Ein
Auslandsjahr daheim
Von Di Zhao


Es
ist 6.30 Uhr. Chinesischer Zeit. Der Himmel ist rot von der
aufgehenden Sonne. In fünf Minuten würde das Wohnheim leer
sein. 2000 Schüler in Uniform stehen dann in Reih und Glied
im Stadion zum allmorgendlichen Fahnenappell und Morgengymnastik.
So beginnt
der Tag für jeden Schüler in China. Das hat auch bis letzte
Woche ein Jahr lang für mich gegolten.
Ich hatte mich
entschlossen, nach der Mittelstufe ein Auslandsjahr zu absolvieren.
Nur wo? Die USA, UK, Frankreich? Etwas Besonderes sollte es
sein. Da bot sich Shanghai, China, bestens an. Viele High
Schools der Millionenmetropole sind bereit, ausländische Schüler
aufzunehmen. Ich hatte ein Internat am Stadtrand gewählt.
„Wieso ein Auslandsjahr in China?“, wurde ich oft gefragt.
Gründe dagegen gab es. Der verpasste Unterricht in Deutschland,
der aufzuholen wäre, der chinesische Unterricht, der dafür
berühmt ist, dass man kaum mithalten könne.
Ich gehöre
zur 2. Generation von Chinesen im Ausland. Kinder, die vielleicht
noch in China geboren sind, aber im Ausland aufgewachsen sind.
Dadurch sind wir zumeist mehr durch die zweite Heimat geprägt,
als durch China. In diesem Sinne ist das Auslandsjahr eine
wichtige Gelegenheit zur Suche nach den eigenen Wurzeln. Wichtiger
noch ist es, Land und Leute auf 0-Distanz kennen zu lernen.
Ich habe die Sprache, nicht nur als Muttersprache, sondern
auch als eine Sprache eines Landes, das Tag für Tag mehr im
Lauf der Welt mitbestimmt, vor allem jedoch die Menschen,
die die Zukunft Chinas gestalten, und ihr Leben kennen gelernt.
Es ist 9.00. Noch ist es kühl. Nach
Frühstück, der Lesestunde am Morgen und einer Mathestunde
haben wir Pause. Im Klassenraum sind ca. 50 Personen. Und
weibliche Wesen scheinen, tatsächlich immer gleichzeitig Druck
in der Blase zu verspüren, wie überall auf der Welt. Einige
debattieren noch heftig über ein mathematisches Problem. Andere
versuchen trotz des Lärms einen Moment Schlaf zu erhaschen.
Lü Chengyin seufzt. Sie funkelt ihren Tischnachbarn wütend
an. „Habe ich etwa bis ein Uhr Hausaufgaben gemacht, damit
du jetzt mit abgeschriebenen Hausaufgaben herumprahlen kannst?“,
murmelt sie. Er erzählt dem Grüppchen, das sich um ihn geschart
hat, den neusten Klatsch vom Campus. Er erntet viele Lacher,
es ist beinahe eine Probe zu seinem Moderationswettbewerb
nächster Woche.
Chengyin’s
Cousin hatte letztes Jahr sein Abitur gemacht. Dabei hatte
er die 500-Punktegrenze zur Zulassung an die Uni um sechs
Punkte verpasst. Ihre Eltern und sie selbst verstehen es nun
oft als Mahnung: „Streng dich an.“ Denn oft entscheiden auch
weniger als sechs Punkte über „Leben und Tod“. „Leben“ ist
eine Zulassung an eine Elite-Uni oder zumindest eine der Top
100, „Tod“ ist das Nicht-Bestehen. Ein gutes Abi bedeutet
einen guten Studienplatz. Eine gute Uni bedeutet Arbeit. Und
auf ein gutes Abitur wird schon vom Krabbelalter an vorbereitet.
Die Konkurrenz ist hart. Äußerst hart. Chengyin reibt sich
die Augen. Die Masse der Hausaufgaben ist an ihren Augenringen
abzulesen. Ich hätte ihr gern gesagt, dass bald Wochenende
sei. Aber am Wochenende muss sie zur Nachhilfe, auch wenn
sie zu den besten Schülern der Klasse gehört. Die Klavier-
und Tanzstunden hat sie wegen des Zeitdrucks schon lange aufgegeben.
Plötzlich weiß ich mich glücklich zu schätzen, nicht durch
diese Mühle gedreht werden zu müssen. „In drei Jahren ist
alles vorbei.“ Bis dahin muss sie mit den anderen noch viele
Viertel-, Halbjahresprüfungen vorbereiten und ablegen, Bögen
bearbeiten, zu vieles lernen, das sie „nie wieder brauchen“
werde. Dieses Bildungssystem wird „Tianyashi“ genannt. Etwa
wie „Entenmästung“. Egal ob benötigt und verdaut oder nicht,
die Ente muss nur schnell fett werden.
Der Beamer
läuft. Im Licht der Projektion steht Mary, die energisch-kompakte
Englischlehrerin, neben unserem 1,85 m-Lulatsch. Unten wird
gekichert. Ebenso kontrastreich ist die Wahl der Lieblingskünstler
für die Präsentation. Britney kam bisher zweimal vor, Westlife
einmal. Ich habe mir Warhol ausgesucht. Der Lulatsch erzählt
von der Karriere Gregory Pecks. Er ist nervös und verliert
mehrmals den Faden. Es wird ihm verziehen, denn er ist der
Basketballstar der Schule.


