März 2003
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Schmeckt Beijing wie

die gleichnamige Zigarette?

Ein Bericht über einen China-Aufenthalt als Praktikant des Goethe-Instituts

Von Thomas Korytko

Kurz hinter St. Petersburg ist die Reiseflughöhe längst erreicht, und ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Freiheit stellt sich ein. Die letzten Eindrücke von Europa verblassen – Lichter kleinerer Städte, Flüsse, Fabriken, in zehntausend Metern Höhe kann man nicht genau sagen, was man dort unten sieht – um den Reisenden nach und nach in die schier unendlichen Weiten Asiens zu entlassen, die sich bald von tiefer Nacht umhüllt präsentieren werden. Noch sechs Stunden Flugzeit bis Beijing: das Abenteuer beginnt bei Anbruch des Tages.

Ein letzter europäischer Gruß – die Portion Gulasch mit Kartoffelpüree auf dem Klapptischchen vor mir wurde - formvollendet von der in meinem Rücken untergehenden Sonne untermalt, während das kleine blinkende Flugzeug auf dem Monitor über den engen Sitzreihen der Economy Class erst etwa ein Viertel des transkontinentalen Bogens in Form einer gestrichelten Linie hinter sich gebracht hatte.

Es war früher Morgen, August und Beijing - frei nach Cees Noteboom gesprochen – und bei meiner Ankunft im Reich der Mitte erinnerte ich mich wieder, was „kontinentaler Monsun“ bedeutet. Schon kurz nach der Landung war es sehr heiß an diesem späten Augusttag. So heiß, dass ich beschloss, alle guten Vorsätze und Erfahrungen hinter mir zu lassen und ein Privattaxi in die Innenstadt nahm. Hinter getönten Scheiben zog dann die Stadt an mir vorbei, die für die nächsten 9 Wochen mein Zuhause werden sollte. Etwa ein Jahr zuvor hatte ich mich – inspiriert durch eine Urlaubsreise nach Beijing – für einen Praktikumsplatz im Goethe-Institut der chinesischen Hauptstadt beworben. Als Germanistikstudent wollte ich erforschen, wie die deutsche Sprache und Kultur im Ausland vermittelt werden kann. Letztendlich erhielt ich auch den Zuschlag für das Praktikum und ließ das große Abenteuer auf mich zukommen. Eine Woche Urlaub in Beijing hatte dafür gereicht, dass ich mich für diese Stadt begeistern konnte. Würde diese Begeisterung jedoch während der zwei Monate des Arbeitens und Wohnens dort anhalten?

Des Chinesischen nicht mächtig, versuchte ich auf einem Stadtplan, die Route, die mein überteuertes Taxi nahm, zu verfolgen. Entlang des 3. Ringes ging es zur Beijing Foreign Studies University im Stadtteil Haidian. Adrenalin, Angst, Anspannung, alles ausgelöst durch die überwältigenden Eindrücke, die Beijing mir schon in den ersten Stunden nach meiner Ankunft bot, ließen meinem Jet-Lag vorerst keine Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. So viele Menschen, so viele Fahrzeuge, dazwischen Hochhäuser, verglaste Fassaden, IKEA... Kulturschock.

Der Taxifahrer lud meine Koffer auf dem Campus der Universität ab, die von nun an meine chinesische Heimat werden sollte und die unter ihren Studenten aus aller Welt nur „BeiWai“ genannt wurde. Es war zehn Uhr morgens, ich war völlig erschöpft, verschwitzt, müde und absolut fremd in dieser riesigen Stadt, der ich in diesem Moment am liebsten wieder den Rücken gekehrt hätte. Vom Eingang des Campus blickte ich auf den 3. Ring. Kohlenmonoxid und ohrenbetäubender Verkehrslärm vernebelten mir die Sinne. Hinter mir sprudelte ein Springbrunnen.

