Tibet
geht zwischen Tradition und Modernisierung einen eigenen Weg

Zwar
liegen die Veränderungen, die Tibet seit der demokratischen
Reform 1959 erfahren hat, offen vor aller Augen, es gibt aber
immer noch nicht wenige Leute, die sich dazu unverantwortlich
oder gedankenlos äußern. Eine der gängigen
Meinungen ist z.B.: „Es ist eigentlich nicht ungewöhnlich,
dass Tradition und Moderne gleichzeitig existieren, weil dieses
Phänomen überall auf der Welt zu finden ist. Aber in
anderen Orten gibt es immer eine Hauptströmung, wobei
die Tradition allmählich zerfällt und schließlich
in der Modernisierung aufgeht. Leider ist dies in Tibet nicht
der Fall. In Tibet hängen Tradition und Moderne nicht
zusammen, sondern gehen in verschiedene Richtungen. Die beiden
sind wie zwei Welten, die miteinander kaum in Verbindung stehen.
Mit der modernen Entwicklung wird der Abstand zwischen ihnen
immer größer. Der Grund liegt darin, dass die anderen
Gesellschaften selbst über die Bedingungen und Antriebskräfte
für die Modernisierung verfügen, so dass die Koexistenz von
Tradition und Moderne nur eine vorübergehende Erscheinung
und die Modernisierung eine unaufhaltsame Tendenz ist. Genauer
gesagt, widerspiegelt die Koexistenz von Tradition und Moderne
das unterschiedliche Tempo verschiedener Teile der Gesellschaft
bei der Modernisierung, und die Gesellschaft wird schlussendlich
als Ganzes umfassend modernisiert werden. Im Gegenteil dazu
ist Tibet aus himmlischen Gründen vorbestimmt, keine
Bedingungen und Möglichkeiten für die Modernisierung
aufzuweisen. Aus diesem Grund kann die Modernisierung in Tibet
nur von äußeren Kräften angetrieben und weitergeführt
werden. Eine solche Modernisierung ist mit dem Wesen der tibetischen
Gesellschaft nicht vereinbar. Auf diese Weise ist die traditionelle
Gesellschaft Tibets nicht zu modernisieren. Da zeigt die Dualität
den Zustand der Spaltung der Zivilisation.“
Entwicklung
ist der einzige Ausweg für Tibet, und niemand hat das Recht,
sie zu stoppen. Ich habe noch nie gehört, dass ein Volk
wegen der Entwicklung und der Modernisierung seine eigenen
Traditionen verloren hat. Umgekehrt gibt es viele Beispiele
dafür, dass ein Volk erst während der Modernisierung
seine traditionelle Kultur weiterentwickelt und zur vollen
Entfaltung gebracht hat. Die oben erwähnte Ansicht möchte
ich nicht kommentieren, denn meiner Meinung nach soll man
zuerst hören, was Tibeter selbst dazu sagen.
Hier
möchte ich eine Geschichte erzählen, die ich persönlich
erlebt habe.
Das Lied
Lobgesang über den göttlichen Adler wurde vom
tibetischen Dichter Zhaxi Dawa, den ich gut kenne, geschrieben. Durch den bekannten
tibetischen Sänger Yadong ist
es sehr populär geworden. Sein Text lautet wie folgt:
Am
Ort, wo die Sonne jeden Tag hochsteigt,
fliegt
der silberfarbene Adler ins uralte Schneegebiet.
Mit
Leuten aus allen Himmelsrichtungen
kommen
Hostessen behend und anmutig wie Nymphen.
Den
Weg, den unsere Vorfahren ein Leben lang nicht zu Ende gegangen
sind,
Ah,
göttlicher Adler –
Du
hast ihn schon im Nu hinter dir gebracht.
Oh,
verschwommene Berge,
Oh,
weite Wege,
Wer
kreist frei zwischen Himmel und Erde?
Ah,
göttlicher Adler, du hast meine Sehnsucht in die Ferne
entführt.
So
fliegt mein Herzchen mit bis in die weiteste Ferne,
Um
die Lichter der Städte und das blaue Meer zu sehen.
Als
mein Traum Wirklichkeit wird, indem ich in die große
Kabine eintrete,
Blicke
ich auf die Welt hinab, heiße Tränen schießen
mir in die Augen.
Die
Schritte der Vätergeneration bei der Pilgerfahrt klingen
noch in meinen Ohren.
