Dezember 2003
Ihre Position: Homepage >

„Hochdeutsch bitte“

Von Zhang Rongjie

Zhang Rongjie stammt aus Beijing und schloss im Sommer dieses Jahres ein Germanistikstudium an der Peking-Universität ab. Seit Mitte Oktober ist er in Zürich, wo er Publizistik studiert. Im Folgenden berichtet er über seine ersten Erfahrungen in der Schweiz.

In China hatte ich schon einen Haufen Klischees über die Schweiz gehört. Fast jeder Chinese kennt die luxuriöse Schweizer Armbanduhr. Diese Statussymbole sind in China sehr beliebt, schon für 10 Yuan kannst du an der Straße eine Rolex kaufen. Neben den Uhren kennt man Schokolade aus der Schweiz, und auch die Schweizer Landesfahne ist den Chinesen nicht fremd: „Ach ja, das ist die Fahne des Roten Kreuzes... oder zumindest hat sie etwas zu tun mit dem Roten Kreuz.“

Die Chinesen wissen viel über die Schweiz, aber es gibt auch vieles, das sie nicht wissen. Zum Beispiel, dass es kein „Schweizerisch“ gibt, und dass Englisch nicht die Muttersprache der Schweizer ist. Zürich (auf Chinesisch Su-li-shi) ist auch nicht die Hauptstadt, und sie hat nichts zu tun mit dem Suezkanal (Su-yi-shi). Und „Nestlé“ ist keine amerikanische Firma, sondern aus der Schweiz.

Obwohl ich mittlerweile einige Klischees über die Schweiz durchschauen kann und glaube, dass ich ein bisschen mehr über das Land weiß als die meisten Chinesen, ist die Schweiz für mich noch genauso ein Rätsel wie vor meiner Abfahrt.

Wenn meine Schweizer Kolleginnen und Kollegen mit mir über das Studium sprechen wollen, fragen sie mich als erstes meistens: „Verstehst du Schweizerdeutsch?“ Meine Antwort lautet immer: „Nein, bitte Hochdeutsch.“ Wenn sie nicht die Standardsprache sprechen, kann das Gespräch zwischen uns in große Schwierigkeiten geraten. Ein Vorteil für sie ist, dass sie mich ausschließen können, wenn sie ein privates Gespräch führen wollen. Wenn sie klares Hochdeutsch sprechen, dann weiß ich: „Das Gespräch kehrt zurück zum Thema.“ Ich habe vier Jahre Hochdeutsch (vielleicht auch „Chinesischdeutsch“) an der Peking-Universität gesprochen, aber Schweizerdeutsch ist fast eine Fremdsprache für mich. Im Tram, im Laden, in der Mensa sprechen die Schweizer ein Deutsch, das ich nicht kenne. Das ist eine ähnlich peinliche Situation, wie sie etwa ein Pekinger in Guangzhou erlebt.

Im meinem Leben in Zürich gibt es zwei ständig wechselnde Sprachsysteme – das ist wie wenn man auf der Computertastatur die „Shift“-Taste drückt. Das eine, Hochdeutsch, spricht man in der Vorlesung, im Seminar und im Tutorat, also im akademischen Leben. Das andere, Schweizerdeutsch, spricht man auf der Straße, in der Sporthalle, im Laden – kurz: im Alltagsleben. Eines Tages werde ich bestimmt auch mit vollem Selbstvertrauen auf Schweizerdeutsch grüßen und „Grüezi“ sagen können.

„Grüezi, Sonne“, zum Beispiel. Ich bin Ende Oktober in Zürich angekommen. Die Schweizer sagten mir, in dieser Jahreszeit wäre das Wetter meistens nicht gut, was wirklich stimmt. Der Regen fällt willkürlich vom Himmel. Morgens regnet es, über Mittag hört es auf und am Abend regnet es wieder. Obwohl du in der Nacht den hellen Mond klar sehen kannst, wirst du höchstwahrscheinlich am nächsten Morgen wieder vom Regen überrascht. „Oben, auf den Bergen, gibt’s Sonne“, sagen die Schweizer. Ja, oben, aber die Sonne bleibt fast immer oben, dazwischen sind dicke Wolken.

Endlich, nach dem frühen Schnee in diesem Jahr (es war der früheste seit 10 Jahren), tauchte die Sonne auf. Lange wusste ich nicht, dass Sonnenstrahlen so wertvoll sein können. Obwohl in Beijing die Sonne im Winter wie eine Kühlschranklampe ist, die nur Licht, aber keine Wärme gibt, steht sie doch fast immer am Himmel. Aber wenn du in der Schweiz mit der Sonne eine „Sprechstunde“ haben willst, musst du vom Herbst bis zum nächsten Sommer warten. Eine Anmeldung, glaube ich, ist obligatorisch.

Man muss sagen, dass Zürich eine schöne Stadt ist, vorausgesetzt, es ist schönes, sonniges Wetter. Wie Beijing hat Zürich eine lange Geschichte, aber mir gefallen die Spitzen der alten Kirchen hier viel besser als die Wolkenkratzer in Beijing. Der Fluss Limmat fließt aus dem Zürichsee, an dem die Stadt liegt, ruhig durch die Innenstadt. Den Enten, Möwen und Schwänen ist es völlig egal, wie viele Milliarden Dollar, Franken, Euro bei den Banken dieser Stadt, den weltweit einflussreichsten, eintreffen oder wieder hinausgehen, sie schwimmen sorgenlos auf dem See und dem Fluss. Die Zürcher scheinen auch sorgenlos, mit einem mehr oder weniger üppigen Konto in einer der sichersten Banken und mit einer der teuersten Versicherungen kann man doch keine Sorgen haben.

Außen ist Zürich Jahrhunderte alt, aber innen ist es viel jünger. Die uralte, dicke, bestimmt auch schwere Tür des Stadthauses geht von selbst auf, es gibt keinen Bediensteten in prächtiger, eleganter Kleidung hinter der Tür, der den Besuchern die Tür aufmacht und sie begrüßt mit einer Verbeugung. Durch die elektronisch gesteuerte Tür trittst du wieder ins 21. Jahrhundert ein. In diesem uralten Gebäude gibt es Computer, Internet, kurz: all die modernen Bürogeräte, die man sich vorstellen kann.

Sprachenvielfalt ist eine besondere Eigenschaft der Schweiz. Neben Deutsch, Französich, Italienisch und Rätoromanisch ist hier auch Englisch als internationale Sprache üblich, aber auf Zürichs Straßen kann man viel mehr als diese fünf Sprachen hören: Russisch und die Sprachen der Länder in Mittel- und Osteuropa hörst du überall, sie kommen aus den Mündern von Taxifahrern, Verkäufern und auch Studienkollegen. Eine dunkle Hautfarbe ist hier auch nichts Besonderes – Afrikaner und Inder bringen nicht nur Vielfalt bei den Hautfarben, sondern auch in der Kultur. Es ist nicht schwer, ein indisches Restaurant zu finden, und wenn du dich für Soul- oder Rap-Musik interessierst, wirst du in Zürich nicht enttäuscht. Nicht nur in chinesischen Läden oder Restaurants kann ich die Stimme aus meinem Heimatland hören, auch im Tram und auf dem Campus sind die gelben Gesichter gar nicht selten. Die Schweizer beschäftigen sich nicht nur mit Banken, Uhren und Schokolade. In der bildhaft schönen Landschaft führen sie doch ein internationales Leben.

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+--+-+-+-+--+-+-+--+-
Zurück