September 2002
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Sonderberichte

Presse Schau

Wo es keinen Flecken ebener

Erde gibt

Von Olivier Roos

Der Kleinbus kämpft sich auf der ungeteerten Straße nach oben, die sich den steilen Hang emporschlängelt bis zum nächsten namenlosen Pass. Ab und an gibt eine Windung den Blick frei auf Kaskaden von Reisterassen, die unter uns bis ins Tal hinunterfallen und auf der anderen Seite, einer riesigen Treppe gleich, wieder hinaufführen bis zum Wald, der hier die meisten Hügelrücken bedeckt. Wir sind im Südosten der Provinz Guizhou, von der es heißt, sie sei das Land der Hügel und Berge. Hier wird sie ihrem Ruf mehr als gerecht. Wir blicken auf eine hinreißende Landschaft, eine Mischung aus alpinen Bergwäldern und tropischen Reisfeldern. Vor einigen Stunden, unter der Nachmittagssonne, staunten wir über das satte, leuchtende Grün der Reispflanzen – eine Farbe, der man im milchigen Beijinger Sommer nicht begegnet. Jetzt, am frühen Abend, ist die Sonne schon hinter den nächsten Bergen verschwunden, und die Umrisse lösen sich langsam auf im weichen Licht, das noch herüberschwappt. Rauchschleier schweben über kleinen Dörfern, zwei Dutzend Häuser aus dunklem Holz, die sich an die Hänge schmiegen, und zeigen an, dass es bald Zeit ist zu essen.

Wir müssen noch etwas ausharren. Das Ziel dieser Fahrt, die Kreisstadt Jinping, ist rund 30 Kilometer entfernt – eine gute Stunde rauf und runter. Ich komme mit meinem Sitznachbarn ins Gespräch, der im letzten Dorf zugestiegen ist. Er ist ein Angehöriger der Dong-Nationalität, die in diesem Gebiet die Mehrheit der Bevölkerung stellt, und hat gerade seine Eltern besucht. Seit einigen Jahren wohnt er in Jinping. Die Lebensbedingungen in den Berggebieten sind hart; so schön die Reisterassen aussehen, erfordert ihre Lage lange, beschwerliche Arbeitswege. Wer im Dorf kein Auskommen findet, wandert ab. Nicht wenige Familienväter arbeiten als Wanderarbeiter auf den Baustellen der boomenden Küstenprovinzen, die meisten in Guangdong. Long Gang, so heißt mein Nachbar, verließ schon gleich nach der Schule sein Heimatdorf und ließ sich als Arbeiter in einer der zahlreichen Goldminen der Gegend anheuern. Private Betreiber führen einige der Bergwerke weiter, nachdem sich der Staat zurückgezogen hat. Ein Jahr lang war er einer von Tausenden, die im Untergrund schufteten. In den besten Zeiten, sagt er, betrug die Ausbeute einige Kilogramm Gold am Tag. Wieviel für ihn als einfachen Bergmann heraussprang, will er mir nicht recht verraten. Sein Verdienst habe mit dem Ertrag geschwankt. Nach einem Jahr gab sein Arbeitgeber seinen Anteil an der Mine auf und Long Gang verlor seinen Job. Er kehrte in sein Dorf zurück und eröffnete ein Restaurant, in dem er unter anderem Schlangengerichte anbot. Heute führt er mit seiner Frau in Jinping ein Geschäft für Sportbekleidung und eine kleine Näherei.

Als der Bus die letzte Hügelkuppe nimmt und die Lichter von Jinping auftauchen, bietet Long Gang an, uns die Goldmine zu zeigen – wir nehmen begeistert an. Am nächsten Tag treffen wir uns nach dem Frühstück und steigen abermals in einen Bus. Schon bald wird ersichtlich, dass die Umgebung reich an Goldadern ist. Im Fluss, dem wir entlangfahren, stehen in unregelmäßigem Abstand schwimmende Kieswaschanlagen, die das Flussbett umgraben und es nach dem gelben Metall durchsuchen. Und im Dorf, bei dem die Mine liegt, zeigen mehrstöckige, leicht überdimensionierte Betongebäude, welche hie und da zwischen den traditionellen Holzhäusern emporragen, an, dass einige Leute mit der Goldsuche tatsächlich zu Reichtum gekommen sind.