Ah,
göttlicher Adler –
Ich
habe vom Gestern Abschied genommen und das Licht des Lebens
gefunden.
Oh,
streichelnder Wind,
Oh,
feiner Sprühregen,
Der
Sohn des blauen Himmels ist wieder in die Heimat zurückgekehrt.
Ah,
göttlicher Adler, durch dich ist der Traum meiner Kindheit
in Erfüllung gegangen.
Am Anfang
schenkte ich diesem Lied keine große Aufmerksamkeit,
weil es sich um ein modernes Verkehrsmittel handelt und es
scheint, dass man lieber traditionelle tibetische Lieder hören
möchte. Später stellte ich fest, dass es ein Lieblingslied
vieler meiner tibetischen Freunde ist. Besonders auf meiner
letzten Tibet-Reise sangen einmal alle im Bus unwillkürlich
mit, als sie aus den Lautsprechern hörten: „Oh, verschwommene
Berge, oh, weite Wege, wer kreist willkürlich zwischen Himmel
und Erde. Ah, göttlicher Adler, du hast meine Sehnsucht
in die Ferne entführt. So fliegt mein Herzchen mit bis in
die weiteste Ferne, um die Lichter der Städte und das
blaue Meer zu sehen“. Gesang aus vollem Herzen ertönte
über der gewundenen Landstraße des Plateaus und hallte
in den schaumgekrönten Wellen des Yarlunzangbo-Flusses
wider. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass die Tibeter
von den Lichtern der Städte träumen, während
sich viele Leute, die in der modernen Zivilisation leben,
nach der Naturlandschaft auf dem Tibet-Plateau sehnen. Niemand
hat das Recht, diese Sehnsucht aus ganzem Herzen zu unterdrücken.
Jedesmal, wenn ich „Ah, göttlicher Adler, durch dich
ist der Traum meiner Kindheit in Erfüllung gegangen“ höre,
habe ich das gleiche Gefühl.
Später
erzählte mir ein Kollege, dass das Lied „Lobgesang über
den göttlichen Adler“ speziell für Zhaxi Cering, einen
der ersten Piloten Tibets, geschrieben wurde. 1954 wurde Zhaxi
Cering in einer armen Bauernfamilie des Dorfes Toba, Kreis
Ganze, geboren. Er war das neunte Kind und hatte sechs Brüder
und zwei Schwestern. Vor der friedlichen Befreiung mussten
seine Eltern das ganze Jahr über für ihren Lehnsherr wie Tiere
arbeiten, um die große Familie zu ernähren. Infolge
der Armut und der schlechten medizinischen Betreuung starben
alle sechs Brüder Zhaxi Cerings einen frühen Tod. Nach seiner
Geburt baten seine Eltern einen Lebenden Buddha, ihm den Namen
„Zhaxi Cering“, was Glück und Langlebigkeit bedeutet, zu geben.
Ihr einziger Wunsch war es, dass der Buddha das Leben ihres
Sohns segnen würde. Zhaxi Cering meint heute allerdings: „Da
ich in einer neuen Epoche groß wurde, konnte ich gesund
aufwachsen und Pilot werden“. Für seine Landsleute ist er
ein Glück verheißender Vogel, nämlich ein göttlicher
Adler.
Das Lied
Lobgesang über den göttlichen Adler klingt immer
wieder in meinen Ohren. Für Tibeter ist der göttliche
Adler der heiligste Vogel. Sie vergleichen Flugzeuge mit dem
göttlichen Adler, weil Flugzeuge ihr Leben grundlegend
verändert haben. Immer mehr Experten und Touristen fliegen
nach Tibet, und die Tibeter leben dadurch nicht mehr wie früher
infolge schlechter Verkehrsbedingungen in einer isolierten
Welt. Zwar ist es nicht zu vermeiden, dass die Verbindungen
mit der Außenwelt mehr oder weniger negative Einflüsse
auf die alte Zivilisation Tibets ausüben, aber wer kann den
Herzenswunsch der Tibeter nach Modernisierung übergehen? Ist
die Meinung, die manche Leute im Westen vertreten, nicht unmenschlich,
dass Tibet nur ein lebendes Fossil der traditionellen Kultur
sein soll?
Blickt man von der
Gegenwart Tibets in die Zukunft, kann man zum Schluss kommen,
dass Tibet zwischen Tradition und Modernisierung einen eigenen
Weg geht und bestimmt eine glänzende Zukunft hat.