Januar 2005
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Das Leben ist jetzt

 

Von Martin Winter

 

Frank Meinshausen stellt elf Erzählungen vor, deren Autoren zwischen 1961 und 1974 geboren wurden. Der Band wurde zuerst als „Die Enkel von Mao und Coca Cola“ angekündigt. Dem Rezensenten gefällt der jetzige Titel besser, besonders in Kombination mit dem Foto einer Aktion auf dem Titelblatt, wo ein junger Bursche ein Schild vor dem Bauch trägt, auf dem der Titel in chinesischen Zeichen leuchtet: 生活在此时. Dieses Titelblatt lässt schon ein bisschen ahnen, was diese elf Geschichten gemeinsam haben, und es macht dennoch neugierig. Es geht um die (häufig vergebliche, groteske und komische, aber auch sehr ernste und generell ausweglose) Suche nach irgendwie beispielhaften Existenzen, Gestalten und Emblemen an plötzlich irgendwie staffagenhaften Orten in einer Übergangszeit, deren Protagonisten eine fixe Idee darstellen, von der aber eigentlich gar nicht soviel feststeht und von der man nicht unbedingt weiß, was sie bedeutet. Es geht also um Künstler, oder zumindest um etwas zweifelhafte Existenzen. Es geht um chinesische Städte und ihre Randbereiche, mit all den Veränderungen, welche die Menschen darin zumindest in den letzten zwanzig Jahren erfahren haben, und auch jetzt gerade erfahren.

Auch das Vorwort erzählt von einer Suche, der Suche nach einer jüngeren Generation von Autoren. Mit einem Überblick zur derzeitigen Situation von Medien und (Künstler-) Gesellschaften, ihrer Reichweiten und ihrer Erreichbarkeit in China macht der Herausgeber deutlich, welche Schwierigkeiten und Besonderheiten seine Suche ausgemacht hat, bzw. ausgemacht haben. Im Vorwort werden daher auch nicht von ungefähr viele weitere Autoren genannt. Für die vorliegende Anthologie hat Frank Meinshausen daraus eine möglichst beispielhafte Auswahl von im deutschen Sprachraum noch weitgehend unbekannten jungen Erzählerinnen (vier) und Erzählern getroffen, die sich besonders auch mit kürzeren Geschichten einen Namen gemacht haben (die Bandbreite reicht von 9–26 Seiten in der Übersetzung).

„Bist du soweit“ von 戴来(Dai Lai) zeigt das Zusammenleben und Aufeinanderprallen  von Generationen. Ein junger Aktionskünstler und sein Vater geben einander eine aufregende improvisierte Vorstellung. Ihrem übrigen Publikum scheinen hohe Gebäude und eine große weite Welt noch keineswegs ganz alltäglich zu sein. Auch die Verständigung mit Ausländern, wenn sie überhaupt stattfindet, ist von einer recht anstrengenden Improvisation geprägt.

„Fernsteuerung“ von 毕飞宇 (Bi Feiyu) spielt ebenfalls in einem hohen, und in einem ganz besonders neuen und faszinierenden Gebäude. „Mit der Fernbedienung in der Hand kommandiere ich den ganzen Tag Männer und Frauen aller Hautfarben auf meinem Bildschirm.“ [S. 58] Die Protagonisten finden einander hingegen leider nur sehr kurz faszinierend und recht bald ganz und gar nicht mehr neu.

„Duanli in der alten Stadt Nanjing“ von 朱文 (Zhu Wen) ist eine hundsgemeine Klatschgeschichte. „Jetzt können wir endlich nach Herzenslust über Duanli reden. Denn sie ist am Himmel in diesem Augenblick, am Himmel! [...] Für niemanden überraschend hat sie heute Mittag um halb eins eine Maschine der Air France mit der Flugnummer 285 von Peking nach Paris bestiegen.“ [S. 65]

„Tief im Süden“ von 韩东 (Han Dong) stellt einen schüchternen und sensiblen Erzähler aus Nanjing vor, der eines Tages in den Süden reist, um in der verruchten Boomstadt Shenzhen am Rande Hong  Kongs etwas zu erleben.

„Gehörverlust“ von 马兰 (Ma Lan) ist der erzähltechnisch interessanteste und anspruchvollste Beitrag. Die Erzählerin wohnt in Amerika. Sowohl China und die chinesische Sprache, als auch gewisse andere Charakteristika, von denen ich oben einige erwähnt habe, werden jedoch in einer Weise bestimmend, welche die Geschichte sehr überzeugend mit den anderen in diesem Band verbindet.

„Der Weg nach Huashenmiao“ von 吴晨骏 (Wu Chenjun) spielt wieder in Nanjing und Umgebung. Und wiederum geht es um Künstler im Ausland und in China, in der Ehe und außerhalb.

„Qimao“ von 黄梵 (Huang Fan) hingegen findet „in unserer kleinen Stadt Huangzhou“ statt [S. 164]. Qimao ist der Name eines kriminellen Schlägers. Fast denkt man an eine Geschichte von Ma Yuan (geb. 1953). Es geht um Jugendliche in den siebziger Jahren, doch diese Geschichte spielt mehr als zwanzig Jahre danach.

„Sieben Jahre“ von 安妮宝贝 (Anni Baby) ist eine tragische Liebesgeschichte. Der Erzähler gibt sich die Schuld am Tod seiner Freundin, aber in Wirklichkeit kann oder will er noch immer nicht begreifen, was geschehen ist, und was er getan oder unterlassen hat.

„Die Problemfrau“ von 赵凝 (Zhao Ning) ist in gewisser Weise eine traditionelle Geschichte: Es gibt eine böse Schwiegermutter, und unterdrückte Sexualität rückt in recht manirierter, sowie auch etwas manischer Art in den Vordergrund.

„Ein schriller Schrei“ von 王艾 (Wang Ai) hat wieder einen sehr schüchternen Erzähler. Wie in der Geschichte von Bi Feiyu muss der Erzähler am Ende dafür bezahlen, dass er versucht hat, eine Frau zu bekommen. Welche Geschichte nun besser, und welche schlechter ausgeht, findet der Rezensent recht schwer zu entscheiden.

„China Wenxueshi Building“ von 李大卫 (Li Dawei) nimmt das Thema des Vorwortes wieder auf. Ein weiteres Mal geht es um ein Gebäude, und um eine ganz besonders vertrackte Kombination von mindestens vier Komponenten: alt und neu, einheimisch und ausländisch. Wie es sich für eine Erzählung gehört, die das Schreiben und den Autor als Begriffe thematisiert, kommt auch ein „Li Dawei“ vor. Von daher könnte man wieder an Ma Yuan, Ge Fei und einige andere schon etwas ältere Autoren denken.

„Das Leben ist jetzt“ ist eine wichtige Anthologie mit guten Beiträgen. Es wäre schön, wenn es bald noch mehr davon auf dem deutschsprachigen Markt gäbe.

Das Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China. Herausgegeben, übersetzt aus dem Chinesischen und mit einem Vorwort versehen von Frank Meinshausen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Kartoniert. 264 Seiten. ISBN 3-518-41471-2

 

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