„Hochdeutsch
bitte“
Von Zhang Rongjie
Zhang
Rongjie stammt aus Beijing und schloss im Sommer dieses
Jahres ein Germanistikstudium an der Peking-Universität
ab. Seit Mitte Oktober ist er in Zürich, wo er Publizistik
studiert. Im Folgenden berichtet er über seine ersten Erfahrungen
in der Schweiz.
In China hatte ich schon
einen Haufen Klischees über die Schweiz gehört. Fast
jeder Chinese kennt die luxuriöse Schweizer Armbanduhr.
Diese Statussymbole sind in China sehr beliebt, schon für
10 Yuan kannst du an der Straße eine Rolex kaufen.
Neben den Uhren kennt man Schokolade aus der Schweiz, und
auch die Schweizer Landesfahne ist den Chinesen nicht fremd:
„Ach ja, das ist die Fahne des Roten Kreuzes... oder zumindest
hat sie etwas zu tun mit dem Roten Kreuz.“
Die Chinesen wissen viel
über die Schweiz, aber es gibt auch vieles, das sie nicht
wissen. Zum Beispiel, dass es kein „Schweizerisch“ gibt,
und dass Englisch nicht die Muttersprache der Schweizer
ist. Zürich (auf Chinesisch Su-li-shi) ist auch nicht die
Hauptstadt, und sie hat nichts zu tun mit dem Suezkanal
(Su-yi-shi). Und „Nestlé“ ist keine amerikanische Firma,
sondern aus der Schweiz.
Obwohl ich mittlerweile einige
Klischees über die Schweiz durchschauen kann und glaube,
dass ich ein bisschen mehr über das Land weiß als
die meisten Chinesen, ist die Schweiz für mich noch genauso
ein Rätsel wie vor meiner Abfahrt.
Wenn meine Schweizer Kolleginnen
und Kollegen mit mir über das Studium sprechen wollen, fragen
sie mich als erstes meistens: „Verstehst du Schweizerdeutsch?“
Meine Antwort lautet immer: „Nein, bitte Hochdeutsch.“ Wenn
sie nicht die Standardsprache sprechen, kann das Gespräch
zwischen uns in große Schwierigkeiten geraten. Ein
Vorteil für sie ist, dass sie mich ausschließen können,
wenn sie ein privates Gespräch führen wollen. Wenn
sie klares Hochdeutsch sprechen, dann weiß ich: „Das
Gespräch kehrt zurück zum Thema.“ Ich habe vier Jahre
Hochdeutsch (vielleicht auch „Chinesischdeutsch“) an der
Peking-Universität gesprochen, aber Schweizerdeutsch
ist fast eine Fremdsprache für mich. Im Tram, im Laden,
in der Mensa sprechen die Schweizer ein Deutsch, das ich
nicht kenne. Das ist eine ähnlich peinliche Situation,
wie sie etwa ein Pekinger in Guangzhou erlebt.
Im meinem Leben in Zürich
gibt es zwei ständig wechselnde Sprachsysteme – das
ist wie wenn man auf der Computertastatur die „Shift“-Taste
drückt. Das eine, Hochdeutsch, spricht man in der Vorlesung,
im Seminar und im Tutorat, also im akademischen Leben. Das
andere, Schweizerdeutsch, spricht man auf der Straße,
in der Sporthalle, im Laden – kurz: im Alltagsleben. Eines
Tages werde ich bestimmt auch mit vollem Selbstvertrauen
auf Schweizerdeutsch grüßen und „Grüezi“ sagen können.
„Grüezi, Sonne“, zum Beispiel.
Ich bin Ende Oktober in Zürich angekommen. Die Schweizer
sagten mir, in dieser Jahreszeit wäre das Wetter meistens
nicht gut, was wirklich stimmt. Der Regen fällt willkürlich
vom Himmel. Morgens regnet es, über Mittag hört es
auf und am Abend regnet es wieder. Obwohl du in der Nacht
den hellen Mond klar sehen kannst, wirst du höchstwahrscheinlich
am nächsten Morgen wieder vom Regen überrascht. „Oben,
auf den Bergen, gibt’s Sonne“, sagen die Schweizer. Ja,
oben, aber die Sonne bleibt fast immer oben, dazwischen
sind dicke Wolken.
Endlich, nach dem frühen
Schnee in diesem Jahr (es war der früheste seit 10 Jahren),
tauchte die Sonne auf. Lange wusste ich nicht, dass Sonnenstrahlen
so wertvoll sein können. Obwohl in Beijing die Sonne
im Winter wie eine Kühlschranklampe ist, die nur Licht,
aber keine Wärme gibt, steht sie doch fast immer am
Himmel. Aber wenn du in der Schweiz mit der Sonne eine „Sprechstunde“
haben willst, musst du vom Herbst bis zum nächsten
Sommer warten. Eine Anmeldung, glaube ich, ist obligatorisch.
Man muss sagen, dass Zürich
eine schöne Stadt ist, vorausgesetzt, es ist schönes,
sonniges Wetter. Wie Beijing hat Zürich eine lange Geschichte,
aber mir gefallen die Spitzen der alten Kirchen hier viel
besser als die Wolkenkratzer in Beijing. Der Fluss Limmat
fließt aus dem Zürichsee, an dem die Stadt liegt,
ruhig durch die Innenstadt. Den Enten, Möwen und Schwänen
ist es völlig egal, wie viele Milliarden Dollar, Franken,
Euro bei den Banken dieser Stadt, den weltweit einflussreichsten,
eintreffen oder wieder hinausgehen, sie schwimmen sorgenlos
auf dem See und dem Fluss. Die Zürcher scheinen auch sorgenlos,
mit einem mehr oder weniger üppigen Konto in einer der sichersten
Banken und mit einer der teuersten Versicherungen kann man
doch keine Sorgen haben.
Außen ist Zürich Jahrhunderte
alt, aber innen ist es viel jünger. Die uralte, dicke, bestimmt
auch schwere Tür des Stadthauses geht von selbst auf, es
gibt keinen Bediensteten in prächtiger, eleganter Kleidung
hinter der Tür, der den Besuchern die Tür aufmacht und sie
begrüßt mit einer Verbeugung. Durch die elektronisch
gesteuerte Tür trittst du wieder ins 21. Jahrhundert ein.
In diesem uralten Gebäude gibt es Computer, Internet,
kurz: all die modernen Bürogeräte, die man sich vorstellen
kann.
Sprachenvielfalt
ist eine besondere Eigenschaft der Schweiz. Neben Deutsch,
Französich, Italienisch und Rätoromanisch ist
hier auch Englisch als internationale Sprache üblich, aber
auf Zürichs Straßen kann man viel mehr als diese fünf
Sprachen hören: Russisch und die Sprachen der Länder
in Mittel- und Osteuropa hörst du überall, sie kommen
aus den Mündern von Taxifahrern, Verkäufern und auch
Studienkollegen. Eine dunkle Hautfarbe ist hier auch nichts
Besonderes – Afrikaner und Inder bringen nicht nur Vielfalt
bei den Hautfarben, sondern auch in der Kultur. Es ist nicht
schwer, ein indisches Restaurant zu finden, und wenn du
dich für Soul- oder Rap-Musik interessierst, wirst du in
Zürich nicht enttäuscht. Nicht nur in chinesischen
Läden oder Restaurants kann ich die Stimme aus meinem
Heimatland hören, auch im Tram und auf dem Campus sind
die gelben Gesichter gar nicht selten. Die Schweizer beschäftigen
sich nicht nur mit Banken, Uhren und Schokolade. In der
bildhaft schönen Landschaft führen sie doch ein internationales
Leben.