Die
Einzelkinder
sind
erwachsen geworden
Von
Zhang Hua



Als
Wu Huimin vor 24 Jahren wie von der staatlichen Familienplanung
gefordert ihre Tochter Zhou Wenchao als Einzelkind in die
Welt setzte, wusste sie nicht, was es für ihr Leben bedeuten
würde.
Wie
die Eltern der Einzelkinder der ersten Generation kümmerte
sich Wu mit größter Sorgfalt um das jüngste Mitglied
der Familie. Um die geistige Entwicklung ihrer Tochter zu
fördern, kaufte Frau Wu mit ihrem bescheidenen Gehalt
Kassetten zum Englischlernen, Vokabelkarten zum Chinesischlernen
und eine Anthologie der Gedichte der Tang-Dynastie (618 –
907) zum Aufsagen. Einige Jahre später stellte sie mit
Enttäuschung fest, dass das von ihr erzogene Kind im
Umgang mit den Mitmenschen egoistisch und anmaßend war.
Wenn sie Besuch von anderen Kindern bekam, passte ihre Tochter
eifersüchtig darauf auf, dass diese ihr Spielzeug nicht berührten.
Wenn die anderen Kinder es trotzdem versuchten, riss sie mit
Gewalt an sich. Über dieses Verhalten war die Mutter
verblüfft.
Das
Einzelkind schien bemerkt zu haben, dass es, anders als die
Generation seiner Eltern, keine Geschwister um sich hatte.
Es fühlte sich wohl, weil jeder seiner Wünsche in Erfüllung
ging. Zhou Wenchao und andere Einzelkinder des Landes bilden
eine besondere soziale Gruppe, die es in China nie zuvor gegeben
hat und der Soziologen und Pädagogen im In- und Ausland
große Aufmerksamkeit schenken.
Es
macht vielen Eltern zu schaffen, dass ihre Einzelkinder eigensinnig
und unwillig sind, mit anderen zu teilen oder zusammenzuarbeiten.
Diesen Problemen widmen sich nicht nur Soziologen, Pädagogen
und Psychologen, sondern auch die Medien. Ihr Interesse gilt
der Frage, welchen Einfluss die Generation der Einzelkinder
auf China und sogar auf die Welt ausüben wird.
1986
wurde eine Aufsehen erregende Reportage unter dem Titel Kleine
Kaiser in China veröffentlicht, die eine ernste Mahnung
an die Gesellschaft richtete. Darin hieß es: „In den 80er
Jahren ist China mit einem neuen Problem konfrontiert. Es
zeigt sich u. a. darin, dass fast jede Familie ein Schoßkind
hat, also ein Kind, das von den Großeltern väterlicher-
und mütterlicherseits und den Eltern betreut wird. Solche Kinder leiden nahezu ausnahmslos unter der Verwöhnung
durch die Großeltern väterlicher- und mütterlicherseits
und die eigenen Eltern, also dem sog. ‚4-2-1-Komplex‘: Sie verhalten sich ihren Eltern gegenüber
gebieterisch. In unmittelbarer Zukunft wird fast jede Familie
einen kleinen Kaiser haben.“
Stärken der
Einzelkinder
In
der Zwischenzeit sind 24 Jahre vergangen, seit das erste Einzelkind
im Zusammenhang mit der Familienplanung auf die Welt kam.
Heute arbeitet Zhou Wenchao als Redakteurin bei einer Zeitung.
Das einstmals eigensinnige Einzelkind hat heute lebhafte Charakterzüge,
ist vielseitig begabt und denkt modern. Sie ist schon längst
von ihren Kollegen akzeptiert. Insbesondere ihre geschickte
Bedienung des Computers ruft die Bewunderung ihrer älteren
Kollegen hervor. In dieser Hinsicht konnten ihre Eltern aufatmen.
Dr.
Feng Xiaotian vom Soziologischen Seminar der Universität
Nanjing kam nach langjährigen Untersuchungen zum Thema
Einzelkinder zum Schluss, dass viele inzwischen erwachsene
Einzelkinder, entgegen den Befürchtungen vor 20 Jahren, Nicht-Einzelkindern
im gesellschaftlichen Umgang in nichts nachstehen. Im Gegenteil,
erstere sind auf diesem Gebiet sogar besser. Sie können
in einer neuen Situation schneller neue Freundschaften schließen.
