Dezember 2003
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Alte Wohnhöfe, neues Wohnviertel in Nanchizi

Von Zhan Ni

Als Zhang Fenghe wieder vor der Reihe neulich umgebauter Siheyuan (ein Siheyuan ist ein auf allen vier Seiten von ebenerdigen Häusern umgebener viereckiger Wohnhof) an der Nanchizi-Straße östlich des Tian’anmen-Platzes stand, legte sich eine Mischung aus Sehnsucht und Reue auf sein Gesicht.

47 Jahre lang lebte er in einem Siheyuan aus dunklen Backsteinen und grauen Dachziegeln. Zum Schutz der alten Bauwerke beschloss die Beijinger Stadtregierung vor einem Jahr, die Nanchizi-Straße, die auf eine Geschichte von einigen hundert Jahren zurückblicken kann, zu restaurieren. Da Zhang Fenghe einige Maßnahmen der Stadtregierung für die Umsiedlung nicht akzeptieren konnte, zog seine Familie ins Quartier Di’anmen um, das ein gutes Stück vom Tian’anmen (dem Tor des Himmlischen Friedens) entfernt liegt. Dennoch sind die Alltagsszenen im alten Siheyuan und die besondere kulturelle Atmosphäre der ehemaligen Kaiserstadt tief in seiner Erinnerung geblieben.

Nanchizi, wo die Familie von Zhang Fenghe wohnte, liegt südöstlich des Kaiserpalastes und war in der Ming- (1368–1644) und der Qing-Dynastie (1644–1911) ein Bestandteil der Kaiserstadt. In den Häusern hier waren in der Ming-Dynastie Angehörige des Hofs, die für das Leben der kaiserlichen Familie und die alltäglichen Angelegenheiten des Kaisers zuständig waren, einquartiert. In der Qing-Dynastie entwickelte sich Nanchizi allmählich zum Lagerviertel der Behörde für innere Angelegenheiten. Ortsnamen wie Ciqiku (Depot der Porzellanwaren) und Denglong (Laternen)-Gasse sind historisch überliefert. In der Zeit der Republik China (1912–1949) wurde das Straßenviertel von Familien bewohnt, aber nicht von gewöhnlichen. „Die meisten waren Nachkommen der kaiserlichen Familien der Ming- und Qing-Dynastie, gesellschaftliche Prominenzen und wichtige Regierungsbeamte. In neuerer Zeit wohnten hier der General Luo Ruiqing und der General Zhang Yunyi“, sagt Zhang Fenghe stolz. Wie seine welterfahrenen ehemaligen Nachbarn ist Zhang Fenghe sehr stolz, dass er im gleichen Straßenviertel gewohnt hat wie so viele wichtige Persönlichkeiten.

In den letzten Jahren hat die dicke Mauer an der Einmündung der Nanchizi-Straße in die Chang’an-Straße das Wohnviertel nicht nur vom lebhaften Verkehr abgeschirmt, sondern auch seine Ruhe bewahrt und das Erscheinungsbild und die Atmosphäre eines traditionellen Beijinger Wohnviertels erhalten. Die ordentlich aneinander gereihten Siheyuan heben die noble und glanzvolle Verbotene Stadt hervor.

Zhang Fenghe wohnte von klein auf in einem viereckigen Wohnhof, was er dem Reichtum der Familien seiner Eltern zu verdanken hat. Seine Mutter stammte aus einer angesehenen Familie in Nordostchina, die mit dem berühmten Zhang Xueliang  enge Freundschaft pflegte. Zhang Fenghes Vater war der Hauptverwalter der Verlagsbuchhandlung auf dem Dong’an-Markt an der Wangfujing-Straße, der Geschäftsstraße Nr. 1 in China. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass seine Familie ein Siheyuan mit einem Dutzend Häusern bewohnte. „Meine Familie hatte drei Häuser auf der nördlichen Seite, je ein kleines Zimmer an den beiden Seiten, und je drei Häuser auf der östlichen und westlichen Seite. Außerdem gab es weitere Gebäude für die Küche, das Esszimmer und Toiletten. Der mit Steinmetzarbeiten verzierte und bemalte Torbogen und die Abschirmwand dahinter wirkten imposant“, sagt Zhang. Mit ihnen zusammen wohnten die Familien seiner zwei Onkel. Am Wochenende ging sein Vater jeweils in den kaiserlichen Garten (heute der Zhongshan-Park), um Gymnastik zu machen, dann las er am Stadtgraben stehend laut vor. Die Kinder folgten ihm hüpfend. Die Verbotene Stadt, die Ecktürme, den schimmernden Changpu-Fluss am Weg und den Pudu-Tempel gegenüber dem Haupteingang seines Wohnhofs wird er nie vergessen.

