Dezember 2003
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Blick auf den Tausend-Insel-See

Hangzhou setzt weiter

auf sein bewährtes Zugpferd

Tourismus treibt die Wirtschaft an

Von Atze Schmidt

Am Westsee in Hangzhou und auf dem Fluss Fuchun (rechts unten)

Eine der ersten internationalen Messen, die je in China veranstaltet wurden, fand 1929 in der Hauptstadt Hangzhou der Ostküstenprovinz Zhejiang statt. Die 100 Kilometer südlich von Shanghai und am Ende des Großen Kanals gelegene Metropole profitierte da schon lange von den Lobeshymnen, die Poeten vieler Dynastien auf sie gesungen hatten. Als „Paradies auf Erden“ hatten sie Hangzhou gerühmt, als „Perle des Ostens“ seinen Westsee in Gedichten schwärmerisch beschrieben. „36 Westseen gibt es unter dem Himmel, aber der in Hangzhou ist der schönste“, fand einer der Dichter. Und dann kam auch noch Marco Polo, der Hangzhou als die bezauberndste Stadt der Welt bezeichnet haben soll, was von den heutigen Stadtoberen gern und bei jeder Gelegenheit erwähnt wird. Dass sich auch die Beijinger auf den Venezianer berufen, der ihrer Stadt (damals Dadu geheißen) angeblich das nämliche Kompliment gemacht hatte, und dass von dem mittelalterlichen Hangzhou so gut wie nichts mehr übrig ist, spielt keine Rolle. Am Westsee in Hangzhou steht nun jedenfalls eine neu errichtete Statue von Marco Polo, um die sich täglich Menschen scharen, denen städtische Touristenführer von dem Reisenden aus dem fernen Westen erzählen und wie schön er Hangzhou gefunden habe. (Marco Polo starb vor 680 Jahren).

Der ersten Internationalen Hangzhouer Messe folgte lange keine zweite. 71 Jahre vergingen bis zur 1. „Westsee-Expo“ im Jahr 2000. Jetzt ist dieses Ereignis eine jährliche Einrichtung, die jeweils im Oktober stattfindet und bis zu drei Wochen dauert. Ihr Ziel ist es, neben dem Anknüpfen von Kontakten zu potentiellen Geschäftspartnern aus anderen Teilen Chinas und dem Ausland vor allem dem Tourismus weiteren Auftrieb zu geben. „Die Tourismus-Industrie soll für die Entwicklung der Wirtschaft der ganzen Region als Lokomotive dienen“, betont die Stadtregierung.

Wieviel Tourismus verträgt das Paradies?

Wer heute nach Hangzhou reist, wird sich angesichts der Menschenmassen rund um den Westsee allerdings die Frage stellen, wieviel Tourismus das Paradies eigentlich verträgt. Laut amtlicher Statistik besuchten die Stadt im Jahr 2002 nicht weniger als 27,6 Millionen Reisende. Bei einer Einwohnerzahl von 3,87 Millionen waren das sieben Touristen auf einen Hangzhouer. Die Rechnung der Stadtregierung ist bisher glänzend aufgegangen: Mit einem Anteil von 16,5 Prozent (ca. 30 Milliarden Yuan) am Bruttosozialprodukt der Stadt ist der Tourismussektor schon jetzt der führende Wirtschaftszweig der Hangzhouer Ökonomie. Die Kehrseite der Medaille: Das „Paradies auf Erden“ ist ein touristischer Rummelplatz geworden.

Das größte Schloss der Welt auf der „Schloss-Insel“

Nun hat die Stadtregierung von Hangzhou ein ernstes Problem: Einerseits will sie verstärkt ausländische Touristen anlocken (1,05 Millionen kamen im Jahr 2002), denn die lassen gewöhnlich mehr Geld in den Kassen als reisende Chinesen; andererseits werden die Verantwortlichen zunehmend mit Klagen konfrontiert, dass die Ausländer sich das „Paradies“ doch anders vorgestellt hatten: idyllischer, eben etwas paradiesischer. Während chinesische Touristen sich nach der Einschätzung von Sozialwissenschaftlern inmitten von Menschenmassen und den Fähnchen von Reiseleitern hinterherlaufend in der Regel durchaus wohl fühlen, scheint den meisten Westlern diese Art von Zusammengehörigkeitsgefühl abzugehen. Und je mehr Chinesen über ausreichende Geldmittel und Freizeit verfügen, desto größer wird nun das Problem mit den Ausländern. Doch die Stadtregierung von Hangzhou glaubt einen Ausweg aus diesem Dilemma zu wissen.