Dr. Feng bemerkt dazu: „Die Voraussage, dass fast jede Familie
einen kleinen Kaiser haben würde, hat sich nicht bestätigt.“
Eine
ähnliche Feststellung machte Sun Yunxiao vom chinesischen
Forschungszentrum für Kinder und Jugendliche, die lange Zeit
zusammen mit Experten des Psychologischen Seminars der Pädagogischen
Universität Beijing zum Thema Einzelkinder gearbeitet
hat. Über die Einzelkinder sagt sie: „Es handelt sich
um eine vorzügliche Generation, obwohl sie bestimmte Schwächen
hat.“
Durch
zahlreiche vergleichende Untersuchungen und eingehende Analysen
stellten Sun und andere Experten fest, dass die chinesischen
Jugendlichen von heute im Vergleich zu Gleichaltrigen in der
Vergangenheit eine bessere menschliche Qualität haben.
Vor dem Hintergrund einer gesellschaftlichen Lockerung legen
sie großen Wert auf die eigene persönliche Entwicklung,
sind vielseitig entwickelt und unternehmungslustig, zeigen
Engagement und sind sich ihrer Rechte bewusst. Sie haben ein
starkes Umweltbewusstsein und achten im gesellschaftlichen
Umgang auf Spielregeln. Die Jugendlichen im Zeitalter des
Internets zeichnen sich außerdem durch großen
Lerneifer aus.
Dabei
darf allerdings ein wichtiger Faktor nicht übersehen werden,
nämlich die grundlegende gesellschaftliche Veränderung,
mit der die Einzelkinder groß geworden sind. Nicht nur
boomte in den letzten 20 Jahren die chinesische Wirtschaft,
sondern zur gleichen Zeit fanden auch eine weit reichende
gedankliche Befreiung und gesellschaftliche Fortschritte statt.
Dies führte dazu, dass die Einzelkinder bereits bei ihrer
Geburt deutlich bessere gesellschaftliche Bedingungen für
ihr Aufwachsen vorfinden als ihre Eltern.
Schwächen
der Einzelkinder
Es
sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht jedes Einzelkind
eine beruhigende Entwicklung durchgemacht hat. Man macht sich
Sorgen darum, dass Einzelkinder Schwächen insbesondere
im Verantwortungsbewusstsein und in der Selbstständigkeit
aufweisen.
Ein
Schüler einer Grundschule im Beijinger Bezirk Haidian z. B.
wusste nicht einmal, wie er mit dem Besen den Boden kehren
sollte, als ihn der Lehrer dazu aufforderte. Als er ausgelacht
wurde, beschwerte er sich gekränkt, dass ihm seine Eltern
das nicht beigebracht hätten.
Es
liegt auf der Hand, dass die Generation der Einzelkinder eine
verwöhnte Generation ist, was jedoch nicht an ihnen selbst
liegt. Dies hängt eng mit der Art und Weise zusammen,
wie sie von ihren Eltern erzogen wurden. Dazu bemerkt Sun:
„Die Eltern in China sind sich bei der Erziehung überraschend
einig, als ob sie sich abgesprochen hätten. Sie pflegen
ihren Kindern zu sagen: ‚Du brauchst nur beim Lernen in der
Schule gut zu sein. Um alles andere brauchst du dich nicht
zu kümmern.“
Der
Grund, warum die Eltern so großen Wert auf die Schulleistung
legen, liegt in Chinas Engpässen in der Hochschulausbildung.
China liegt im Vergleich zu den entwickelten Ländern,
in denen die Rate der Jugendlichen, die nach dem Abitur ein
Hochschulstudium aufnehmen können, über 50%, in manchen
Ländern sogar 70–80% beträgt, weit zurück. Das chinesische
Bildungswesen kann das Bedürfnis der Jugendlichen nach Ausbildung
nicht befriedigen. Damit die Kinder nicht bereits an der Startlinie
als Verlierer dastehen, setzen die Eltern sie notgedrungen
bei der Vorbereitung auf ein Hochschulstudium unter Druck,
mit der Folge, dass das Aneignen von Wissen über die ethische
Erziehung gestellt wird.
