmen von
9 Mrd. Yuan. Damit hat eine neue Ära in der Telekommunikation
begonnen.
SMS-Abonnemente
und Informationsdienste zum Herunterladen bilden die neuesten
Strategien, mit denen chinesische Internetportale – darunter
die größten drei, Sina, Sohu und Netease – aus
der Verlustzone herausfanden. Die SMS-Manie hat bereits eine
neue Berufsgattung geschaffen: den professionellen SMS-Schreiber.
Gefragt ist, wer witzige SMS formulieren kann, die bei den
Handy-Kunden gut ankommen, denn mit jeder weitergeleiteten
Nachricht klingeln die Kassen der Mobilfunkbetreiber.
Der Handykonsum
zeigt die unterschiedlichen Vorlieben chinesischer und westlicher
Kunden. Beim Kauf eines Handys achten die Westler auf das
Preis-/Leistungsverhältnis und auf die Anzahl der Funktionen,
die ein Gerät bietet. Chinesen dagegen legen einzig und
allein Wert darauf, dass sie ein neueres und besser aussehendes
Modell besitzen als die Leute in ihrem Umfeld. Sie gewichten
die Vorteile eines Handys als Arbeitswerkzeug kaum, da sie
es v. a. zum Versenden und Empfangen von SMS und als Spielzeug
verwenden. Weniger als 30% der Mobiltelefone werden ausschließlich
zum Telefonieren benutzt. Nur Großbauern, Tierzüchter
und Händler in ländlichen Gebieten brauchen sie
für nichts anderes als für Geschäftszwecke.
Der große
SMS-Verkehr und der schnelle Wandel in der Handy-Mode lassen
den Mobiltelefonkonsum rasch wachsen. In China gibt es schon
mehr Handy-Benutzer als in den USA, womit es der größte
Markt der Welt ist. Gesättigt ist er noch lange nicht.
Besonders in den mittleren und kleinen Städten besteht
weiteres Wachstumspotential.
Weltweite
Marktführer wetteifern um chinesischen Markt
Im April
2003, als der Kampf gegen SARS am heftigsten tobte, stattete
Mike Zafirovski, Unternehmenschef von Motorola, China einen
Besuch ab. Nachdem der US-amerikanische Konzern in Shanghai
bereits ein Beschaffungszentrum und ein Hauptquartier für
die Region Asien-Pazifik errichtet hat, unterzeichnete er
einen Vertrag über Investitionen von 90 Mio. US-Dollar für
den Aufbau eines Forschungs- und Entwicklungszentrums in Beijing.
Motorola
besitzt einen großen Anteil am chinesischen GSM-Markt
und konnte sich auch im entstehenden CDMA-Markt (Code Division
Multiple Access) eine gute Position sichern. Um seine Stellung
zu behaupten, wird das Unternehmen weiter in China investieren.
In den nächsten fünf Jahren sollen sich sein jährlicher
Produktionswert, seine Gesamtinvestitionen und der Wert seiner
Einkäufe in China auf jeweils 10 Mrd. US-Dollar belaufen.
Die Motorola Researc
h
and Development Company sieht für denselben Zeitraum 500 Mio.
US-Dollar an Ausgaben für Forschung, Entwicklung und neue
Ausrüstung vor.
Der Absatz
von Motorola (China) Electronics Co., Ltd., betrug 2002 5,7
Mrd. US-Dollar und machte ein Viertel der weltweiten Verkäufe
der Motorola Group aus. Zafirovski bezeichnete China als den
wichtigsten Markt und das bedeutendste Herstellungs- und F&E-Zentrum
seiner Firma. „Als größtes Unternehmen mit ausländischem
Kapitalanteil in China werden wir unsere Investitionszusagen
erfüllen und China zu unserer Basis machen“, fügte er hinzu.
In der
Folge erklärten fünf andere Mobiltelefonhersteller (Philips,
Ericsson, Nokia, Siemens und Samsung), dass sie ihre gesamte
Handapparatefertigung nach China verlegen wollten. Viele japanische
und südkoreanische Handyhersteller produzieren ihre Mobiltelefone
mittlerweile ebenfalls hier.
Nokia
gab Ende des letzten Jahres bekannt, dass China nach den USA
zu seinem zweitgrößten Markt aufgestiegen sei.
Für 2002 verzeichnete Nokia Verkäufe in China im Wert
von 3,4 Mrd. Euro, 0,2 Mrd. mehr als im Jahr 2000. Das finnische
Unternehmen hat 2,3 Mrd. US-Dollar in acht Jointventures investiert
und beschäftigt auf dem chinesischen Festland 5000 Personen.
