Kommunikationsschock
Von
Felix Nathanson
Sicher
konnte der Kontrast kaum größer sein: Aus der gemütlichen westfälischen
Universitätsstadt Münster hinein in die brodelnde Metropole
Beijing am anderen Ende der Welt. Da ich wenig Zeit und Gelegenheit
zur Vorbereitung hatte, ließ ich es darauf ankommen, durch diesen
Sprung ins kalte Wasser notgedrungen schwimmen zu lernen.
Als jemand, der
seiner deutschen Lebenswelt nicht gerade unkritisch gegenübersteht,
hatte ich mir fest vorgenommen, all dem Neuen, Seltsamen, Befremdlichen,
das mir in China begegnet, unvoreingenommen, mit Geduld und
Interesse zu begegnen. Ich hielt mich damit für einigermaßen
immun gegen die schlimmsten Kulturschocks. Verwirrender und
erstaunlicher waren dann auch oft gerade die vertrauten oder
vermeintlich westlichen Elemente der fernöstlichen Millionenstadt.
Schon in der Eingangshalle des Flughafens Beijing begrüßte mich
die auf Hochglanz polierte Limousine eines niedersächsischen
Automobilkonzerns, tausende weitere durchpflügen tagtäglich
Staub und Lärm der überfüllten Beijinger Straßen. Die Werbung
eines mittelständischen Heizkörperherstellers aus meiner badischen
Heimat schmückt nicht nur die Trikots eines dortigen Fußballvereins,
sondern auch die Türen der Beijinger U-Bahn. Überall wird Bier
getrunken. Die Stadt ist flächendeckend klimatisiert.
Konkrete optische Eindrücke vermögen einen Abkömmling meiner
von Bildern übersättigten Generation nicht mehr nachhaltig
zu irritieren. Kaum eine wenig sanitäre Anlage, wenig wohnliche
Behausung oder chaotische Verkehrssituation, die man nicht schon
einmal in großzügiger medialer Übertreibung gesehen hätte. Umso
intensiver reiben sich jedoch jene kulturellen Stoßkanten, die
sich nur schwer beschreiben oder darstellen lassen.
Am Institut für Kommunikationswissenschaft der
Universität Münster bekommt man zu Beginn des Studiums einiges
eingebläut, was man mit „Demut vor dem Wunder der Kommunikation“
umschreiben könnte. Der Mensch ist als geschlossenes kognitives
System derart in seiner eigenen Vorstellungswelt gefangen, dass
die erfolgreiche Verständigung mit anderen keinesfalls die etwas
problematische Regel, sondern jedesmal aufs Neue ein Glücksfall
ist. Wörter wie intersubjektive Nachvollziehbarkeit oder Allgemeinverständlichkeit
bekommen spätestens in Beijing einen ganz eigenen, fast magischen
Klang.
Die Unzugänglichkeit der chinesischen Sprache
ist hinlänglich bekannt. Ich traf ein in Beijing ohne einen
Brocken Chinesisch in meinem geistigen Gepäck. Viel ist seitdem
nicht hinzugekommen. Aber auch Gesten, Mimik, unbewusste Körpersprache,
die notgedrungene Verständigung mit Händen und Füßen hält einige
Überraschungen bereit.
Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind die
chinesischen Handzeichen für die Zahlen von eins bis zehn. Spreizt
man in Deutschland die Finger einer Hand vom Daumen an der Reihe
nach ab, so wird jeder Beobachter intuitiv davon auf die Zahlen
von eins bis fünf abstrahieren. Der chinesische Händler am Marktstand
sieht dagegen erst einen Daumen, den er bei einem Ausländer
mit etwas Wohlwollen vielleicht noch als Eins interpretieren
wird, aber eher als ein Zeichen der Zustimmung. Kommt dann der
Zeigefinger dazu, wird plötzlich eine Acht daraus. Zeigt ein
Chinese einem Bayern den zweifach angewinkelten Zeigefinger,
so fordert er ihm nicht zum Fingerhakeln heraus, sondern deutet
ihm an, dass er für das Kilo Bananen und die Mango bitteschön
neun Yuan möchte. Mit dem Victory-Zeichen dürfte man in China
allenfalls siegesgewiss zwei Bier bestellen, und mit erhobenem
Zeigefinger kann man den Markthändler lediglich dazu ermahnen,
einem nicht mehr als ein Brötchen zu geben. Deutet man ihm mit
Daumen und kleinem Finger anschließend verzweifelt an, dass
man mal eben telefonieren müsse, um seinen Dolmetscher zu rufen,
wird er einem vermutlich sechs einpacken.