Aus einem Untersuchungsbericht über den
Zustand der chinesischen Kinder geht hervor, dass die Eltern
in erster Linie auf das Lernen achten, an zweiter Stelle auf
die Gesundheit, und erst danach kommt die ethische und moralische
Erziehung. Das stellt zugleich eine Besonderheit im
chinesischen Bildungswesen dar. Die vorher genannten Schwächen
der Einzelkinder sind auch in diesem Zusammenhang zu verstehen.
Eine wichtige Ursache für die Einstellung
der Eltern sind nach der Ansicht von Soziologen ihre Erlebnisse
in der Kulturrevolution (1966–1976). Während dieses verhängnisvollen
Jahrzehnts, als sie Jugendliche waren, mussten sie die Schule
verlassen und durften ihrem Lerneifer nicht folgen. Seither
leiden sie unter diesem traumatischen Erlebnis. Um dies psychisch
zu kompensieren, setzen sie ihre Hoffnung in ihre Kinder.
Sie halten den Erwerb von Wissen für außerordentlich
wichtig.
Man
hat begonnen, über die grundlegende Aufgabe der Erziehung
zu diskutieren, und stellt sich die Frage, ob es dabei in
erster Linie um die Vermittlung von Wissen an die Kinder oder
um die Erziehung von Kindern zu richtigen Menschen geht. Experten,
Gelehrte und auch die Eltern finden, dass die Heranbildung
guter Charakterzüge die erstrangige Aufgabe der Erziehung
darstellt.
Lösungsversuche
Familie,
Gesellschaft und auch die Behörden suchen aktiv nach
Wegen, um den Schwächen der Einzelkinder zu begegnen.
Bereits
1995 gründeten drei kleine Mädchen und ihre Eltern einen
Club mit dem Namen Xingxinghe-Verein der Fröhlichkeit,
der weit herum Beachtung fand. Die Eltern hatten erkannt,
dass sich Mut, Selbstständigkeit, die Bereitschaft zur
Zusammenarbeit sowie Disziplin nur in Gruppen herausformen
können. So schlossen sich die drei Familien zu einer
großen Familie zusammen. Sie bringen ihre Kinder zusammen
und führen sie in Museen, botanischen Gärten und aufs
Land, damit sie die landwirtschaftliche Arbeit kennen lernen.
Dieser Verein wollte in der Natur und in der Gesellschaft
die schöpferische Kraft und die Phantasie der Kinder
fördern und schlug einen guten Weg ein, durch den die
Kinder von einer geschlossenen Familie in die Gesellschaft,
vom Alleinsein zur Gruppenarbeit geführt werden. Damit werden
günstige Voraussetzungen für eine gesunde persönliche
Entwicklung geschaffen. Die Aktivitäten dieses Vereins
fanden schnell ein großes Echo bei den Eltern und breite
Anerkennung in der Gesellschaft. Immer mehr Kinder treten
in den Verein ein.
Das
chinesische Forschungszentrum für Kinder und Jugendliche untersuchte
die Aktivitäten des Vereins und entwarf zwei Modelle:
das Bauernhof-Modell und das Camping-Modell. Durch die Aktivitäten
dort können die Kinder mehr Fröhlichkeit in ihrem
Großwerden erleben und sich korrekte Umgangsformen,
Pflichtbewusstsein und Selbstständigkeit aneignen. Im
Dezember 2002 empfahl das Landesarbeitskomitee der Chinesischen
Pioniere dem ganzen Land die Modelle des Vereins.