Es ist
12.00. Die Luft erwärmt sich, es wird drückend und schwül.
Es ist Mittagspause. Ich sitze im Büro des Zuständigen für
Austauschschüler. Die Austauschschülertruppe ohne die Koreaner,
die für die ganze Oberstufe bleiben, ist einberufen worden.
Französinnen, Japaner und Koreaner. Ein paar Kinder der 2.
Generation sind auch darunter. Wir unterhalten uns über das
Sportfest nächsten Monats. Der Lehrer kommt zur Sache. „Verreist
jemand von euch in den Sommerferien?“, ein Japaner und ich
melden sich. „Schade. Wir haben für euch homestays für die
Sommerferien arrangiert. Eine chinesische Familie würde euch
für zwei Wochen aufnehmen. Ihr könnt dann richtig chinesisch
essen, trinken, Zeit vertreiben – chinesisch leben. Die Dinge,
die ihr in der Schule nicht mitbekommt. Die Familien werden
mit euch Unternehmungen und Ausflüge machen. Habt ihr Fragen
oder Vorschläge?“ Die Französinnen tuscheln aufgeregt. Das
ist aber nichts für mich. Denn ein chinesisches Elternhaus,
Verwandte und ein chinesisches Aussehen habe ich schon. Wichtig
ist jetzt, China zu verstehen. Ich habe einen Kurztrip nach
Congming(Chongming?) mit Freunden aus der Schule geplant.
Reisen auf ihre Art. Leben auf ihre Art, was vielleicht gar
nicht mal so verschieden ist. In den Sommerferien würde ich
ein Praktikum machen. Arbeiten auf chinesische Art. Wir Kinder
der 2. Generation sitzen oft zwischen zwei Stühlen. Um nicht
runter zu fallen, ist es wichtig, die beiden Stühle näher
aneinander zu ziehen. Ich halte meine beiden Seiten, chinesisch
und deutsch, aufrecht, und erschaffe eine geräumige Sitzfläche.
Es ist
18.00. Es ist dämmrig. Mücken schwirren durch den Klassenraum.
Neonröhren und Ventilatoren sorgen für Licht und einen winzigen
Windhauch. Alle haben die Uniform gegen ihre eigene Kleidung
eingetauscht. Die Klassenlehrerin Madeleine Tao möchte Dai
Yisheng unter vier Augen sprechen. Es geht um seine Haare.
Der Sportlehrer hat im Sonnenlicht die leicht rötliche Färbung
bemerkt. In der kleinen grünen Fibel sind alle unerwünschten
Verhalten aufgelistet: Haare färben, Schmuck, ärmellose Kleidung,
„ungesunde Jungen-Mädchen-Beziehungen“, Umarmungen. Aber einen
Weg zum Umgehen der Regeln gibt es immer. Jetzt soll er zurück
zum Friseur und sich die Haare zurückfärben lassen. Tao zieht
sich die Kapuze über die Augen und lehnt sich zurück. Er sinnt
über eine graue Färbung nach. Grau ist gerade die Mode schlechthin.
Gegen einen ergrauten Greis kann auch niemand etwas einwenden.
Er gehört
zu einer Generation, in der jeder Einzelkind ist, von den
Eltern verwöhnt und doch unter großem Erwartungsdruck große
Leistungen erbringen muss, und einer Generation, in der vielleicht
einiges an Freiheit fehlt. Aber sie sind die Generation, die
mit der Welt aufgewachsen ist, die für die Welt offen ist
und für die, die Welt auch offen ist. Heute seufzen sie, ziehen
sich Kapuzen in die Augen, und kämpfen mit Regeln, Erwartungen,
Akne und ewig zu vielen Aufgaben. Aber, sie sind die Generation
von morgen.
Es ist
22.00. Es ist dunkel. Aber der Himmel über Shanghai wird nie
wirklich schwarz. Er leuchtet leicht grünbläulich. Meine Zimmergenossen
bereiten sich auf eine lange Nacht vor. Sie haben den Countdown
zum Abi begonnen. Für mich der Countdown bis zum Abflug. Tag
Nr. einhundertzwanzig. Offiziell sollten alle Lichter gelöscht
sein. Doch fürs Abi drücken auch mal die Betreuer ein Auge
zu.
120 vergehen
flugs.
Ich bin
wieder in Deutschland. Mein Auslandsjahr ist zu Ende. Im Gepäck
sind viele wunderschöne Erinnerungen an Mitschüler, Lehrer
und Freunde. Daneben liegen meine Erfahrungen, die schon jetzt
von großem Nutzen sind. Und ich habe meine Wurzeln gefunden.
In China.
Nachtrag:
Meine drei Zimmergenossen haben ihre Traumuniversitäten gemeistert.
Chengyin ist auf dem Weg dahin. Und ihr Tischnachbar hat mir
VIP-Karten für seine erste Fernsehsendung versprochen.