Der Grund ist zugleich einfach und komplex: Die
chinesischen Handzeichen leiten sich von den Schriftzeichen
für die Zahlwörter von eins bis zehn ab. Wer das für umständlich
und abwegig hält, verkennt die große Bedeutung, die die Schriftzeichen
für die Verständigung in diesem riesigen Land haben. Als in
Europa die antiken Griechen vor 2800 Jahren von ihren phönizischen
Handelspartnern 24 simple Symbole übernahmen, legten sie damit
den Grundstein für die europäische Geistesgeschichte. Sie passten
die Zeichen der nordsemitischen Sprache ihrem Lautinventar an,
indem sie überflüssige Zeichen für Vokale verwendeten, und schufen
damit die erste europäische Alphabetschrift. Sie nutzen diese,
um mit den Epen Homers mündlich überlieferte Inhalte für die
Ewigkeit zu konservieren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings
schon seit etwa 1000 Jahren Schriftstücke in chinesischer Sprache,
die bis heute erhalten geblieben sind. Tausend Jahre später,
als die griechische Schrift allmählich ihre heute gebräuchliche
Form annahm, brachten die Chinesen bereits ihre Verehrung für
das unverwechselbare Wesen jedes ihrer komplexen Schriftzeichen
in der Kunst der Kalligraphie zum Ausdruck.
Dieser deutsche Text nutzt Buchstaben, Schallzeichen,
um gesprochene Wörter zu manifestieren, die ihrerseits einen
von ihrer Gestalt unabhängigen Sinn transportieren. Chinesische
Schriftzeichen haben dagegen eine von der Aussprache unabhängige
allgemein gültige Bedeutung. In einem Land, in dem sich mitunter
selbst Bewohner benachbarter Provinzen auf Grund sehr unterschiedlicher
Dialekte kaum mündlich verständigen konnten, bildeten sie damit
bis zur Einführung des Mandarin als allgemeine Hochsprache die
einzige übergreifende sprachliche Brücke. Wie unter Taubstummen
konnte es daher helfen, das Gesagte niederzuschreiben. Oder
eben die Zeichen mit der Hand anzudeuten. Meine intuitiven Versuche,
durch symbolisches Abzählen an den Fingern Zahlen auszudrücken
oder zu erfragen, haben mich allerdings nicht gerade weiter
gebracht.
Ein weiterer naiver Fehler war meine Annahme,
bei den hier angetroffenen chinesischen Wörtern in lateinischer
Schrift handle es sich um simple phonetische Umschreibungen
für Ausländer, die mehr oder weniger englischen Aussprachegewohnheiten
entsprechen. Tatsächlich geschah 1958 mit der Schaffung des
Pinyin, der ersten offiziellen chinesischen Lautumschrift, natürlich
das selbe, was schon die alten Griechen taten: Zeichen für kompatible
Laute wurden übernommen, während verwaiste Zeichen, deren Lautwert
im chinesischen keine Entsprechung fand, für Laute verwendet
wurden, die in der chinesischen Sprache wiederum einzigartig
sind. Wie zum Beispiel beim Buchstaben Q: Wie bereits im Altgriechischen,
so fehlt der Labiovelar auch im gesprochenen Mandarin, das Zeichen
wurde aber übernommen, um einen der zahlreichen Zischlaute darzustellen.
Meine Hauptaufgabe bei China Heute bestand bisher
darin, Texte der englischen Ausgabe ins Deutsche zu übersetzen.
Ich sitze also in einem Land, dessen Sprache mir ein absolutes
Rätsel ist, und übersetze Texte aus einer dritten, mir trotz
allem immer noch fremden Sprache in meine Muttersprache. Diese
seltsame Tätigkeit brachte für mich einige interessante Erkenntnisse.
Zunächst einmal die traurige Einsicht, dass ich bei aller Liebe
bisweilen auch von meiner eigenen Sprache lausig wenig Ahnung
habe. PISA lässt grüßen, und die bedauerlichen Wirrungen der
deutschen Rechtschreibreform tun ein Übriges. Gerade beim Übersetzen
englischer Texte meiner chinesischen Kollegen, die ihrerseits
ja auch keine Muttersprachler sind, wurde mir klar, wie sehr
Übersetzungsarbeit auch immer Interpretationsarbeit ist. Beim
Versuch, Aussage, Stil und Stimmung eines englischen Textes
gleichsam einzuschmelzen, um sie anschließend in die richtigen
Gussformen deutscher Sätze zu füllen, geriet ich oft genug an
die Grenzen, bis zu denen Wörterbücher hilfreich sind. Letztlich
erwies sich Übersetzen als unerwartet harte Arbeit, an deren
Ende oft genug ein wenig befriedigendes Ergebnis stand.
Bisher habe ich in Beijing leider mehr Englisch
als Chinesisch gelernt, und natürlich mit meinen chinesischen
Kollegen der deutschen Redaktion auch nur Deutsch gesprochen.
Wobei ich erwartungsgemäß feststellen musste, dass ein des Deutschen
mächtiger Chinese trotz fehlerfreier Aussprache und Grammatik
bisweilen noch weniger dieselbe Sprache spricht, als der deutsche
Kollege daheim. Identische Wörter können nur identische Welten
beschreiben.
Aus dieser teilweise völligen Kommunikationsohnmacht
heraus musste ich mich wiederum davor hüten, die vergleichsweise
unproblematische Verständigung mit Landsleuten für geschenkt
zu halten. Aus der Fremde heraus erscheint das Eigene gleich
doppelt vertraut. Wer gerade noch vom ungehemmten Redeschwall
eines Beijinger Taxifahrers etwa soviel verstanden hat, wie
ein Blinder von einer Rauhfasertapete, der bemüht sich anschließend
am Telefon kaum noch, mit der eigenen Mutter verständliches
Deutsch zu sprechen. Grober Fehler.