Es hat auch die größte Fertigungsanlage für Mobiltelefone
in Beijing, Xingwang (International) Industrial Park genannt,
gebaut.
Dies
alles deutet darauf hin, dass China bald zum größten
Hersteller von Mobiltelefonen aufsteigen wird. Schon jetzt
wetteifern europäische, amerikanische, südkoreanische
und japanische Unternehmen um den chinesischen Markt. Motorola
lancierte die Farbbildschirmmodelle E360 und V730, mit denen
es auf das obere Marktsegment abzielt. Nokia ging mit dem
Modell 7650, das gleichzeitig als Digitalkamera verwendet
werden kann, ebenfalls in die Offensive.
Inländische
Hersteller schlagen zurück
Während
ausländische Hersteller ihre Anlagen nach China verlegen,
legt auch die inländische Produktion zu.
Vor 1998
wurde der chinesische Handapparatemarkt von ausländischen
Marken beherrscht, und 1999 stammten nur 130 000 Geräte
– 5% des Produktionssausstoßes des Landes – von einheimischen
Unternehmen. Im Jahr 2001 stieg der Anteil chinesischer Produkte
auf 12,3% und 2002 auf 30%. Heute gehören chinesische
Marken, darunter Bird aus Ningbo, TCL und Eastcom aus Hangzhou,
zu den Top Ten auf dem chinesischen Markt. Im ersten Quartal
2003 setzte TCL 1,04 Mio. Mobiltelefone ab und belegte damit
hinter Nokia und Motorola den dritten Rang. Die einheimische
Mobiltelefonindustrie fordert die Vorherrschaft der Unternehmen
mit ausländischem Kapitalanteil heraus.
Nach
Ansicht von Experten kommt es im Wettbewerb zwischen chinesischen
und ausländischen Marken auf die tatsächliche Stärke,
kulturelle Konzepte und Betriebsmodi an. Chinesische Marken
können im GSM-Bereich bestehen, weil sie die technologische
Kluft verringert und ein Verständnis für die Konsumentenpsychologie
erworben haben. Sie haben auch ihre Marketingnetzwerke verbessert
und bieten eine gute Kundenbetreuung nach dem Verkauf. Bird
z. B. startete eine starke Werbekampagne und baute ein landesweites
Verkaufs- und Service-Netzwerk auf, wodurch sich die Marke
unter die ersten fünf in China schieben konnte.
Chinas
Mobiltelefonindustrie mag rasche Fortschritte machen, doch
sie ist nicht frei von Problemen. Einige einheimische Unternehmen
trachten einzig danach, ihren Produktionsumfang auszuweiten,
und schenken der Erneuerung ihrer Forschungs- und Entwicklungsabteilungen
zu wenig Beachtung. Andere sind nicht im Besitz der Urheberrechte
für zentrale technische Bestandteile, so dass ihr Entwicklungspotential
beschränkt ist. Im Bereich der Kerntechnologien und der
Innovationsfähigkeit ist der Abstand der chinesischen
Hersteller zu ihren ausländischen Konkurrenten am größten.
Ein weiteres
Problem stellt die unstete Qualität der chinesischen
Produkte dar. Laut China International Finance Company werden
6% der chinesischen Mobiltelefone wegen Defekten zurückgesandt
– doppelt so viele wie bei den ausländischen Marken.
Ist
der Kuchen schon aufgeteilt?
Von den
125 Bietenden auf einer Auktion für Werbezeit im chinesischen
Zentralfernsehen CCTV im November 2002 waren 15 Mobiltelefonhersteller.
Bis Ende 2002 beliefen sich die Ausgaben der Handy-Industrie
für Fernsehwerbung auf 700 Mio. Yuan. Der Wettbewerb im Handy-Markt
ist voll entbrannt.
Zwar
wird die weltweite Telekomindustrie derzeit von einer Flaute
heimgesucht, doch China bleibt ein gefragter Investitionsstandort.
Die jährliche Absatzmenge beträgt 100 Mio. Geräte.
Bei einem Stückpreis von durchschnittlich 1000 Yuan ergibt
dies ein Marktvolumen von 100 Mrd. Yuan.
Laut
den neuesten Statistiken sind derzeit 20 Mio. Mobiltelefone
auf Lager, was rund einem Drittel der Binnennachfrage gleichkommt.
Jedes Jahr kommen über 200 neue Modelle auf den Markt.
