Oktober 2004
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Ein Auslandsjahr daheim

Von Di Zhao

Es ist 6.30 Uhr. Chinesischer Zeit. Der Himmel ist rot von der aufgehenden Sonne. In fünf Minuten würde das Wohnheim leer sein. 2000 Schüler in Uniform stehen dann in Reih und Glied im Stadion zum allmorgendlichen Fahnenappell und Morgengymnastik.

So beginnt der Tag für jeden Schüler in China. Das hat auch bis letzte Woche ein Jahr lang für mich gegolten.

Ich  hatte mich entschlossen, nach der Mittelstufe ein Auslandsjahr zu absolvieren. Nur wo? Die USA, UK, Frankreich? Etwas Besonderes sollte es sein. Da bot sich Shanghai, China, bestens an. Viele High Schools der Millionenmetropole sind bereit, ausländische Schüler aufzunehmen. Ich hatte ein Internat am Stadtrand gewählt. „Wieso ein Auslandsjahr in China?“, wurde ich oft gefragt. Gründe dagegen gab es. Der verpasste Unterricht in Deutschland, der aufzuholen wäre, der chinesische Unterricht, der dafür berühmt ist, dass man kaum mithalten könne.

Ich gehöre zur 2. Generation von Chinesen im Ausland. Kinder, die vielleicht noch in China geboren sind, aber im Ausland aufgewachsen sind. Dadurch sind wir zumeist mehr durch die zweite Heimat geprägt, als durch China. In diesem Sinne ist das Auslandsjahr eine wichtige Gelegenheit zur Suche nach den eigenen Wurzeln. Wichtiger noch ist es, Land und Leute auf 0-Distanz kennen zu lernen. Ich habe die Sprache, nicht nur als Muttersprache, sondern auch als eine Sprache eines Landes, das Tag für Tag mehr im Lauf der Welt mitbestimmt, vor allem jedoch die Menschen, die die Zukunft Chinas gestalten, und ihr Leben kennen gelernt.

Es ist 9.00. Noch ist es kühl. Nach Frühstück, der Lesestunde am Morgen und einer Mathestunde haben wir Pause. Im Klassenraum sind ca. 50 Personen. Und weibliche Wesen scheinen, tatsächlich immer gleichzeitig Druck in der Blase zu verspüren, wie überall auf der Welt. Einige debattieren noch heftig über ein mathematisches Problem. Andere versuchen trotz des Lärms einen Moment Schlaf zu erhaschen. Lü Chengyin seufzt. Sie funkelt ihren Tischnachbarn wütend an. „Habe ich etwa bis ein Uhr Hausaufgaben gemacht, damit du jetzt mit abgeschriebenen Hausaufgaben herumprahlen kannst?“, murmelt sie. Er erzählt dem Grüppchen, das sich um ihn geschart hat, den neusten Klatsch vom Campus. Er erntet viele Lacher, es ist beinahe eine Probe zu seinem Moderationswettbewerb nächster Woche.

Chengyin’s Cousin hatte letztes Jahr sein Abitur gemacht. Dabei hatte er die 500-Punktegrenze zur Zulassung an die Uni um sechs Punkte verpasst. Ihre Eltern und sie selbst verstehen es nun oft als Mahnung: „Streng dich an.“ Denn oft entscheiden auch weniger als sechs Punkte über „Leben und Tod“. „Leben“ ist eine Zulassung an eine Elite-Uni oder zumindest eine der Top 100, „Tod“ ist das Nicht-Bestehen. Ein gutes Abi bedeutet einen guten Studienplatz. Eine gute Uni bedeutet Arbeit. Und auf ein gutes Abitur wird schon vom Krabbelalter an vorbereitet. Die Konkurrenz ist hart. Äußerst hart. Chengyin reibt sich die Augen. Die Masse der Hausaufgaben ist an ihren Augenringen abzulesen. Ich hätte ihr gern gesagt, dass bald Wochenende sei. Aber am Wochenende muss sie zur Nachhilfe, auch wenn sie zu den besten Schülern der Klasse gehört. Die Klavier- und Tanzstunden hat sie wegen des Zeitdrucks schon lange aufgegeben. Plötzlich weiß ich mich glücklich zu schätzen, nicht durch diese Mühle gedreht werden zu müssen. „In drei Jahren ist alles vorbei.“ Bis dahin muss sie mit den anderen noch viele Viertel-, Halbjahresprüfungen vorbereiten und ablegen, Bögen bearbeiten, zu vieles lernen, das sie „nie wieder brauchen“ werde. Dieses Bildungssystem wird „Tianyashi“ genannt. Etwa wie „Entenmästung“. Egal ob benötigt und verdaut oder nicht, die Ente muss nur schnell fett werden.