Über eine Hängebrücke geht es auf dem See der Tausend Inseln von einem Eiland zum nächsten

Ein Drei-Stufen-Plan wurde entwickelt. Bis zum Jahr 2005 will Hangzhou durch den Ausbau seiner touristischen Infrastruktur in der Rangliste der berühmten Reiseziele Chinas noch höher aufsteigen. Dass die Stadt und ihr Westsee dadurch noch mehr überlaufen werden, müsse man zunächst in Kauf nehmen, heißt es, denn schließlich müsse die Stadt das nötige Geld einnehmen, um den entscheidenden zweiten Schritt des großangelegten Plans verwirklichen zu können: Bis zum Jahr 2010 will Hangzhou seine ländlichen Gebiete touristisch erschließen. Dann, so die Überlegung, entzerrt sich das Ganze. Während ein Teil der Touristen sich in der Stadt und am Westsee vergnügt, schwärmt der andere Teil zu den bis dahin zugänglich gemachten „Scenicspots“ in die Umgebung aus. Schritt drei des Plans hat dann zum Ziel, Hangzhou bis zum Jahr 2015 endgültig als internationales Reiseziel zu etablieren.

Gewaltige Buddelei vor tausend Jahren

Anlässlich der 5. Westsee-Expo hatte Hangzhou einen großen Werbefeldzug gestartet und auch eine Gruppe ausländischer Journalisten eingeladen. Man präsentierte den Gästen die jüngsten Errungenschaften, darunter das soeben fertiggestellte und aufwendigste Projekt, nämlich die Erweiterung des Westsees um fast einen Quadratkilometer und die Ausstattung des hinzugewonnenen Areals und seiner Ufer mit zahlreichen Bogenbrücken, Pavillons, Parks und Spazierwegen. Nun ist der See wieder so groß wie schon mal vor 300 Jahren, als er erstmals in seiner Geschichte die Ausdehnung von gut sechs Quadratkilometern erreicht hatte.

Was viele Hangzhou-Besucher nämlich nicht wissen: Der Westsee ist keineswegs ein Geschenk der Natur, sondern ein künstlich angelegtes Gewässer. Ursprünglich war hier nur eine seichte Bucht am Fluss Qiantang. Dann ließen, gut tausend Jahre sind seither vergangen, damalige Herrscher in der auf drei Seiten von quellenreichen Bergen umstandenen Bucht eine gewaltige Buddelei vornehmen. Das ausgehobene Erdreich wurde für den Bau zweier Dämme verwendet, die das Gewässer in drei Sektoren unterteilen. So entstand der Westsee, der Stolz der Stadt.

Kein See in China und wahrscheinlich kein See der Welt wurde in Gedichten so häufig gepriesen, hochgelobt als „Juwel“, als Inbegriff landschaftlicher Reize, die eine innige Verbindung mit Werken menschlichen Schöpfergeistes eingegangen sind. Doch Besucher von Hangzhou sollten, wenn sie in der Welt etwas herumgekommen sind, nicht allzuviel erwarten. Die Dichter Su Dongpo und Bai Juyi aus der Song bzw. der Tang-Dynastie beispielsweise, nach denen die beiden Dämme des Westsees benannt sind, hatten keine Möglichkeit des Vergleichs mit dem, wie es anderswo in der Welt aussieht, und so stellte sich für sie, wie für alle die anderen Poeten, Hangzhou mit seinem Westsee eben als ein „Paradies auf Erden“ dar. Die Autoren des China-Reiseführers der Buchreihe „Lonely Planet“ bringen es auf den Punkt: „Es ist ganz nett hier, doch wer eine lange Reise unternimmt, nur um den berühmten Westsee zu sehen, wird möglicherweise enttäuscht.“

