September 2002
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Gesellschaft

Das Zeitalter des Cartoons
In China arbeiten

Das Zeitalter des Cartoons

Von Zhou Yang

 

Es war ein heißer Sommertag. Wie immer hatte Li Wanzhuo pünktlich um fünf Uhr Feierabend. Sie fuhr im Verkehrsstrom durch halb Beijing zu ihrer Wohnung im südlichen Stadtteil, kochte hastig etwas und setzte sich nach dem Essen zusammen mit ihrer Tochter vor den Fernseher, um sich die japanische Cartoon-Serie „Sakura momoko“ anzuschauen.

„Sakura momoko“ erzählt von der Freude, Wut, Trauer und Fröhlichkeit, die ein siebenjähriges Mädchen während ihres Aufwachsens erlebt. Diese Cartoon-Serie ist bereits zum Hauptgesprächsthema von Frau Li und ihren Kollegen geworden. Ihre Tochter, die die vierte Schulklasse besucht, sagt: „Meine Mutti ist nicht mehr so launisch wie früher und behandelt mich eher wie eine Freundin.“ Frau Li meint: „Das Verhalten von Momoko ist nicht geprägt durch Heuchelei, wie sie bei Erwachsenen so oft vorkommt. Wenn ich, als Städterin, die es gewohnt ist, unter einer Maske zu leben, ihr zuschaue, fühle ich mich sehr entspannt und frei...“ Manche Leute sind der Ansicht, dass der Humor in diesem Zeichentrickfilm den Hauptgrund für seine Faszination darstellt, während die Psychologen meinen, zwar seien die ungekünstelte Ausdrucksform, die künstlerischen Mittel und die Anwendung von Computertechnik wesentlich für die Beliebtheit des Cartoons, aber letztlich seien es doch der Durchblick und das tiefe Verständnis für das Leben, die den reichen Inhalt der Serie ausmachen und die Menschen zum Nachdenken anregen.

„Sakura momoko“ wurde bereits fünfmal im Fernsehen gesendet, trotzdem riefen viele Zuschauer beim Fernsehsender an und baten um eine Wiederholung.

Seit den Anfängen des Zeichentrickfilms in China herrschte die Vorstellung vor, er sei nur für Kinder bestimmt. Doch nach 40 Jahren hat sich dies total geändert. Zahlreiche Erwachsene sehen nun auch gern Zeichentrickfilme, so dass die wenigen Cartoon-Filme in China die Nachfrage nicht decken können. Hinzu kommt die Kritik über allzu naive Inhalte, unattraktive Handlungen, schlechte Synchronisation und über die Musik. Viele Webseiten haben für Internet-Benutzer eine eigene Cartoon-Welt errichtet. Die Comics in Zeitschriften gewinnen immer mehr Leser. Viele ausländische Bücher und Zeitschriften über Comics und Cartoons wurden ins Chinesische übersetzt, wobei besonders die USA und Japan viel davon profitiert haben.

Gegenwärtig richten die Cartoonmacher in den USA und Japan ihre Blicke auf den chinesischen Markt. Der Preis ihrer Produkte ist sehr niedrig, eine Minute kostet zum Teil nicht mehr als fünf Yuan. Ein äußerst ungewöhnlicher Fall betraf den US-amerikanischen Zeichentrickfilm „Transformer“. Die Hasbro Toy Company schenkte ihn dem chinesischen Zentralfernsehen CCTV, verdiente aber in der Folge von chinesischen Kindern fast fünf Milliarden Yuan mit Spielzeug, das sich auf den Film bezog. Der chinesische Cartoon-Markt befindet sich in der Übergangsphase vom Planwirtschafts- zum Marktwirtschaftssystem. Der ausländische Zustrom von Cartoonfilmen erschwert chinesischen Cartoonproduzenten das Leben zusätzlich.

Das bekannte Shanghaier Zeichentrickfilmstudio hat viel für die Vermarktung von Cartoonfilmen getan. Mit der „Lotoslaterne“ wurde zum ersten Mal Gewinn erzielt, doch die Vermarktung beschränkte sich auf VCD, CD und Bilderbücher. In letzter Zeit ist der Zeichentrickfilm „Ich bin verrückt nach Liedern“ in ganz China bekannt geworden. Die Einnahmen aus dem Merchandising machten 2/3 der Gesamteinnahmen aus. Noch bevor der Film in die Kinos kam, wurde in den Medien heiß darüber berichtet. Seine Nebenprodukte wie der Roman, Comics und CDs wurden in mehreren Städten verkauft. Doch der Erfolg konnte sich kaum mit den internationalen Einsätzen für einen Cartoonfilm vergleichen. Allein „Lion King“ erreichte mit Investitionen von 45 Mio. US-Dollar Gewinne im Wert von 750 Mio. US-Dollar.

Die Einführung des Marktsystems verlief nicht reibungslos. Der neue Cartoonfilm „Ich bin verrückt nach Liedern“ versuchte, Mittelschüler als Zielgruppe anzusprechen und entsprechende Produkte zu verkaufen. Aber der Film fiel bei den Kritikern durch. Sie meinten, dass der Film von der Handlung über die Figuren bis zu den Nebenprodukten zu japanisch sei und kritisierten auch, dass selbst die Filmproduzentin, die Firma Dacheng, auf Englisch mit „TAISEI“ übersetzt sei, offensichtlich nach der japanischen Aussprache. Dem entgegnete Herr Kong, Manager der Firma Dacheng: „Die Mittelschüler von heute schwärmen für japanische Dinge. Wenn wir Profit machen wollen, können wir nur diesen Weg gehen.“ Kritiker machen sich darüber Sorgen, dass der chinesische Cartoonfilm auf Irrwege geraten könnte.