Das Goethe-Institut Beijing liegt auf dem Gebiet des östlichen Campus der Beijing Foreign Studies University. Bereits am Tag nach meiner Ankunft konnte ich meine Arbeit dort aufnehmen, und diese erwies sich als äußerst vielfältig. Mein Haupttätigkeitsbereich sollte die Sprachabteilung des Instituts sein, gleichzeitig gab man mir aber auch die Möglichkeit, Einblicke in den Bereich der pädagogischen Verbindungsarbeit und in die Programmabteilung zu erhalten. Schon nach einer Woche durfte ich selbstständig unterrichten. Ich war sehr erstaunt, wie positiv meine ersten „Gehversuche“ im Bereich Deutsch als Fremdsprache anstielen: Mir persönlich machte der Unterricht sehr viel Spaß, und meine Schüler waren motiviert und sehr umgänglich. Bei den Lernern im Goethe-Institut handelt es sich größtenteils um Studenten, die in China schon ein Studium abgeschlossen haben und nach dem Erwerb der deutschen Sprache in Deutschland studieren wollen. Viele von Ihnen sind mir gegenüber äußert freundlich und aufgeschlossen begegnet. In den Unterrichtsstunden, die ich erlebt bzw. gegeben habe, wurde viel gelacht, und insbesondere Mißverständnisse oder Verständigungsschwierigkeiten waren paradoxerweise die fruchtbarsten und interessantesten Kommunikationsanlässe für interkulturell bereichernde Diskussionen und Gespräche.

Die wohl interessanteste Aufgabe im Bereich der Spracharbeit war für mich die Konzeption und Durchführung eines Kurses, der sich speziell mit deutscher Literatur auseinandersetzen sollte. Hier standen weniger Grammatik und Wortschatz im Mittelpunkt, sondern vielmehr die gemeinsame Lektüre und Interpretation ausgewählter Texte, allesamt Klassiker der deutschen Literatur. Ein Kurs, der mich an die Grenzen meiner gerade frisch erworbenen Lehrkompetenz führen sollte: Kafka, zwölf Deutschlernende der Mittelstufe und ein Praktikant – womöglich hatte ich ein wenig zu hoch gegriffen. Ein Praktikum bringt nur dann wirkliche Erfahrungswerte mit sich, wenn man auch Scheitern gelernt, es als Chance begriffen hat und so den professionellen Umgang damit lernt. Zum Fremdsprachenunterricht gehören eben auch Brüche und Störungen der Kommunikation. Die Diskussionen über Kafkas Parabeln waren für mich als Germanistikstudent mit einem allzu eurozentristischen Blickwinkel philologisch gesehen höchst ergiebig. Den Schülern wollte ich nicht nur literarische Texte präsentieren, die konform und pflegeleicht daherkommen, davon gibt es schon zu viele in den Lehrbüchern. Gerade der interkulturelle Dialog in der Unterrichtssituation kann aufgewertet werden durch Texte, die auch mal verstören, sich wehren und widerspenstig sind.

Mein Tätigkeitsbereich war allerdings nicht nur auf das Unterrichten beschränkt. So hatte ich auch die Möglichkeit, bei den Vorbereitungen der Eröffnung eines Selbstlernzentrums für Deutsch-Lerner in der Xicheng-Stadtbezirksbibliothek mitzuhelfen. Dort haben chinesische Deutschlernende die Möglichkeit, sich anhand von rund 1000 Büchern und 700 audiovisuellen Medien über Deutschland zu informieren bzw. die deutsche Sprache anhand von Lehrwerken zu erlernen oder ihre Kenntnisse darüber zu vertiefen.

