Juni 2003
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Wu Jinglian, eine unüberhörare Stimme

Von Xi Wen

Wu Jinglian stand wieder im Brennpunkt des allgemeinen Interesses. Auf der ersten Tagung des X. Nationalen Volkskongresses, die vor kurzem in Beijing stattfand, äußerte er die Ansicht, dass der chinesische Aktienmarkt in diesem Jahr keine gute Aussichten habe.

Zwar wurde ihm sofort von Experten, Börsenanalysten und den Leitern der Wertpapierbörsen widersprochen, doch prompt erlebten die chinesischen Börsen bei der nächsten Geschäftseröffnung am 10. März einen Einbruch von mehr als 20 Punkten.

Das war das dritte Mal, dass ein Börsensturz auf Wu Jinglians Voraussage folgte. Das erste Mal war Mitte Februar 2001. Damals kritisierte er die aktuelle Situation auf dem chinesischen Aktienmarkt heftig. Das zweite Mal war im vorigen Jahr. Er ermahnte die Börsianer trotz des Höhenflugs der Börse: „Es wird regnen. Vergessen Sie nicht, einen Schirm mitzunehmen.“ Leider wurde die Voraussage wahr.

Manche beklagen sich darüber, dass er in einer unpassenden Situation unpassende Worte geäußert habe. Manche halten ihn für fachlich unqualifiziert und radikal. Andere vermuten, dass er Hintergedanken habe oder von anderen ausgenützt werde. Aber seinen eigenen Standpunkt drückt Wu mit den folgenden Worten aus: „Die Aufgabe der Ökomonen ist es, der Gerechtigkeit und dem Schicksal der Menschen in der Gesellschaft große Aufmerksamkeit zu schenken.“

In Chinas Wirtschaftskreisen wurde Wu als „Mensch mit einem guten Gewissen“ bezeichnet. Im Jahr 2000 wurde in einer Zeitschrift ein Bericht veröffentlicht, der Kursmanipulationen ans Tageslicht brachte. In der Folge bezichtigten zehn Fondsfirmen die Zeitschrift der üblen Nachrede. Fast alle bekannten Experten schwiegen, aber Wu äußerte sich öffentlich und unterstützte die Zeitschrift.

Wu warnte die Börsianer vor Spekulationsblasen auf dem Börsenmarkt und appellierte an die zuständigen Stellen, die Börsenaufsicht zu verstärken. Er trat dafür ein, dass Bestimmungen, welche die Entwicklung der Privatbetriebe einschränken, gänzlich beseitigt und Maßnahmen für die Förderung privater Kapitalanlagen schneller in die Tat umgesetzt werden. Was das Börsenfieber betrifft, sagte Wu: „Das ist unordentlich und zeigt, dass wir den einfachen Leuten keine guten Möglichkeiten für Vermögensanlagen geboten haben.“

Manche sagen: „Wus Worte richten sich an die Führung, doch er steht mitten in den Volksmassen.“ 2001 und 2002 wurde der über 70-Jährige zweimal vom Zentralfernsehen mit dem Titel „Person des Jahres der chinesischen Wirtschaft“ ausgezeichnet, weil er ein reiner und selbstloser Mensch sei, der sich um die Angelegenheiten der einfachen Chinesen kümmere und sich voll der Verantwortung stelle.

Als Ökonome legte Wu Jinglian eine beinahe prophetische Gabe an den Tag. Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre stellte er eine Theorie über die Marktwirtschaft auf und verfasste im Jahre 1989 ein Buch mit dem Titel „Über das Konkurrenz-Marktssystem“. Das Buch wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 1991 herausgegeben. Bei der Inspektionsreise in den Süden Chinas 1992 hielt Deng Xiaoping, Chefarchitekt der Reform- und Öffnungspolitik Chinas, eine Rede, die dieser neuen Theorie Anerkennung zollte. Innerhalb eines Monats wurden 7000 Exemplare der ersten Ausgabe verkauft. Das Buch gewann den chinesischen Bücherpreis. 1998 wurde es als „eines der zehn ökonomischen Werke, die den Wirtschaftsaufbau Chinas stark beeinflusst haben“ bezeichnet. Auf dem XIV. Parteitag wurde im Schlussdokument die Marktwirtschaft als Ziel der Reformen festgehalten. Der Aufbau des sozialistischen Marktsystems als grundlegendes Ziel der Reform ist heutzutage zu einem Leitgedanken der chinesischen Wirtschaftsreform geworden. Und Wu wird als große treibende Kraft für die Förderung der chinesischen Marktwirtschaft angesehen.

Man kann sich schwer vorstellen, dass Wu, dieser kleine, schaute Mann, einen so großen Einfluss auf die chinesische Wirtschaftsentwicklung ausgeübt hat. Vor der Gründung des Neuen China war Wus Mutter Inhaberin eines großen Zeitungsverlags. Nach der Befreiung gab sie freiwillig ihr Vermögen an die Regierung ab. Nach den entsprechenden Bestimmungen könnte es Wu zurückerstattet werden. Doch er sagt: „Wir treten für die Reformen ein. Wenn wir nach persönlichem Gewinn streben, wie können die Reformen erfolgreich sein?“

Im Alltagsleben ist Wu sehr gewissenhaft. Er ist immer ordentlich gekleidet und korrekt frisiert. Außerdem ist er zugänglich und freundlich. Beim Interview berührt unser Gespräch viele Themen, von Staatsangelegenheiten über klassische Musik bis zur Malerei. Er spricht auch mit großem Gefallen über neue Dinge wie Computer und Digitalkameras. Das ist sehr selten unter den Menschen in seinem Alter.

Wu Jinglian hat zwei Vorlieben: klassische Musik hören und Bücher lesen. Vor allem gefallen ihm die Klavier-Sonaten von Mozart. Er sagt: „Die Ökonomen müssen bei ihrer Arbeit oft über etwas debattieren. In dieser Situation sind sie sehr angespannt. Die Musik von Mozart kann sie beruhigen. Das kommt ihrer Arbeit zugute.“

Wu Jinglian arbeitet jeden Tag bis spät in die Nacht. Als bekannter Ökonome spielt er eine bedeutende Rolle nicht nur für die Festlegung der Wirtschaftspolitik, sondern auch für die Bewirtschaftung der Betriebe und die Gestaltung des Alltagslebens der einfachen Chinesen. Dazu sagt Wu Jinglian sehr bescheiden: „Ich habe so viele dringende Geschäfte zu erledigen. Leider reichen meine Kräfte – nicht die körperlichen Kräfte, sondern mein Denkvermögen – nicht aus, um all das zu verwirklichen.“

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