Oktober 2004
Ihre Position: Homepage >

Kommunikationsschock

Von Felix Nathanson

Sicher konnte der Kontrast kaum größer sein: Aus der gemütlichen westfälischen Universitätsstadt Münster hinein in die brodelnde Metropole Beijing am anderen Ende der Welt. Da ich wenig Zeit und Gelegenheit zur Vorbereitung hatte, ließ ich es darauf ankommen, durch diesen Sprung ins kalte Wasser notgedrungen schwimmen zu lernen.

Als jemand, der seiner deutschen Lebenswelt nicht gerade unkritisch gegenübersteht, hatte ich mir fest vorgenommen, all dem Neuen, Seltsamen, Befremdlichen, das mir in China begegnet, unvoreingenommen, mit Geduld und Interesse zu begegnen. Ich hielt mich damit für einigermaßen immun gegen die schlimmsten Kulturschocks. Verwirrender und erstaunlicher waren dann auch oft  gerade die vertrauten oder vermeintlich westlichen Elemente der fernöstlichen Millionenstadt. Schon in der Eingangshalle des Flughafens Beijing begrüßte mich die auf Hochglanz polierte Limousine eines niedersächsischen Automobilkonzerns, tausende weitere durchpflügen tagtäglich Staub und Lärm der überfüllten Beijinger Straßen. Die Werbung eines mittelständischen Heizkörperherstellers aus meiner badischen Heimat schmückt nicht nur die Trikots eines dortigen Fußballvereins, sondern auch die Türen der Beijinger U-Bahn. Überall wird Bier getrunken. Die Stadt ist flächendeckend klimatisiert.

Konkrete optische Eindrücke vermögen einen Abkömmling meiner von Bildern  übersättigten Generation nicht mehr nachhaltig zu irritieren. Kaum eine wenig sanitäre Anlage, wenig wohnliche Behausung oder chaotische Verkehrssituation, die man nicht schon einmal in großzügiger medialer Übertreibung gesehen hätte. Umso intensiver reiben sich jedoch jene kulturellen Stoßkanten, die sich nur schwer beschreiben oder darstellen lassen.

Am Institut für Kommunikationswissenschaft der Universität Münster bekommt man zu Beginn des Studiums einiges eingebläut, was man mit „Demut vor dem Wunder der Kommunikation“ umschreiben könnte. Der Mensch ist als geschlossenes kognitives System derart in seiner eigenen Vorstellungswelt gefangen, dass die erfolgreiche Verständigung mit anderen keinesfalls die etwas problematische Regel, sondern jedesmal aufs Neue ein Glücksfall ist. Wörter wie intersubjektive Nachvollziehbarkeit oder Allgemeinverständlichkeit bekommen spätestens in Beijing einen ganz eigenen, fast magischen Klang.

Die Unzugänglichkeit der chinesischen Sprache ist hinlänglich bekannt. Ich traf ein in Beijing ohne einen Brocken Chinesisch in meinem geistigen Gepäck. Viel ist seitdem nicht hinzugekommen. Aber auch Gesten, Mimik, unbewusste Körpersprache, die notgedrungene Verständigung mit Händen und Füßen hält einige Überraschungen bereit.

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel sind die chinesischen Handzeichen für die Zahlen von eins bis zehn. Spreizt man in Deutschland die Finger einer Hand vom Daumen an der Reihe nach ab, so wird jeder Beobachter intuitiv davon auf die Zahlen von eins bis fünf abstrahieren. Der chinesische Händler am Marktstand sieht dagegen erst einen Daumen, den er bei einem Ausländer mit etwas Wohlwollen vielleicht noch als Eins interpretieren wird, aber eher als ein Zeichen der Zustimmung. Kommt dann der Zeigefinger dazu, wird plötzlich eine Acht daraus. Zeigt ein Chinese einem Bayern den zweifach angewinkelten Zeigefinger, so fordert er ihm nicht zum Fingerhakeln heraus, sondern deutet ihm an, dass er für das Kilo Bananen und die Mango bitteschön neun Yuan möchte. Mit dem Victory-Zeichen dürfte man in China allenfalls siegesgewiss zwei Bier bestellen, und mit erhobenem Zeigefinger kann man den Markthändler lediglich dazu ermahnen, einem nicht mehr als ein Brötchen zu geben. Deutet man ihm mit Daumen und kleinem Finger anschließend verzweifelt an, dass man mal eben telefonieren müsse, um seinen Dolmetscher zu rufen, wird er einem vermutlich sechs einpacken.