Die Zeiten aber ändern sich. Die Ruhe im Wohnhof der Familie Zhang wurde gestört. Die Familien seiner Onkel erhielten neue Wohnungen zugewiesen und zogen aus dem Siheyuan aus. Wegen des Bevölkerungsanstiegs und weil der Wohnungsbau damit nicht mithalten konnte, requirierte die Regierung viele Häuser der Familie Zhang, um sie an Familien abzugeben, die kein Dach über dem Kopf hatten. So blieben der Familie Zhang nur zwei Hauptwohnhäuser, also zwei nach Süden gerichtete Häuser im Hof übrig. Die mehr als zehn Familien machten den Hof besonders eng und gedrängt. 1976 erschütterte das starke Erdbeben in Tangshan, 200 km nördlich von Beijing, auch die Hauptstadt, und auf dem freien Platz in Zhangs Wohnhof wurden kreuz und quer einige Holzbuden gebaut. Die Wohnanlage der Zhangs war nach einem Brand im Jahr 1917 wieder aufgebaut worden, so dass die Qualität der Häuser nicht mehr so gut war wie früher. Das alte Siheyuan nahm an der dichten Besiedlung Schaden und wirkte immer verworrener. Die vielen Familien mussten sich eine Toilette und einen Wasserhahn teilen, außerdem kochten sie auf Brikettöfen, so dass immer Brandgefahr bestand. Eine Verbesserung der Wohnqualität war äußerst dringend.

Nach dem Umbau der Nanchizi-Straße im August 2002 fuhr Zhang Fenghe jede Woche mit dem Fahrrad hin. Obwohl seine Familie Nanchizi bereits verlassen hatte, fühlte er sich dem Ort untrennbar verbunden. Da er den alten Wohnhof in jeder Einzelheit kannte, sah er sich die Bauausführung jedesmal genau an. Er sorgte sich besonders um die Restaurierung des Haupttors des Siheyuan. Seiner Ansicht nach hat das Haupttor eine besondere symbolische Bedeutung. Es spiegelt den Status, die Stellung, den Geschmack und den Ehrgeiz des Besitzers wider. Seine Struktur, seine Türhöhe, seine Ausmaße, seine Propotion und seine Stufen müssen aufeinander abgestimmt sein. Mit dem renovierten Haupttoran der Putuosi Houxiang Nr. 10, war er sehr zufrieden: „Das ist sehr angemessen. Der alte Stil des Siheyuan ist zum großen Teil erhalten. Das mit Eisenblechen beschlagene rote Tor, die bronzenen Torringe, die Stufen und der bemalte Torbogen strahlen noch den Reiz der alten Beijinger Wohnhöfe aus.“ Nur die Steintrommeln vor dem Haupttor, wo er und seine Spielkameraden in der Kindheit Verstecken gespielt, Geschichten erzählt und Spaß getrieben hatten, waren verschwunden, weswegen er ein Gefühl des Verlusts nicht vermeiden konnte.

Ein Stangengerüst zum Ziehen von Kletterpflanzen, zwei Blumenbeete, drei Steintische und zwölf Steinhocker schmücken heute den Wohnhof. Die rot und grün bemalten Fenstergitter und die braunen Fenster und Türen passen gut zu den grauen Wänden und Dachziegeln und den dunklen Backsteinen. In die Freude, dies alles wiederzusehen, mischt sich bei Zhang Fenghe auch die Reue, den Siheyuan verlassen zu haben.