Der gegenwärtige
Preiskrieg im Handymarkt, der durch Überkapazitäten
auf der Produktionsseite ausgelöst wurde, erinnert an
die Anfänge der Farbfernsehindustrie. Die Hersteller
sorgen sich über die immer kürzer werdende Beliebtheitsspanne
eines Produkts, denn um die Nachfrage zu befriedigen, müssen
die Produktzyklen stetig verkürzt werden, was niedrigere Gewinne
und höhere Kosten bedeutet.
Regierungsstatistiken
zufolge gibt es in China 37 Mobiltelefonhersteller, darunter
22 mit ausländischem Kapitalanteil. Bis Ende 2003 wird
die Produktionskapazität 180 Mio. Stück übersteigen –
fast die Hälfte aller Handys weltweit und das Dreifache
der Inlandsnachfrage. Der Mobiltelefonausstoß übersteigt
offensichtlich den Verbrauch.
Einige
Stimmen jedoch verbreiten weiterhin Optimismus. Wenn man sich
die Möglichkeiten vor Augen hält, die ein 100-Mrd.-Markt
bietet, kennt die Zuversicht keine Grenzen. Was die Inlandsnachfrage
angeht, ist der erwartete rasche Anstieg der städtischen
und ländlichen Einkommen vielversprechend. Das Bewusstsein
der Bauern für den Markt, die steigende Anzahl von Zwischenhändlern
für Landwirtschaftsprodukte und die Bedürfnisse von Wanderarbeitern
vom Land würden zusammen die Nachfrage nach Handys deutlich
steigern, sind manche überzeugt.
Wang
Bingke, stellvertretender Leiter der Abteilung für wirtschaftliche
Unternehmungen unter dem Ministerium für Informationsindustrie
(MII), verneint, dass die Mobiltelefonindustrie unter Überkapazitäten
in der Produktion leidet. Ausstoß und Absatz seien grundsätzlich
im Gleichgewicht.
Unterstützung
dafür liefert eine Umfrage von AC Nielsen zur Zuversicht der
Konsumenten. Sie zeigt, dass der Lebensstil in der Region
Asien-Pazifik durch die neueste Wirtschaftsflaute beeinflusst
wurde: Weniger Konsumenten essen auswärts oder geben
größere Beträge für Unterhaltung und Luxusgüter
aus. China jedoch war von der unstabilen Wirtschaftslage in
der Nachbarschaft nicht betroffen. 2002 stellte China 120
Mio. Mobiltelefone her, wovon 55 Mio. für den Export bestimmt
waren und 65 Mio. auf dem Inlandsmarkt abgesetzt wurden.
In der
Studie von AC Nielsen gaben 36% der Befragten in China an,
in den kommenden Monaten eine neue Digitalkamera erstehen
zu wollen, 39% hatten vor, einen Tischcomputer oder ein Notebook
zu kaufen, und 48% sagten, sie würden ihr Handy durch ein
neues Modell mit mehr Funktionen ersetzen.
Mit Blick
auf die Ungewissheit, die über der Handapparateindustrie schwebt,
glauben viele, dass sich die rasche Ausbreitung des Xiaolingtong-Systems
positiv auf die chinesischen Hersteller von Mobiltelefonen
auswirken könnte. Xiaolingtong ist ein günstiger
Funkdienst, der über das Festnetz funktioniert und die gleichen
Gebühren wie für Festnetzgespräche verlangt. Seit 1997
wurden Xiaolingtong-Netze in größeren Städten
eingerichtet. Doch erst seit diesem Jahr ist der Dienst auch
in Beijing, Shanghai und Guangzhou erhältlich.
Ende
März 2003 gab es landesweit 15 Mio. Xiaolingtong-Benutzer
in rund 400 Städten. Xiaolingtong zielt auf das
Marktsegment der Konsumenten mit mittleren und niedrigen Einkommen,
die die Hälfte der chinesischen Bevölkerung ausmachen.
Schätzungen gehen davon aus, dass Xiaolingtong
in diesem Jahr die Nachfrage nach Handapparaten um 10 Mio.
steigern wird.
Dies
wird spürbare Auswirkungen auf den Mobiltelefonmarkt haben,
denn die tiefen Xiaolingtong-Gebühren werden die anderen Mobiltelekomunternehmen
zu Preisnachlässen zwingen, was wiederum den Konsumenten
mit mittleren und tiefen Einkommen mehr Gelegenheit bieten
wird, ein Handy zu erstehen.
Was wird
die Zukunft des Mobiltelefonmarkts bringen? Mal sehen...