Der Beamer läuft. Im Licht der Projektion steht Mary, die energisch-kompakte Englischlehrerin, neben unserem 1,85 m-Lulatsch. Unten wird gekichert. Ebenso kontrastreich ist die Wahl der Lieblingskünstler für die Präsentation. Britney kam bisher zweimal vor, Westlife einmal. Ich habe mir Warhol ausgesucht. Der Lulatsch erzählt von der Karriere Gregory Pecks. Er ist nervös und verliert mehrmals den Faden. Es wird ihm verziehen, denn er ist der Basketballstar der Schule.

Es ist 12.00. Die Luft erwärmt sich, es wird drückend und schwül. Es ist Mittagspause. Ich sitze im Büro des Zuständigen für Austauschschüler. Die Austauschschülertruppe ohne die Koreaner, die für die ganze Oberstufe bleiben, ist einberufen worden. Französinnen, Japaner und Koreaner. Ein paar Kinder der 2. Generation sind auch darunter. Wir unterhalten uns über das Sportfest nächsten Monats. Der Lehrer kommt zur Sache. „Verreist jemand von euch in den Sommerferien?“, ein Japaner und ich melden sich. „Schade. Wir haben für euch homestays für die Sommerferien arrangiert. Eine chinesische Familie würde euch für zwei Wochen aufnehmen. Ihr könnt dann richtig chinesisch essen, trinken, Zeit vertreiben – chinesisch leben. Die Dinge, die ihr in der Schule nicht mitbekommt. Die Familien werden mit euch Unternehmungen und Ausflüge machen. Habt ihr Fragen oder Vorschläge?“ Die Französinnen tuscheln aufgeregt. Das ist aber nichts für mich. Denn ein chinesisches Elternhaus, Verwandte und ein chinesisches Aussehen habe ich schon. Wichtig ist jetzt, China zu verstehen. Ich habe einen Kurztrip nach Congming(Chongming?) mit Freunden aus der Schule geplant. Reisen auf ihre Art. Leben auf ihre Art, was vielleicht gar nicht mal so verschieden ist. In den Sommerferien würde ich ein Praktikum machen. Arbeiten auf chinesische Art. Wir Kinder der 2. Generation sitzen oft zwischen zwei Stühlen. Um nicht runter zu fallen, ist es wichtig, die beiden Stühle näher aneinander zu ziehen. Ich halte meine beiden Seiten, chinesisch und deutsch, aufrecht, und erschaffe eine geräumige Sitzfläche.

Es ist 18.00. Es ist dämmrig. Mücken schwirren durch den Klassenraum. Neonröhren und Ventilatoren sorgen für Licht und einen winzigen Windhauch. Alle haben die Uniform gegen ihre eigene Kleidung eingetauscht. Die Klassenlehrerin Madeleine Tao möchte Dai Yisheng unter vier Augen sprechen. Es geht um seine Haare. Der Sportlehrer hat im Sonnenlicht die leicht rötliche Färbung bemerkt. In der kleinen grünen Fibel sind alle unerwünschten Verhalten aufgelistet: Haare färben, Schmuck, ärmellose Kleidung, „ungesunde Jungen-Mädchen-Beziehungen“, Umarmungen. Aber einen Weg zum Umgehen der Regeln gibt es immer. Jetzt soll er zurück zum Friseur und sich die Haare zurückfärben lassen. Tao zieht sich die Kapuze über die Augen und lehnt sich zurück. Er sinnt über eine graue Färbung nach. Grau ist gerade die Mode schlechthin. Gegen einen ergrauten Greis kann auch niemand etwas einwenden.

Er gehört zu einer Generation, in der jeder Einzelkind ist, von den Eltern verwöhnt und doch unter großem Erwartungsdruck große Leistungen erbringen muss, und einer Generation, in der vielleicht einiges an Freiheit fehlt. Aber sie sind die Generation, die mit der Welt aufgewachsen ist, die für die Welt offen ist und für die, die Welt auch offen ist. Heute seufzen sie, ziehen sich Kapuzen in die Augen, und kämpfen mit Regeln, Erwartungen, Akne und ewig zu vielen Aufgaben. Aber, sie sind die Generation von morgen.

Es ist 22.00. Es ist dunkel. Aber der Himmel über Shanghai wird nie wirklich schwarz. Er leuchtet leicht grünbläulich. Meine Zimmergenossen bereiten sich auf eine lange Nacht vor. Sie haben den Countdown zum Abi begonnen. Für mich der Countdown bis zum Abflug. Tag Nr. einhundertzwanzig. Offiziell sollten alle Lichter gelöscht sein. Doch fürs Abi drücken auch mal die Betreuer ein Auge zu.

120 vergehen flugs.

Ich bin wieder in Deutschland. Mein Auslandsjahr ist zu Ende. Im Gepäck sind viele wunderschöne Erinnerungen an Mitschüler, Lehrer und Freunde. Daneben liegen meine Erfahrungen, die schon jetzt von großem Nutzen sind. Und ich habe meine Wurzeln gefunden. In China.

Nachtrag: Meine drei Zimmergenossen haben ihre Traumuniversitäten gemeistert. Chengyin ist auf dem Weg dahin. Und ihr Tischnachbar hat mir VIP-Karten für seine erste Fernsehsendung versprochen.

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