In die Zeit meines Chinaaufenthaltes fiel auch der chinesische Nationalfeiertag am ersten Oktober. Anstelle kollektiver Feierstunden oder kleinerer Reisen stand für mich jedoch die Arbeit auf der Messe „30 years with a future“ an, die im Millennium-Monument stattfand. Auch hier wurde gefeiert – jedoch ging es um das Jubiläum der diplomatischen Beziehungen zwischen der BRD und der VR China. Neben allen großen deutschen Wirtschaftsunternehmen war auch das Goethe-Institut mit einem Stand auf dieser Messe vertreten, um der eher wirtschaftlich geprägten Veranstaltung ein kulturelles Highlight hinzuzufügen. Der Beitrag des Instituts bestand im wesentlichen aus einer großen Ausstellung zur deutschen Kultur und Sprache. Zuvor hatte ich mit einer anderen Praktikantin aus der Sprachabteilung eine Art „Deutsch-Crash-Kurs“ für blutige Anfänger erstellt, der zu einer kleinen Broschüre für Ausstellungsbesucher umgestaltet wurde. Auf diesem Weg konnte sich nun jeder beim Besuch der Messe einige wenige Worte Deutsch aneignen. Die Messe war sehr gut besucht, insbesondere durch die vielen Menschen aus anderen Provinzen Chinas, die über die Feiertage in der Haupstadt waren. In meinen Arbeitspausen am Nachmittag stieg ich manchmal auf die drehbare Plattform des Millennium-Monuments, um den Blick über das Stadtzentrum Beijings zu genießen. Weiter südlich erblickte man das imposante Gebäude des Westbahnhofs, das mal mehr, mal weniger im Dunst versank. Es war Oktober und das Wetter war noch immer fast sommerlich.

Insbesondere in der Woche vor dem Nationalfeiertag fuhr ich abends gerne mit der U-Bahn auf den Tian´anmen-Platz. Hier herrschte ein buntes Treiben, an dem jeweils zigtausende von Menschen teilnahmen. Die großen Plakate und Blumenarrangements, die Lichterketten überall erinnerten mich an Weihnachten. Hatte ich eine Zeitung unter mir ausgebreitet, um für kurze Zeit Rast zu machen, scharten sich sofort neugierige Menschen um mich. Es wurde gelächelt, fotografiert, ungläubig gestarrt, so dass ich mir fast wie ein außerirdisches Wesen vorkam. Eine Gruppe jüngerer Chinesen überreichte mir schließlich eine kleine chinesische Flagge. Natürlich nicht einfach so geschenkt, zum Dank dafür mußte ich mich damit fotografieren lassen.

Vom Platz des himmlischen Friedens war der Weg nicht weit zur Hauptkonsummeile Beijings, der Wangfujing-Straße. Mich zogen weniger die großen Kaufhaus-Tempel und die Souvenirstände an, die meterweise Mao-Devotionalien in Form von Weckern, Tassen und Uhren unter die Touristen brachten; es waren die Nachtmärkten mit ihren Essensspezialitäten aus allen Regionen Chinas, die mich faszinierten. Wo sonst bekommt man die Gelegenheit, einmal Skorpion oder Frosch am Spieß genießen zu können? Die chinesische Küche hatte es mir besonders angetan, und so konnte ich mich zumindest in einem Punkt sehr chinesisch verhalten: Ein großer Teil meiner Freizeit bestand aus ritueller Essensaufnahme. Meist besuchte ich zweimal am Tag ein Restaurant, ohne während meines Aufenthaltes an Gewicht zuzunehmen. In besonders guter Erinnerung sind mir auch die großen Essensrunden mit anderen Studenten aus Japan, Deutschland und China geblieben: ausschweifende Mahlzeiten von kalten Gerichten über alle Sorten Fleisch und Gemüse bis hin zu Suppe und Reis. Danach wurde meist noch den sehr bekömmlichen chinesischen Spirituosen in Form des unverwüstlichen Ergoutou gefrönt.

Neben Essen und Unterrichten blieb jedoch auch immer viel Zeit für chinesische (Alltags-)Kultur. An freien Tagen oder am frühen Abend sattelte ich mein unverwüstliches „Flying Pigeon“ und machte mich auf den Weg, ohne Ziel. Fahrradfahren in Beijing ist nicht einfach Fahrradfahren, sondern eine metaphysische Erfahrung. Nach ein wenig Übungszeit kennt man die Wege, die PKWs, Busse und andere Räder nehmen und kann sich bequem in den Verkehrsstrom der Metropole eingliedern, ohne dabei ob der überlasteten Straßen und genervten anderen Verkehrsteilnehmer in Lebensgefahr zu geraten. Mein Fahrrad trug mich zum Einkaufen, durch Haidian und sogar bis zum Sommerpalast. Wenn ich mit dem Rad unterwegs war, hatte ich es automatisch nie eilig. Ich fuhr einige Straßen entlang, hielt, machte Fotos, fuhr einige Straßen weiter, um wieder anzuhalten und einen Laden anzusehen oder einen Markt oder auch, um etwas zu essen. Gerade so hat sich mir Beijing erschlossen. Je mehr ich eintauchte in diese Stadt und ihre Mikrostrukturen, je mehr ich lernte über das Verhalten ihrer Einwohner, über Land und Leute, je mehr ich er-fuhr, desto mehr Fragen kamen auf und desto größer wurde die Neugier auf mehr.