Wie der Aberglaube eine Pagode zum Einsturz brachte

Die neu errichtete Leifeng-Pagode

Hangzhou scheut keine Kosten, um Touristen das bieten zu können, wovon man glaubt, es sei das Beste. Zwei Beispiele gelungener Neuerungen sind das Tee-Museum und das Seiden-Museum. Beide wurden in jüngster Zeit völlig umgestaltet und sind jetzt überaus geschmackvoll eingerichtet. Lohnenswert ist auf jeden Fall auch ein Abstecher in die Stadt Fuyang südwestlich von Hangzhou, die der Verwaltung der Provinzhauptstadt untersteht, und hier sollte man sich Zeit nehmen für einen Besuch des Dorfs der Papiermacher und Drucker. Eine bessere Präsentation der frühen Methoden der Papierherstellung und der alten Drucktechniken dürfte in ganz China nicht zu finden sein. Sehr zu empfehlen! Und man ist eingeladen, selbst mitzumachen beim handwerklichen Tun nach mittelalterlichen Methoden.

Zurück zum Westsee, an dessen südlichem Ufer sich die Leifeng-Pagode erhebt. „Sie ist über tausend Jahre alt, und ihre Renovierung wurde erst vor kurzer Zeit abgeschlossen“, sagt die Touristen-Begleiterin mit dem Fähnchen in der Hand, und sprudelt Zahlen bezüglich Alter, Grundfläche, Höhe und die Kosten für die „Renovierung“ der Pagode heraus. In Wirklichkeit stehen wir vor einem Neubau aus Beton und Stahl. Von der einstigen Pagode sind heute im Inneren des neuen Turms nur noch einige Reste des alten Fundaments hinter Glas zu besichtigen.

Anno 977 als eine Konstruktion aus Holz und Steinen erbaut, hatte diese buddhistische Pagode mit ihrem achteckigen Grundriss fortan den Pagodenbau in China wesentlich beeinflusst. Sie selbst jedoch fiel schließlich dem Aberglauben zum Opfer. Denn weil in ihr angeblich ein Haarbüschel von Shakjamuni aufbewahrt wurde, galt das Bauwerk den Hangzhouern als heilig, und folglich waren jeder Stein und jedes Stück Holz aus der Pagode Glücksbringer. So wurde, als der natürliche Verfall des Bauwerks bereits fortgeschritten war, seine völlige Zerstörung dadurch beschleunigt, dass die Hangzhouer Steine und Holzteile aus dem Gemäuer herausbrachen und mit nach Hause nahmen. Bis 1924 stand die Pagode noch halbwegs, dann brach sie eines Tages in sich zusammen.

Nun steht an ihrer Stelle auf einer Anhöhe der neue Bau. Eine Rolltreppe führt zu ihm hinauf, und drinnen gibt es einen Lift, alles wunderbar bequem. Diese neue Pagode wird möglicherweise länger überdauern als ihre Vorgängerin, die es nicht einmal auf tausend Jahre gebracht hat. Marco Polo müsste sie noch in ihrer ganzen Schönheit gesehen haben, wenn er denn tatsächlich bis nach Hangzhou gekommen ist. Es gibt ja Leute, die seine Reiseberichte aus China als geschickte Produkte seiner Phantasie unter Verwendung bereits damals kursierender Berichte über das exotische Reich im fernen Osten bezeichnen und ganze Bücher damit vollgeschrieben haben, um dies zu beweisen.

Wie geschaffen für Wassersport und Erholung

Wir fahren von Hangzhou nach Südwesten. Erst geht es eine Stunde auf einer Schnellstraße zügig dahin, dann biegen wir nach rechts ab, tauchen in eine bergige Gegend ein und folgen gewundenen Landstraßen. Kleine Felder an den Hängen und in engen Tälern, Marktflecken und Dörfer, das bunte ländliche Leben zieht an uns vorbei. Wir erreichen Chun’an, der Tacho zeigt 160 Kilometer ab Hangzhou, wir sind am „See der Tausend Inseln“ (Qiandaohu).

Der Name ist sogar eine kleine Untertreibung, denn in der Tat hat der See, mit 573 Quadratkilometern größer als der Bodensee, 1078 Inseln. Doch manchmal sind es auch weniger, es hängt ganz vom Pegelstand des Sees ab.