Der Grund ist zugleich einfach und komplex: Die chinesischen Handzeichen leiten sich von den Schriftzeichen für die Zahlwörter von eins bis zehn ab. Wer das für umständlich und abwegig hält, verkennt die große Bedeutung, die die Schriftzeichen für die Verständigung in diesem riesigen Land haben. Als in Europa die antiken Griechen vor 2800 Jahren von ihren phönizischen Handelspartnern 24 simple Symbole übernahmen, legten sie damit den Grundstein für die europäische Geistesgeschichte. Sie passten die Zeichen der nordsemitischen Sprache ihrem Lautinventar an, indem sie überflüssige Zeichen für Vokale verwendeten, und schufen damit die erste europäische Alphabetschrift. Sie nutzen diese, um mit den Epen Homers mündlich überlieferte Inhalte für die Ewigkeit zu konservieren. Bis zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings schon seit etwa 1000 Jahren Schriftstücke in chinesischer Sprache, die bis heute erhalten geblieben sind. Tausend Jahre später, als die griechische Schrift allmählich ihre heute gebräuchliche Form annahm, brachten die Chinesen bereits ihre Verehrung für das unverwechselbare Wesen jedes ihrer komplexen Schriftzeichen in der Kunst der Kalligraphie zum Ausdruck.

Dieser deutsche Text nutzt Buchstaben, Schallzeichen, um gesprochene Wörter zu manifestieren, die ihrerseits einen von ihrer Gestalt unabhängigen Sinn transportieren. Chinesische Schriftzeichen haben dagegen eine von der Aussprache unabhängige allgemein gültige Bedeutung. In einem Land, in dem sich mitunter selbst Bewohner benachbarter Provinzen auf Grund sehr unterschiedlicher Dialekte kaum mündlich verständigen konnten, bildeten sie damit bis zur Einführung des Mandarin als allgemeine Hochsprache die einzige übergreifende sprachliche Brücke. Wie unter Taubstummen konnte es daher helfen, das Gesagte niederzuschreiben. Oder eben die Zeichen mit der Hand anzudeuten. Meine intuitiven Versuche, durch symbolisches Abzählen an den Fingern Zahlen auszudrücken oder zu erfragen, haben mich allerdings nicht gerade weiter gebracht.

Ein weiterer naiver Fehler war meine Annahme, bei den hier angetroffenen chinesischen Wörtern in lateinischer Schrift handle es sich um simple phonetische Umschreibungen für Ausländer, die mehr oder weniger englischen Aussprachegewohnheiten entsprechen. Tatsächlich geschah 1958 mit der Schaffung des Pinyin, der ersten offiziellen chinesischen Lautumschrift, natürlich das selbe, was schon die alten Griechen taten: Zeichen für kompatible Laute wurden übernommen, während verwaiste Zeichen, deren Lautwert im chinesischen keine Entsprechung fand, für Laute verwendet wurden, die in der chinesischen Sprache wiederum einzigartig sind. Wie zum Beispiel beim Buchstaben Q: Wie bereits im Altgriechischen, so fehlt der Labiovelar auch im gesprochenen Mandarin, das Zeichen wurde aber übernommen, um einen der zahlreichen Zischlaute darzustellen.

Meine Hauptaufgabe bei China Heute bestand bisher darin, Texte der englischen Ausgabe ins Deutsche zu übersetzen. Ich sitze also in einem Land, dessen Sprache mir ein absolutes Rätsel ist, und übersetze Texte aus einer dritten, mir trotz allem immer noch fremden Sprache in meine Muttersprache. Diese seltsame Tätigkeit brachte für mich einige interessante Erkenntnisse. Zunächst einmal die traurige Einsicht, dass ich bei aller Liebe bisweilen auch von meiner eigenen Sprache lausig wenig Ahnung habe. PISA lässt grüßen, und die bedauerlichen Wirrungen der deutschen Rechtschreibreform tun ein Übriges. Gerade beim Übersetzen englischer Texte meiner chinesischen Kollegen, die ihrerseits ja auch keine Muttersprachler sind, wurde mir klar, wie sehr Übersetzungsarbeit auch immer Interpretationsarbeit ist. Beim Versuch, Aussage, Stil und Stimmung eines englischen Textes gleichsam einzuschmelzen, um sie anschließend in die richtigen Gussformen deutscher Sätze zu füllen, geriet ich oft genug an die Grenzen, bis zu denen Wörterbücher hilfreich sind. Letztlich erwies sich Übersetzen als unerwartet harte Arbeit, an deren Ende oft genug ein wenig befriedigendes Ergebnis stand.

Bisher habe ich in Beijing leider mehr Englisch als Chinesisch gelernt, und natürlich mit meinen chinesischen Kollegen der deutschen Redaktion auch nur Deutsch gesprochen. Wobei ich erwartungsgemäß feststellen musste, dass ein des Deutschen mächtiger Chinese trotz fehlerfreier Aussprache und Grammatik bisweilen noch weniger dieselbe Sprache spricht, als der deutsche Kollege daheim. Identische Wörter können nur identische Welten beschreiben.

Aus dieser teilweise völligen Kommunikationsohnmacht heraus musste ich mich wiederum davor hüten, die vergleichsweise unproblematische Verständigung mit Landsleuten für geschenkt zu halten. Aus der Fremde heraus erscheint das Eigene gleich doppelt vertraut. Wer gerade noch vom ungehemmten Redeschwall eines Beijinger Taxifahrers etwa soviel verstanden hat, wie ein Blinder von einer Rauhfasertapete, der bemüht sich anschließend am Telefon kaum noch, mit der eigenen Mutter verständliches Deutsch zu sprechen. Grober Fehler.

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+--+-+-+-+--+-+-+--+-
Zurück