Kunstverständnis
und
-werke
einer
alten Bäuerin
Von Gao
Zhuan
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Gao Fenglian vor Panorama vom Leben im Norden von Shaanxi
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Die alte Bäuerin Gao Fenglian,
1935 geboren, wurde früher öfters ausgezeichnet, mal als
herausragende Milizführerin, mal als Leiterin des Dorffrauenverbandes.
Auf Kunst hat sie sich erst vor 16 Jahren eingelassen,
und zwar durch die Teilname an einem Seminar für volkstümliche
Kunst 1986, das ihr ihre Schwiegertochter empfohlen hatte. Am
Anfang war ihr handwerkliches Geschick nicht besonders auffallend,
doch aus der Entwicklung ihres künstlerischen Schaffens ergaben
sich später Kunstwerke, die inzwischen im In- und Ausland
Aufsehen erregen und als repräsentative Werke der Scherenschnitte
Nordchinas angesehen werden. Aus einer Bäuerin wurde so
eine bedeutende Künstlerin. Dies läßt sich auf ihre
durch den Löss geprägte Lebensumgebung und ihr echtes
Verständis von heimischen Sitten und Bräuchen zurückführen,
die einen Bestandteil der kulturellen Tradition bilden.
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Zwei
Personen auf einem Pferd
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Geflüster
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Gao Fenglian stammt aus einem Dorf am Gelben
Fluss im Kreis Yanchuan, Provinz Shaanxi. Auf dem Löss-Plateau
liegt der Ursprung der chinesischen Kultur. Nach der chinesischen
Mythologie wurden die ersten Urmenschen hier geschaffen. Der
Gelbe Fluss hat hier zahlreiche Biegungen, die die Form aneinander
gereihter „S“ nehmen. Aus der Vogelperspektive sieht der Fluss
wie ein Diagramm von Yin und Yang aus. Das ist das Symbol des
Lebens. Lebenswille und -freude prägen Gao Fenglians künstlerische
Anschauung. Bei ihr geht es nicht um einfache „Mimesis“ der
Natur, vielmehr legt sie großen Wert auf eine Sinngebung,
die in der volkstümlichen Kulturtradition steht und in bestimmten
Fällen totemistische Elemente enthält. Wenn man Panorama
vom Leben im Norden von Shaanxi betrachtet, dann sieht
man, wie lebendig Gao Fenglian die Vielfalt des ländlichen
Lebens auf dem Plateau gestaltet hat. (Abb.1) Verschiedene Lebensbereiche
sind detailliert charakterisiert, hervorgehoben sind jedoch
die Fabeltiere Drachen und Phönix, die nach der chinesischen
Mythologie Lebensglück verheißen sollen.
Aus dem Landleben empfängt Gao Fenglian
Anregungen und Motive zum künstlerischen Schaffen, ihre Gestaltung
ist durchaus unkonventionell. Am Scherenschnitt Zwei Personen
auf einem Pferd (Abb. 2)lassen sich Lebenswille und –freude
der Menschen in einer von der Künstlerin genial geschaffenen
besonderen Situation deutlich erkennen. Viele Scherenschnitte
Gao Fenglians lassen sich symbolistisch deuten. Am Werk Geflüster
(Abb.3) ist die Sitte der Heiratsvermittlung im Dorf dargestellt.
Die Heiratsvermittlerin beobachtet hinter dem Baum das neue
Liebespaar, auf dem Baum stehen sieben Elstern, was für doppeltes
Glück steht – die Elster symbolisiert in China Glück, und die
ungerade Zahl sieben ist in Gao Fenglians Zahlensymbolik eine
Glückszahl.
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Mutter
und Sohn
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Mutter und Tochter
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Gao Fenglian liebt Stärke. Sie selbst
trägt den Spitznamen „kräftige Tigerin“. Fragt man,
ob sie etwas dagegen hat, sagt sie nein, denn „die Tigerin muss
kräftig sein, um die Jungtiere zu beschützen. Selbst eine
Henne weiß ihre Küken energisch zu verteidigen, wenn sie
angegriffen werden “. Die Mutterliebe ist ein zentrales Thema
in Mutter und Sohn (Abb. 4), Mutter und Tochter
(Abb.5 ) und Lamm saugt Milch (Abb. 6).
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Lamm saugt Milch
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Der fliegende Tiger
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Die
Tierfiguren vermitteln in Gao Fenglians Scherenschnitten stets
einen dynamischen Eindruck. Das zeigt sich besonders deutlich
in den Scherenschnitten mit dem Tigermotiv. Sie sagt, dass der
fliegende Tiger vom Himmel kommt. Das Fabeltier ist in der Darstellung
in groben Zügen weitgehend abstrahiert, so dass es sich als
Tiger kaum wiedererkennen lässt. Doch durch seine kraftvollen
Krallen und seine energische Bewegung wird eine ungewöhnliche
Dynamik erzeugt. (Abb. 7) Gao Fenglian sagt: „Die Beine sind
zum Bewegen da und können überallhin laufen. Beim Papier
in der Hand sind sie jedoch ganz anders als an einem echten
Tier. Wenn man die Beine eines Tiers dreht, dann empfindet es
Schmerzen. Beim Scherenschnitt kann man das Papier beliebig
bearbeiten. Man sollte deshalb die Vitalität des Tiers
durch die Gestaltung der Beine und Krallen zum Ausdruck bringen.
Wenn die Beine steif sind, dann verblasst die Ausstrahlung der
Darstellung. Ein neugeborenes Baby kann schreien und seine Arme
und Füße bewegen. Dabei zeigt es seine Lebenskraft. Auch
ein neugeborenes Tier kann erst nach heftigen Bewegungen stehen.“
Durch die Gestaltung der Beine kommt die Lebenskraft des Tiers
zum Ausdruck. So hat ihre Darstellung von Tigerbeinen fast immer
eine feste Form: Die Tiger strecken in den Scherenschnitten
ihre kräftigen Beine und Krallen in verschiedene Himmelsrichtungen
aus. (Abb.8)
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Ein kräftiger
Tiger
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Hähne und Pfingstrose
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Ein anderes sehr beliebtes Tiermotiv ist der
Hahn. Dazu meint Gao Fenglian: „Der Kopf des Hahns hat einen
Hahnenkamm. Der Küchengott reitet am 23. des zwölften Monats
des chinesischen Mondkalenders auf einem Hahn zum Himmel. Ein
Hahn hat auch zwei Beine, dies ist der Grund, warum bei vielen
volkstümlichen Veranstaltungen die Figur des Hahns verwendet
wird. Der Hahn ist ein göttliches Wesen. Er erblickt immer
als erster das Tageslicht. Bei seinem Krähen geht die Sonne
auf. Die Welt wird hell, und die bösen Geister wagen
keine böse Tat mehr.“ In Hähne und Pfingstrose
(Abb. 9) sind die Hähne als männliche Partei dargestellt,
sie spielen mit der Pfingstrose – diese Blume gilt in
der allgemeinen volkstümlichen Symbolik als weibliche Schönheit.
Daraus ergibt sich eine Verbindung von Yin und Yang. Die Gestaltung
von Tier und Pflanze erlangt dadurch einen höheren Sinngehalt.
Beim künstlerischen Schaffen
greift Gao Fenglian ein breites Spektrum von Motiven auf und
versucht mit Hilfe ihrer Kunstideen und meisterhaften Technik,
die Darstellungsmöglichkeiten zu erschöpfen. Für Gao
Fenglians künstlerische Leistung wurde sie vom Chinesischen
Verein für die Scherenschneidekunst als „Meisterin“ eingestuft
und gewürdigt.