Das
Leben ist jetzt
Von
Martin Winter
Frank Meinshausen stellt elf
Erzählungen vor, deren Autoren zwischen 1961 und 1974 geboren
wurden. Der Band wurde zuerst als „Die Enkel
von Mao und Coca Cola“ angekündigt. Dem Rezensenten gefällt
der jetzige Titel besser, besonders in Kombination mit dem Foto
einer Aktion auf dem Titelblatt, wo ein junger Bursche ein Schild
vor dem Bauch trägt, auf dem der Titel in chinesischen Zeichen
leuchtet: 生活在此时. Dieses Titelblatt lässt schon ein bisschen ahnen, was diese elf Geschichten
gemeinsam haben, und es macht dennoch neugierig. Es geht um
die (häufig vergebliche, groteske und komische, aber auch sehr
ernste und generell ausweglose) Suche nach irgendwie beispielhaften
Existenzen, Gestalten und Emblemen an plötzlich irgendwie staffagenhaften
Orten in einer Übergangszeit, deren Protagonisten eine fixe
Idee darstellen, von der aber eigentlich gar nicht soviel feststeht
und von der man nicht unbedingt weiß, was sie bedeutet. Es geht
also um Künstler, oder zumindest um etwas zweifelhafte Existenzen.
Es geht um chinesische Städte und ihre Randbereiche, mit all
den Veränderungen, welche die Menschen darin zumindest in den
letzten zwanzig Jahren erfahren haben, und auch jetzt gerade
erfahren.
Auch das Vorwort erzählt von
einer Suche, der Suche nach einer jüngeren Generation von Autoren.
Mit einem Überblick zur derzeitigen Situation von Medien und
(Künstler-) Gesellschaften, ihrer Reichweiten und ihrer Erreichbarkeit
in China macht der Herausgeber deutlich, welche Schwierigkeiten
und Besonderheiten seine Suche ausgemacht hat, bzw. ausgemacht
haben. Im Vorwort werden daher auch nicht von ungefähr viele
weitere Autoren genannt. Für die vorliegende Anthologie hat
Frank Meinshausen daraus eine möglichst beispielhafte Auswahl
von im deutschen Sprachraum noch weitgehend unbekannten jungen
Erzählerinnen (vier) und Erzählern getroffen, die sich besonders
auch mit kürzeren Geschichten einen Namen gemacht haben (die
Bandbreite reicht von 9–26 Seiten in der Übersetzung).
„Bist du soweit“ von 戴来(Dai Lai) zeigt das Zusammenleben und Aufeinanderprallen von Generationen.
Ein junger Aktionskünstler und sein Vater geben einander eine
aufregende improvisierte Vorstellung. Ihrem übrigen Publikum
scheinen hohe Gebäude und eine große weite Welt noch keineswegs
ganz alltäglich zu sein. Auch die Verständigung mit Ausländern,
wenn sie überhaupt stattfindet, ist von einer recht anstrengenden
Improvisation geprägt.
„Fernsteuerung“ von 毕飞宇 (Bi Feiyu) spielt ebenfalls in einem hohen, und
in einem ganz besonders neuen und faszinierenden Gebäude. „Mit
der Fernbedienung in der Hand kommandiere ich den ganzen Tag
Männer und Frauen aller Hautfarben auf meinem Bildschirm.“ [S.
58] Die Protagonisten finden einander hingegen leider nur sehr
kurz faszinierend und recht bald ganz und gar nicht mehr neu.
„Duanli in der alten Stadt Nanjing“
von 朱文 (Zhu Wen) ist eine hundsgemeine Klatschgeschichte.
„Jetzt können wir endlich nach Herzenslust über Duanli reden.
Denn sie ist am Himmel in diesem Augenblick, am Himmel! [...]
Für niemanden überraschend hat sie heute Mittag um halb eins
eine Maschine der Air France mit der Flugnummer 285 von Peking
nach Paris bestiegen.“ [S. 65]
„Tief im Süden“ von 韩东 (Han Dong) stellt einen schüchternen und sensiblen Erzähler
aus Nanjing vor, der eines Tages in den Süden reist, um in der
verruchten Boomstadt Shenzhen am Rande Hong Kongs etwas zu
erleben.
„Gehörverlust“ von 马兰 (Ma Lan) ist der erzähltechnisch interessanteste und anspruchvollste
Beitrag. Die Erzählerin wohnt in Amerika. Sowohl China und die
chinesische Sprache, als auch gewisse andere Charakteristika,
von denen ich oben einige erwähnt habe, werden jedoch in einer
Weise bestimmend, welche die Geschichte sehr überzeugend mit
den anderen in diesem Band verbindet.
„Der Weg nach Huashenmiao“ von
吴晨骏 (Wu Chenjun) spielt wieder in Nanjing und Umgebung.
Und wiederum geht es um Künstler im Ausland und in China, in
der Ehe und außerhalb.
„Qimao“ von 黄梵 (Huang Fan) hingegen findet „in unserer
kleinen Stadt Huangzhou“ statt [S. 164]. Qimao ist der Name
eines kriminellen Schlägers. Fast denkt man an eine Geschichte
von Ma Yuan (geb. 1953). Es geht um Jugendliche in den siebziger
Jahren, doch diese Geschichte spielt mehr als zwanzig Jahre
danach.
„Sieben Jahre“ von 安妮宝贝 (Anni Baby) ist eine tragische Liebesgeschichte. Der Erzähler gibt sich
die Schuld am Tod seiner Freundin, aber in Wirklichkeit kann
oder will er noch immer nicht begreifen, was geschehen ist,
und was er getan oder unterlassen hat.
„Die Problemfrau“ von 赵凝 (Zhao Ning) ist in gewisser Weise eine traditionelle Geschichte:
Es gibt eine böse Schwiegermutter, und unterdrückte Sexualität
rückt in recht manirierter, sowie auch etwas manischer Art in
den Vordergrund.
„Ein schriller
Schrei“ von 王艾 (Wang Ai) hat wieder einen sehr schüchternen Erzähler. Wie
in der Geschichte von Bi Feiyu muss der Erzähler am Ende dafür
bezahlen, dass er versucht hat, eine Frau zu bekommen. Welche
Geschichte nun besser, und welche schlechter ausgeht, findet
der Rezensent recht schwer zu entscheiden.
„China Wenxueshi
Building“ von 李大卫 (Li Dawei) nimmt das Thema des Vorwortes wieder auf.
Ein weiteres Mal geht es um ein Gebäude, und um eine ganz besonders
vertrackte Kombination von mindestens vier Komponenten: alt
und neu, einheimisch und ausländisch. Wie es sich für eine Erzählung
gehört, die das Schreiben und den Autor als Begriffe thematisiert,
kommt auch ein „Li Dawei“ vor. Von daher könnte man wieder an
Ma Yuan, Ge Fei und einige andere schon etwas ältere Autoren
denken.
„Das Leben
ist jetzt“ ist eine wichtige Anthologie mit guten Beiträgen.
Es wäre schön, wenn es bald noch mehr davon auf dem deutschsprachigen
Markt gäbe.
Das
Leben ist jetzt. Neue Erzählungen aus China. Herausgegeben,
übersetzt aus dem Chinesischen und mit einem Vorwort versehen
von Frank Meinshausen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2003. Kartoniert.
264 Seiten. ISBN 3-518-41471-2