1999
wurde ein grundlegender Wandel im chinesischen Bildungswesen
eingeleitet. Die auf die Hochschulaufnahmeprüfung ausgerichtete
Schulbildung wurde durch das Ziel ersetzt, die ganzheitliche
Entwicklung der Schüler zu fördern. Es war ein Zeichen
dafür, dass das chinesische Bildungswesen angefangen hat,
sich rationell zu entwickeln. In diesem Jahr erließ
die chinesische Regierung den Beschluss zur Vertiefung
der Reform des Bildungswesens und zur Verbreitung der ganzheitlichen
Entwicklung. Gemäß diesem Beschluss soll die
Schule nicht nur den Wissenserwerb sicherstellen, vielmehr
soll sie auch der ethischen, sportlichen, musikalischen und
künstlerischen sowie der technischen Ausbildung größere
Aufmerksamkeit schenken, wobei viel Wert auf den Praxisbezug
gelegt wird. Dieser Beschluss wurde von der Mehrheit der Gesellschaft
begrüßt, denn er befreit die Schüler von einer Übermenge
an Hausaufgaben und erleichtert ihren Schulalltag.
Das
Konzept der ganzheitlichen Entwicklung wirkt sich positiv
auf die gesunde Entwicklung der Schüler aus. Landesweit wurden
in den Schulen verschiedene Arbeitsgruppen gegründet. Die
Schüler erwerben außerhalb des Elternhauses neues Wissen,
das sie sonst nicht im Unterricht lernen könnten. Dadurch
werden ihre Kreativität und ihre schöpferischen
Fähigkeiten gefördert.
Auswertung nützlicher
Erfahrungen
Die durch die Politik der Familienplanung
entstandene Generation der Einzelkinder hat ihre Besonderheiten.
Die Pädagogen und Erziehungswissenschaftler stellen Überlegungen
über das traditionelle Bildungskonzept und die traditionellen
Bildungsmethoden an. Sie sind der Meinung, dass sie von westlichen
Bildungskonzepten viel zu lernen haben. Prof. Chen Huichang
vom Institut für Erziehungspsychologie der Pädagogischen
Universität Beijing hat aufgrund seiner Forschungsaufenthalte
in westlichen Ländern bestimmte Konzepte entwickelt.
Er weist darauf hin, dass die Eltern in China viel zu großen
Wert auf konkretes Wissen legen. Sie fordern von den Kindern,
Gedichte der Tang-Dynastie auswendig zu lernen, Englisch zu
sprechen oder viele chinesische Schriftzeichen kennen zu müssen.
In westlichen Erziehungsmodellen dagegen nimmt nach Prof.
Chen die Schulleistung nicht den zentralen Platz ein. Die
Kinder würden von klein auf demokratisch erzogen. Kinder und
Eltern seien bei Entscheidungen gleichberechtigt, indem die
Eltern oft in einem beratenden Ton mit ihren Kindern sprächen
und sie um ihre Meinung fragten. Damit werde die Selbstständigkeit
der Kinder gefördert. Man versuche, den Kindern
verschiedene Reize zu geben, damit sie sich ganzheitlich entwickeln.
Gerade in diesem Punkt bestehe die Unzulänglichkeit chinesischer
Eltern bei der Erziehung. Um die Defizite der chinesischen
Eltern bei der Erziehung zu beheben, hat Prof. Chen Nachhilfeschulen
für Eltern in mehreren Städten gegründet.
Seit
2000 beschäftigt sich Prof. Chen mit dem Forschungsprojekt
Soziale Strategien von kleinen Kindern. Das Ziel dieses
Projekts ist es, die soziale Kompetenz kleiner Kinder heranzubilden.
Unter Heranziehung ausländischer Materialien und Erfahrungen
wird das Projekt in verschiedenen chinesischen Kindergärten
durchgeführt, wobei den Kindern konkrete Vorgehensweisen beigebracht
werden – z. B., wie man mit anderen Kindern zusammen spielt
und aktiv mit anderen zusammenarbeitet oder wie man sich schützt.
Durch dieses Projekt sollen die Kinder vor allem lernen, wie
man Konflikte im gesellschaftlichen Umgang löst.
Die
erste Generation der Einzelkinder ist bereits ins Berufsleben
eingetreten. Sie hat erheblich dazu beigetragen, dass die
chinesischen Eltern reifer werden und das chinesische Erziehungswesen
größere Fortschritte macht.