Wo
es keinen Flecken ebener
Erde
gibt
Von
Olivier Roos

Der Kleinbus kämpft
sich auf der ungeteerten Straße nach oben, die sich den
steilen Hang emporschlängelt bis zum nächsten namenlosen
Pass. Ab und an gibt eine Windung den Blick frei auf Kaskaden
von Reisterassen, die unter uns bis ins Tal hinunterfallen und
auf der anderen Seite, einer riesigen Treppe gleich, wieder
hinaufführen bis zum Wald, der hier die meisten Hügelrücken
bedeckt. Wir sind im Südosten der Provinz Guizhou, von der es
heißt, sie sei das Land der Hügel und Berge. Hier wird
sie ihrem Ruf mehr als gerecht. Wir blicken auf eine hinreißende
Landschaft, eine Mischung aus alpinen Bergwäldern und tropischen
Reisfeldern. Vor einigen Stunden, unter der Nachmittagssonne,
staunten wir über das satte, leuchtende Grün der Reispflanzen
– eine Farbe, der man im milchigen Beijinger Sommer nicht begegnet.
Jetzt, am frühen Abend, ist die Sonne schon hinter den nächsten
Bergen verschwunden, und die Umrisse lösen sich langsam
auf im weichen Licht, das noch herüberschwappt. Rauchschleier
schweben über kleinen Dörfern, zwei Dutzend Häuser
aus dunklem Holz, die sich an die Hänge schmiegen, und
zeigen an, dass es bald Zeit ist zu essen.
Wir müssen noch etwas
ausharren. Das Ziel dieser Fahrt, die Kreisstadt Jinping, ist
rund 30 Kilometer entfernt – eine gute Stunde rauf und runter.
Ich komme mit meinem Sitznachbarn ins Gespräch, der im
letzten Dorf zugestiegen ist. Er ist ein Angehöriger der
Dong-Nationalität, die in diesem Gebiet die Mehrheit der
Bevölkerung stellt, und hat gerade seine Eltern besucht.
Seit einigen Jahren wohnt er in Jinping. Die Lebensbedingungen
in den Berggebieten sind hart; so schön die Reisterassen
aussehen, erfordert ihre Lage lange, beschwerliche Arbeitswege.
Wer im Dorf kein Auskommen findet, wandert ab. Nicht wenige
Familienväter arbeiten als Wanderarbeiter auf den Baustellen
der boomenden Küstenprovinzen, die meisten in Guangdong. Long
Gang, so heißt mein Nachbar, verließ schon gleich
nach der Schule sein Heimatdorf und ließ sich als Arbeiter
in einer der zahlreichen Goldminen der Gegend anheuern. Private
Betreiber führen einige der Bergwerke weiter, nachdem sich der
Staat zurückgezogen hat. Ein Jahr lang war er einer von Tausenden,
die im Untergrund schufteten. In den besten Zeiten, sagt er,
betrug die Ausbeute einige Kilogramm Gold am Tag. Wieviel für
ihn als einfachen Bergmann heraussprang, will er mir nicht recht
verraten. Sein Verdienst habe mit dem Ertrag geschwankt. Nach
einem Jahr gab sein Arbeitgeber seinen Anteil an der Mine auf
und Long Gang verlor seinen Job. Er kehrte in sein Dorf zurück
und eröffnete ein Restaurant, in dem er unter anderem Schlangengerichte
anbot. Heute führt er mit seiner Frau in Jinping ein Geschäft
für Sportbekleidung und eine kleine Näherei.
Als der Bus die letzte
Hügelkuppe nimmt und die Lichter von Jinping auftauchen, bietet
Long Gang an, uns die Goldmine zu zeigen – wir nehmen begeistert
an. Am nächsten Tag treffen wir uns nach dem Frühstück
und steigen abermals in einen Bus. Schon bald wird ersichtlich,
dass die Umgebung reich an Goldadern ist. Im Fluss, dem wir
entlangfahren, stehen in unregelmäßigem Abstand schwimmende
Kieswaschanlagen, die das Flussbett umgraben und es nach dem
gelben Metall durchsuchen. Und im Dorf, bei dem die Mine liegt,
zeigen mehrstöckige, leicht überdimensionierte Betongebäude,
welche hie und da zwischen den traditionellen Holzhäusern
emporragen, an, dass einige Leute mit der Goldsuche tatsächlich
zu Reichtum gekommen sind.