Schon von weitem sieht man den Schuttkegel, der sich vor dem Bergwerk auftürmt. Als Long Gang noch hier arbeitete, vor über zehn Jahren, war der Eingang zur Mine ein 200 Meter tiefer senkrechter Schacht. Anfangs war ihm schon etwas mulmig, wenn er im Korb des Fahrstuhls stand und in die Tiefe gelassen wurde. So schnell seien sie gefahren, dass er manchmal, wenn er die Augen schloss, nicht mehr wusste, ob es rauf- oder runterging. Und das Dynamit, das bisweilen mitfuhr, trug nicht zu seiner Beruhigung bei. Heute führt ein über zwei Kilometer langer Stollen zum Abbaufeld, wo noch etwa 200 Bergleute tätig sind. Etwa alle drei Stunden bringt ein kleiner Zug das Erz heraus, das dann in einem ohrenbetäubenden Krach mit Maschinen in mehreren Schritten zerkleinert und zuletzt zu Sand gemahlen wird. Aus diesem wird schließlich das Gold herausgewaschen und in einem Tank ausgefällt. Schade, dass wir nicht bis zum Abend bleiben können, sagen unsere Begleiter, denn um sechs Uhr werde die Tagesernte aus dem Tank herausgesiebt. Es ist kurz vor Mittag und alle warten auf den Zug – doch er kommt nicht. Wahrscheinlich gehe der Abbau in der Mine zäher voran als sonst, erklärt man uns fast entschuldigend. Wir machen uns wieder auf den Rückweg und kriegen zum Abschied ein kleines Stück Golderz als Andenken. Die nette Geste schätzen wir umso mehr, als unsere Begleiter betonen, jeder Arbeiter, den man beim Diebstahl von Golderz erwische, werde unverzüglich entlassen und obendrein mit einer Buße von mehreren Tausend Yuan bestraft.

Zurück in Jinping, führt uns Long Gang in seinen Laden. Seine Frau scheint nicht besonders glücklich darüber, dass er den ganzen Tag auf Ausflug war. An der Wand hängen die Leibchen der prominentesten Fußballnationen, und auch die bekanntesten europäischen Klubs sind vertreten. Im Winter, der geschäftigsten Zeit, beschäftigt das Ehepaar bis zu acht Näherinnen und Näher. Die größten Aufträge stammen von Schulen, die bei ihnen Trainingsanzüge als Schuluniformen bestellen, und Armee- oder Polizeieinheiten, die ihre Sportmannschaften bisweilen neu einkleiden. Die Geschäftsmöglichkeiten sind in dieser entlegenen Gegend jedoch begrenzt und beschränken sich zumeist auf die Kreisstadt und einige benachbarte Orte. Den Stoff für die selber genähten Kleidungsstücke kauft Long Gang monatlich in Liuzhou im Autonomen Gebiet Guangxi ein. Einen Tag und eine Nacht dauert die Reise mit dem Bus dorthin. In letzter Zeit ist die Konkurrenz härter geworden, deshalb hat er für 3000 Yuan einen Kurs in Siebdruck besucht, so dass er jetzt auch Aufschriften auf den Sportleibchen anbieten kann.

Später lässt sich Long Gang nicht davon abbringen, uns zu sich zum Essen einzuladen. Er werde schauen, ob er auf dem Markt eine Schlange kriegen könne. Und tatsächlich begrüßt er uns am Abend mit einem Sack in der Hand und grinst. Natürlich lassen wir uns das Spektakel der Zubereitung nicht entgehen: Kopf ab, das Blut und die Galle in eine Flasche Reisschnaps geträufelt, und nach einigen Schnitten mit dem Küchenbeil erkennt man kaum mehr, um welches Tier es sich handelt. Der Schlangenfeuertopf mit Sojabohnen schmeckt köstlich, ebenso wie der in Salz und Chili eingelegte Fisch, ein typisches Dong-Gericht, und wir stoßen mit Long Gang auf seine Kochkünste und unsere Bekanntschaft an – mit einer Schale Reisschnaps mit Schlangenblut und Schlangengalle.

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