Mai 2002
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Sonderberichte

Kunstverständnis und -werke

einer alten Bäuerin

Von Gao Zhuan

Gao Fenglian vor Panorama vom Leben im Norden von Shaanxi

Die alte Bäuerin Gao Fenglian, 1935 geboren, wurde früher öfters ausgezeichnet, mal als herausragende Milizführerin, mal als Leiterin des Dorffrauenverbandes. Auf  Kunst hat sie sich erst vor 16 Jahren eingelassen, und zwar durch die Teilname an einem Seminar für volkstümliche Kunst 1986, das ihr ihre Schwiegertochter empfohlen hatte. Am Anfang war ihr handwerkliches Geschick nicht besonders auffallend, doch aus der Entwicklung ihres künstlerischen Schaffens ergaben sich später Kunstwerke, die inzwischen im In- und Ausland Aufsehen erregen und als repräsentative Werke der Scherenschnitte Nordchinas angesehen werden. Aus einer Bäuerin wurde so eine bedeutende Künstlerin. Dies läßt sich auf ihre durch den Löss geprägte Lebensumgebung und ihr echtes Verständis von heimischen Sitten und Bräuchen zurückführen, die einen Bestandteil der kulturellen Tradition bilden.  

Zwei Personen auf einem Pferd
Geflüster

Gao Fenglian stammt aus einem Dorf am Gelben Fluss im Kreis Yanchuan, Provinz Shaanxi. Auf dem Löss-Plateau liegt der Ursprung der chinesischen Kultur. Nach der chinesischen Mythologie wurden die ersten Urmenschen hier geschaffen. Der Gelbe Fluss hat hier zahlreiche Biegungen, die die Form aneinander gereihter „S“ nehmen. Aus der Vogelperspektive sieht der Fluss wie ein Diagramm von Yin und Yang aus. Das ist das Symbol des Lebens. Lebenswille und -freude prägen Gao Fenglians künstlerische Anschauung. Bei ihr geht es nicht um einfache „Mimesis“ der Natur, vielmehr legt sie großen Wert auf eine Sinngebung, die in der volkstümlichen Kulturtradition steht und in bestimmten Fällen totemistische Elemente enthält. Wenn man Panorama vom Leben im Norden von Shaanxi  betrachtet, dann sieht man, wie lebendig Gao Fenglian die Vielfalt des ländlichen Lebens auf dem Plateau gestaltet hat. (Abb.1) Verschiedene Lebensbereiche sind detailliert charakterisiert, hervorgehoben sind jedoch die Fabeltiere Drachen und Phönix, die nach der chinesischen Mythologie Lebensglück verheißen sollen.

Aus dem Landleben empfängt Gao Fenglian Anregungen und Motive zum künstlerischen Schaffen, ihre Gestaltung ist durchaus unkonventionell. Am Scherenschnitt Zwei Personen auf einem Pferd (Abb. 2)lassen sich Lebenswille und –freude der Menschen in einer von der Künstlerin genial geschaffenen besonderen Situation deutlich erkennen. Viele Scherenschnitte Gao Fenglians lassen sich symbolistisch deuten. Am Werk Geflüster (Abb.3) ist die Sitte der Heiratsvermittlung im Dorf dargestellt. Die Heiratsvermittlerin beobachtet hinter dem Baum das neue Liebespaar, auf dem Baum stehen sieben Elstern, was für doppeltes Glück steht – die Elster symbolisiert in China Glück, und die ungerade Zahl sieben ist in Gao Fenglians Zahlensymbolik eine Glückszahl.

Mutter und Sohn
Mutter und Tochter

Gao Fenglian liebt Stärke. Sie selbst trägt den Spitznamen „kräftige Tigerin“. Fragt man, ob sie etwas dagegen hat, sagt sie nein, denn „die Tigerin muss kräftig sein, um die Jungtiere zu beschützen. Selbst eine Henne weiß ihre Küken energisch zu verteidigen, wenn sie angegriffen werden “. Die Mutterliebe ist ein zentrales Thema in Mutter und Sohn (Abb. 4), Mutter und Tochter (Abb.5 ) und Lamm saugt Milch (Abb. 6).

Lamm saugt Milch
Der fliegende Tiger

Die Tierfiguren vermitteln in Gao Fenglians Scherenschnitten stets einen dynamischen Eindruck. Das zeigt sich besonders deutlich in den Scherenschnitten mit dem Tigermotiv. Sie sagt, dass der fliegende Tiger vom Himmel kommt. Das Fabeltier ist in der Darstellung in groben Zügen weitgehend abstrahiert, so dass es sich als Tiger kaum wiedererkennen lässt. Doch durch seine kraftvollen Krallen und seine energische Bewegung wird eine ungewöhnliche Dynamik erzeugt. (Abb. 7) Gao Fenglian sagt: „Die Beine sind zum Bewegen da und können überallhin laufen. Beim Papier in der Hand sind sie jedoch ganz anders als an einem echten Tier. Wenn man die Beine eines Tiers dreht, dann empfindet es Schmerzen. Beim Scherenschnitt kann man das Papier beliebig bearbeiten. Man sollte deshalb die Vitalität des Tiers durch die Gestaltung der Beine und Krallen zum Ausdruck bringen. Wenn die Beine steif sind, dann verblasst die Ausstrahlung der Darstellung. Ein neugeborenes Baby kann schreien und seine Arme und Füße bewegen. Dabei zeigt es seine Lebenskraft. Auch ein neugeborenes Tier kann erst nach heftigen Bewegungen stehen.“ Durch die Gestaltung der Beine kommt die Lebenskraft des Tiers zum Ausdruck. So hat ihre Darstellung von Tigerbeinen fast immer eine feste Form: Die Tiger strecken in den Scherenschnitten ihre kräftigen Beine und Krallen in verschiedene Himmelsrichtungen aus. (Abb.8)

Ein kräftiger Tiger
Hähne und Pfingstrose

Ein anderes sehr beliebtes Tiermotiv ist der Hahn. Dazu meint Gao Fenglian: „Der Kopf des Hahns hat einen Hahnenkamm. Der Küchengott reitet am 23. des zwölften Monats des chinesischen Mondkalenders auf einem Hahn zum Himmel. Ein Hahn hat auch zwei Beine, dies ist der Grund, warum bei vielen volkstümlichen Veranstaltungen die Figur des Hahns verwendet wird. Der Hahn ist ein göttliches Wesen. Er erblickt immer als erster das Tageslicht. Bei seinem Krähen geht die Sonne auf.  Die Welt wird hell, und die bösen Geister wagen keine böse Tat mehr.“ In Hähne und Pfingstrose (Abb. 9) sind die Hähne als männliche Partei dargestellt, sie spielen mit der Pfingstrose – diese Blume gilt in der allgemeinen volkstümlichen Symbolik als weibliche Schönheit. Daraus ergibt sich eine Verbindung von Yin und Yang. Die Gestaltung von Tier und Pflanze erlangt dadurch einen höheren Sinngehalt.

Beim künstlerischen Schaffen greift Gao Fenglian ein breites Spektrum von Motiven auf und versucht mit Hilfe ihrer Kunstideen und meisterhaften Technik, die Darstellungsmöglichkeiten zu erschöpfen. Für Gao Fenglians künstlerische Leistung wurde sie vom Chinesischen Verein für die Scherenschneidekunst als „Meisterin“ eingestuft und gewürdigt.

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