Daneben wird die Entwicklung des chinesischen Cartoonfilms und verwandter Produkte von Raubkopien beeinträchtigt. Aus Furcht vor Raubkopien wollen viele Verlage keine Comics-Bücher oder -Zeitschriften herausgeben. Viele Kulturfirmen fördern die Zeichner nur beschränkt, so dass die Entwicklung des Cartoon-Sektors zusätzlich erschwert wird. Viele ausgezeichnete Zeichner sind schon ins Ausland abgewandert.

Frau Zhi Zhi, Generalsekretärin des Jugendvereins für Comics und Cartoons der Stadt Guangzhou, bedauert: „In Guangzhou ist es für Zeichner sehr schwer, ein Einzelwerk herauszugeben. Kein Verlag will das Risiko eingehen. Es gibt auch keine Verleger wie in Hongkong oder Japan, die eine umfassende Marketing-Compagne für einen Zeichner durchführen.“ Obwohl sie Comics liebt, bemerkt sie etwas bedrückt: „Hierzulande kann man tatsächlich nicht davon leben.“

Viele Comics-Zeichner leben nun im Ausland. Nach konservativen Schätzungen arbeiten etwa 300 Zeichner in ausländischen Firmen.

Li Yi, mit Pseudonym „Blutgruppe 0“, sehnt sich nach Freiheit und drückt gern mit seinem Pinsel im freien Stil seine Gefühle über das Leben und die Welt aus. Nun beschäftigt er sich hauptsächlich mit dem Zeichnen von Illustrationen. Sein Verstand obsiegte und ließ ihn seinen Traum, im eigenen Atelier als Zeichner zu arbeiten und davon zu leben, vorübergehend beiseite legen. Er meint, dass sich der Cartoonsektor in China erst noch zu einer Industrie entwickeln müsse. Es gebe derzeit weder eine kulturelle Grundlage noch qualifizierte Investoren, noch Unterstützung von Seiten der Medien und auch kein Umfeld für Comics. Er hatte sich voller Hoffnung für Comics eingesetzt und machte auch Überstunden ohne Entschädigung. Aber der 25-jährige Mann wurde allmählich realistisch. Durch viele Änderungen sowohl im Zeichenstil als auch im Geschäftsverhalten hat er ein Gleichgewicht im Widerspruch zwischen seinen Interessen und der Realität gefunden.

Die meisten seiner Fachkollegen sind nun in den Bereichen Film, Fernsehen und Werbung tätig. Sie betrachten Comic-Strips als ein Mittel, ihre Unzufriedenheit auszudrücken und sich zu entspannen. Li Yi hat sich von den handlungsreichen Comics schon etwas abgewendet und richtet seine Aufmerksamkeit eher auf die Verbindung von Illustration und grafischem Design. Vielleicht wird er eines Tages gar „Filme auf Papier“ (Cartoons) zum Laufen bringen.

Ein Fachkollege ist der Ansicht, „der japanische Comic tendiert zu Gewalt und Sex, während der amerikanische oft einen individualistischen Heroismus in den Mittelpunkt stellt. Der chinesische Comic kann das auf keinen Fall übernehmen. Der chinesische Comic kann sich nur entwickeln, wenn er seinen Blick auf gute Themen und einen eigenen Stil richtet.“

Bereits im Jahr 1996 lancierte die chinesische Regierung das Projekt „5155“ mit dem Ziel, einen Comic mit chinesischem Gepräge zu entwickeln. Herr Ren Qian, Zuständiger für die Programmverwaltung im Chinesischen Hauptamt für Rundfunk, Film und Fernsehen, meint, gegenwärtig sei es vordringlich, eine breite Produktionskapazität für Cartoons aufzubauen. Zur Zeit sind noch keine rein mit ausländischem Kapital gegründete Studios erlaubt. Unter Beibehaltung der staatlichen Kontrollmehrheit soll der Cartoonsektor umgestaltet werden. Zwei Produktionsstätten, die Abteilung für Cartoons von CCTV und die Unternehmensgruppe für Cartoonfilme und -serien in Shanghai befinden sich im Aufbau. Beide werden nach modernen Methoden geführt werden. Im Moment unterstützt und schützt der Staat den Cartoon- und Comicsektor. Eine Reihe von Bestimmungen über die Einfuhr und Ausstrahlung ausländischer Cartoonfilme wurden bereits erlassen, z. B. darf der Anteil ausländischer Produkte 40% der gesendeten Cartoons nicht übersteigen.

Gegenwärtig ist der wissenschaftliche Austausch im Cartoonsektor sehr belebt. Das Chinesische Hauptamt für Rundfunk, Film und Fernsehen veranstaltete die „Internationale Cartoonmesse“. „Beijing Cartoon“ organisierte die „Konferenz für Comics Beijing“. Außerdem veranstaltet das Magazin „Cartoonkönig“ jedes Jahr im August in Shanghai die „Internationale Ausstellung für Cartoons und Comics“.

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