Schon von weitem
sieht man den Schuttkegel, der sich vor dem Bergwerk auftürmt.
Als Long Gang noch hier arbeitete, vor über zehn Jahren, war
der Eingang zur Mine ein 200 Meter tiefer senkrechter Schacht.
Anfangs war ihm schon etwas mulmig, wenn er im Korb des Fahrstuhls
stand und in die Tiefe gelassen wurde. So schnell seien sie
gefahren, dass er manchmal, wenn er die Augen schloss, nicht
mehr wusste, ob es rauf- oder runterging. Und das Dynamit, das
bisweilen mitfuhr, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Heute
führt ein über zwei Kilometer langer Stollen zum Abbaufeld,
wo noch etwa 200 Bergleute tätig sind. Etwa alle drei Stunden
bringt ein kleiner Zug das Erz heraus, das dann in einem ohrenbetäubenden
Krach mit Maschinen in mehreren Schritten zerkleinert und zuletzt
zu Sand gemahlen wird. Aus diesem wird schließlich das
Gold herausgewaschen und in einem Tank ausgefällt. Schade,
dass wir nicht bis zum Abend bleiben können, sagen unsere
Begleiter, denn um sechs Uhr werde die Tagesernte aus dem Tank
herausgesiebt. Es ist kurz vor Mittag und alle warten auf den
Zug – doch er kommt nicht. Wahrscheinlich gehe der Abbau in
der Mine zäher voran als sonst, erklärt man uns fast
entschuldigend. Wir machen uns wieder auf den Rückweg und kriegen
zum Abschied ein kleines Stück Golderz als Andenken. Die nette
Geste schätzen wir umso mehr, als unsere Begleiter betonen,
jeder Arbeiter, den man beim Diebstahl von Golderz erwische,
werde unverzüglich entlassen und obendrein mit einer Buße
von mehreren Tausend Yuan bestraft.

Zurück in Jinping,
führt uns Long Gang in seinen Laden. Seine Frau scheint nicht
besonders glücklich darüber, dass er den ganzen Tag auf Ausflug
war. An der Wand hängen die Leibchen der prominentesten
Fußballnationen, und auch die bekanntesten europäischen
Klubs sind vertreten. Im Winter, der geschäftigsten Zeit,
beschäftigt das Ehepaar bis zu acht Näherinnen und
Näher. Die größten Aufträge stammen von
Schulen, die bei ihnen Trainingsanzüge als Schuluniformen bestellen,
und Armee- oder Polizeieinheiten, die ihre Sportmannschaften
bisweilen neu einkleiden. Die Geschäftsmöglichkeiten
sind in dieser entlegenen Gegend jedoch begrenzt und beschränken
sich zumeist auf die Kreisstadt und einige benachbarte Orte.
Den Stoff für die selber genähten Kleidungsstücke kauft
Long Gang monatlich in Liuzhou im Autonomen Gebiet Guangxi ein.
Einen Tag und eine Nacht dauert die Reise mit dem Bus dorthin.
In letzter Zeit ist die Konkurrenz härter geworden, deshalb
hat er für 3000 Yuan einen Kurs in Siebdruck besucht, so dass
er jetzt auch Aufschriften auf den Sportleibchen anbieten kann.
Später lässt
sich Long Gang nicht davon abbringen, uns zu sich zum Essen
einzuladen. Er werde schauen, ob er auf dem Markt eine Schlange
kriegen könne. Und tatsächlich begrüßt er uns
am Abend mit einem Sack in der Hand und grinst. Natürlich lassen
wir uns das Spektakel der Zubereitung nicht entgehen: Kopf ab,
das Blut und die Galle in eine Flasche Reisschnaps geträufelt,
und nach einigen Schnitten mit dem Küchenbeil erkennt man kaum
mehr, um welches Tier es sich handelt. Der Schlangenfeuertopf
mit Sojabohnen schmeckt köstlich, ebenso wie der in Salz
und Chili eingelegte Fisch, ein typisches Dong-Gericht, und
wir stoßen mit Long Gang auf seine Kochkünste und unsere
Bekanntschaft an – mit einer Schale Reisschnaps mit Schlangenblut
und Schlangengalle.