Cheng Deqing, mit Kosenamen „Dezi“, wohnte im gleichen Siheyuan und war einer von Zhang Fenghes Spielkameraden. Er gehörte zu einer der vielen Familien, die in den Wohnhof zogen. Dezi ist nach dem Umbau in den Siheyuan zurückgekehrt und wohnt jetzt wieder dort. „Nur hier bin ich zu Hause. Selbst die Luft ist hier anders.“ Dezi hat gerade seinen lange erwarteten Hausschlüssel bekommen. Als er sah, dass der einst gedrängte und schäbige Wohnhof in ein ordentliches und gemütliches Siheyuan umgewandelt wurde, konnte er seine Freude nicht verbergen.

Dezis Erinnerung an das frühere Nanchizi ist immer noch frisch.

Damals musste seine zehnköpfige Familie aus vier Generationen mit knapp 40 m2 Wohnraum auskommen. Wenn es regnete, musste Dezi sofort nach Hause eilen, denn das Hausdach musste mit Dachpappe bedeckt und das aufgestaute Wasser im Hof weggeschöpft werden. Dezi bemerkt sarkastisch: „Ich habe jahrzehntelang in Nanchizi gewohnt und bin nun ein hervorragender Handwerker.“

Nach der Meinung von Dezi vereinen sich im umgebauten Wohnviertel in Nanchizi Tradition und Moderne. Sein Haus ist an die Wasserversorgung und das Abwasser angeschlossen, es gibt eine Heizung, Erdgas und neue Stromleitungen sowie eine Küche und eine Toilette. Sogar ein Breitband-Internet-Anschluss fehlt nicht. Früher konnte Dezi in der Gasse keinen Parkplatz für sein Auto finden, heute steht eine öffentliche Garage mit 160 Parkplätzen unter dem Pudu-Tempel zur Verfügung. Trotzdem ist Dezi in einigen Punkten mit der Hauskonstruktion unzufrieden. Er findet die Küche und die Toilette zu klein, und im möblierten Wohnzimmer kann er kaum drei Gäste bewirten. „Es sieht ganz danach aus, dass ich meine Gäste im Hof empfangen muss.“

Dezi ist froh, dass er nicht wie Zhang Fenghe umgezogen ist. „Als ich hörte, dass Nanchizi umgebaut wurde, sprach ich mit meiner Familie darüber, in eine Überbauung umzuziehen. Wir dachten, dass der umgebaute Siheyuan sehr teuer werden würde und wir ihn uns gar nicht leisten könnten. Doch mein Vater brachte es nicht übers Herz, sich von der Garküche, wo er fast jeden Morgen frühstückte, zu trennen. Hinzu kommt, dass der Kulturpalast der Werktätigen, in dem er jeden Tag einen Spaziergang macht, gleich um die Ecke liegt. Auch die Nachbarn kennen wir seit vielen Jahren. Der Wunsch meines Vaters und die harte Realität stürzten mich in ein Dilemma. Doch zum Glück gewährte uns die Regierung einen ermäßigten Kredit mit niedrigeren Darlehenszinsen. Sonst hätten wir es nie gewagt zu glauben, dass wir eines Tages zurückziehen würden.

Als Zhang Fenghe Dezis Worten zuhört, überkommt ihn plötzlich der Wunsch, auch zurückzuziehen, denn der umgebaute Siheyuan setzt ihn ins alte Beijing zurück.

Informationen zum Umbau der Nanchizi-Straße

Die Abrissfläche für das Umbauprojekt in der Nanchizi-Straße beträgt 54 000m2, das ist die Hälfe der Gesamtfläche in Nanchizi. Von den alten Häusern waren 91,96% baufällig. Unter den 103 Wohnhöfen, die in das Projekt aufgenommen wurden, hat man 31 erhalten und restauriert, die anderen wurden neu gebaut oder umgebaut. In 49 der neuen Wohnhöfe wurde nicht nur der traditionelle Beijinger Baustil bewahrt, sondern auch die Wohnqualität verbessert.

Verlauf, Ort und Namen der Gassen haben sich nicht geändert. Ein Teil der Häuser wurde aufgestockt. Im Erdgeschoss befinden sich Wohnzimmer, Küche und Toilette, über eine Treppe gelangt man ins Schlafzimmer im oberen Stock. Die Häuser an der Straße bleiben dagegen ebenerdig.

Die Siheyuan in Nanchizi sind das erste Viertel in Beijing, das unter kulturhistorischem Schutz steht und versuchsweise restauriert wurde. Ende August 2003 zogen 300 Familien in die 103 neuen Siheyuan ein.

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