Ebenso wie der Hangzhouer Westsee ist der Qiandaohu ein von Menschenhand geschaffenes Gewässer. Einst waren die Inseln Kuppen von Hügeln und Bergen. Es war Ende der 50-er Jahre, als man den Fluss Xin’an aufstaute und eines der ersten großen Wasserkraftwerke des Landes baute. Straßen und Dörfer, Felder und Wälder verschwanden in dem riesigen See. Der weitverzweigte Qiandaohu mit seinen zahlreichen Armen, Buchten und Inseln schien von Anfang an wie eigens geschaffen für Urlauber, für Wassersport und Erhohlung. Doch lange konnte sich hier ungestört eine neue Flora und Fauna ansiedeln und entwickeln. Fische vermehrten sich, Wasservögel kamen von weißwoher. China hatte noch andere Sorgen, als sich um Dinge wie Freizeitgestaltung und Tourismus kümmern zu können. Das hat sich inzwischen geändert, und in Hangzhou sind die Planer dabei, nun auch den See der Tausend Inseln touristisch zu erschließen. Man kann ihnen dazu nur eine glückliche Hand wünschen, denn hier kann eine einmalige Chance genutzt oder unwiderruflich vertan werden. Positive Ansätze sind zu sehen, auch ausländische Investoren interessieren sich für das Projekt. Es scheint, als verwirkliche man hier Schritt für Schritt einen gut durchdachten Plan.

Die Namen einiger der größeren Inseln verraten bereits, was den Besucher dort erwartet. „Affeninsel“ heisst eines der Eilande, und hier hat man verschiedene Spezies unserer nächsten Verwandten angesiedelt. Es gibt eine „Vogelinsel“ mit zahlreichen Arten von Vögeln, eine „Straussen-Insel“, auf der den großen Laufvögeln ein Freigehege zur Verfügung steht, und eine „Schlangeninsel“ mit Tausenden von Nattern, Ottern, Vipern und anderen Arten der Schuppenkriechtiere. Eine Insel bekam den Namen „Schloss-Insel“. Alles dreht sich hier um das Schloss, die Verschlussvorrichtung für Türen, Schränke, Tresore usw. In Stein gehauen und aus Metall gefertigt sind hier Schlösser und Schlüssel in vielerlei Formen zu besichtigen bis hin zu riesigen Schloss-Monumenten. Auch das größte Schloss der Welt, im Guinness-Buch der Rekorde vermerkt, steht hier. Und wer will, kann sich auf der Insel mit einem eigenen Schloss mit Inschrift verewigen. Zehntausende von Besuchern haben es bereits getan, ihre Schlösser hängen als zentnerschwere Girlanden an eigens dafür aufgestellten Gerüsten.

Der See der Tausend Inseln, im Ausland noch reichlich unbekannt, könnte für China-Reisende zu einem interessanten Ziel werden.

Die archäologische Sensation

Bald wird Hangzhou auch eine archäologische Sensation der Öffentlichkeit präsentieren. Unweit der Provinzhauptstadt hat man auf dem Gelände einer Ziegelei und noch an einer weiteren Stelle Hinterlassenschaften von Siedlungen der Jungsteinzeit ausgegraben. Zunächst kamen zahlreiche Tongefäße ans Tageslicht, darunter so edel geformte und fein verzierte, dass man sich fragt, wieso sich der gute Geschmack in der langen Zeit nicht allgemein durchgesetzt hat, so dass heute so viele unsäglich scheußliche Dinge produziert werden.

Der Star der Funde aber ist ein Boot. Sein Alter haben aus dem ganzen Land zusammengerufene Experten auf 7000 bis 8000 Jahre festgelegt. Damit wäre es das älteste bisher gefundene Wasserfahrzeug der Welt. Es wurde aus einem einzigen Baumstamm gefertigt, 5,6 Meter lang ist das größte erhaltene Teil, und zusammen mit diversen abgebrochenen Stücken stellt sich ein Boot von etwa zehn Metern Länge dar.

Noch sind die Funde nicht allgemein zugänglich. Wir wenigen Journalisten zählten zu den ersten, die sie nach den Fachleuten zu sehen bekamen, ein Privileg, für das wir allerdings strenge Gerüche in dieser Halle ertragen mussten. Denn das Boot liegt nun eingebettet in schützenden Chemikalien. Jahrtausende lag es metertief im Boden. Demnächst werden sich fachkundige Hände seiner annehmen und es dauerhaft präparieren, und dann wird es zusammen mit den anderen Fundsachen in einem noch zu bauenden Museum zu bestaunen sein.

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