Auch durch die ruhigen Bezirke der fast dörflich anmutenden Beschaulichkeit der alten Stadtviertel, der Hutongs mit ihren Hofhäusern rings um die Verbotene Stadt. trug mich mein „Flying Pigeon“ und ließ mich darin versinken. Stets bewegte ich mich hier ohne Stadtplan, einfach von einer Gasse zur nächsten, auch Sackgassen konnten mir die Begeisterung nicht nehmen. In den Hutongs entfaltete Beijing einen stillen und trotzdem lebhaften, sehr besonderen Charme. Dann gab es die unzähligen kleinen und großen Parks und Tempelanlagen. Besonders reizvoll waren: die Sonnenuntergänge auf der Nordseite des Kohlehügels, wo nicht Heerscharen von Touristen bemüht sind, über Baumwipfel hinweg ein halbwegs gutes Foto der Dächer des Kaiserpalastes zu schießen, sondern dort, wo abends noch die älteren Beijinger zum Tai Chi kommen und mich als Zuschauer zu einem kurzen Augenblick der Ruhe und Meditation einluden.

Welchen Gegensatz dazu bot das laute Beijing! Riesige, mehrspurige Straßen, Alleen und von Betonträgern in der Luft gehaltene Stadtautobahnen, gesäumt von Hochhauswohnsiedlungen, unzähligen Restaurants mit bunten, der traditionellen chinesischen Bauart nachempfundenen Frontseiten, Glaspalästen... In Beijing erreichte ich die Grenzen meiner Aufnahmefähigkeit, so viel gab es zu sehen, was mein  europäisches Auge schnell überforderte. Das Bild, das mir von meiner Reise für immer im Kopf bleiben wird, ist das Dahingleiten auf meinem Fahrrad auf einer großen Straße, mitten im Getümmel und Chaos der Großstadt. Es vermittelte mir manchmal das Gefühl, nicht ich würde mich fortbewegen, sondern nur diese riesige Stadt um mich herum. Man selbst steht staunend, während sich Beijing in Lichtgeschwindigkeit um einen formt und verändert. China ist eine unersetzliche „Fremdheits-Erfahrung“, die einem ein wenig zu helfen vermag, den eurozentristischen Blickwinkel einmal abzustreifen und offen zu werden für Neues, Anderes und Ungewöhnliches.

Der leider viel zu kurze Aufenthalt und das Praktikum in China waren für mich eine wunderbare Erfahrung und es stimmte mich traurig, dass ich nach nur neun Wochen China, Peking und das Goethe-Insitut schon wieder verlassen mußte. Vom ersten Tag an habe ich mich im Institut, unter den Schülern, Lehrern und anderen Kollegen und Kolleginnen sehr wohl gefühlt, und ich konnte wertvolle Unterrichtserfahrungen sammeln, auf die ich sicherlich noch zurückgreifen werden könne.

Denke ich an Beijing zurück, so erinnere ich mich stets auch an den Duft, der mir in die Nase stieg, sobald ich auf die Straße trat. Die Abgase der Autos, die sich mit dem Gerüchen der Menschen, Restaurants und Garküchen mischten. Ein Duft – exotisch, rau und abenteuerlich –, der mir als Europäer so intensiv erschien, dass ich ihn fast schmecken zu können meinte. Beijing schmeckt für mich so wie die gleichnamige Zigarettenmarke und ich vermisse diesen Geschmack. Meine Erinnerungspackungen habe ich inzwischen fast aufgeraucht und ich brauche dringend ein paar neue.

Europa empfing mich mit Gulasch und Kartoffelpüree, nach Beijinger Zeit war es bereits nach 18 Uhr, aber immer noch schien die Sonne über den Wolken...

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