Von Thomas Korytko
Kurz
hinter St. Petersburg ist die Reiseflughöhe längst
erreicht, und ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Freiheit
stellt sich ein. Die letzten Eindrücke von Europa verblassen
– Lichter kleinerer Städte, Flüsse, Fabriken, in zehntausend
Metern Höhe kann man nicht genau sagen, was man dort unten
sieht – um den Reisenden nach und nach in die schier unendlichen
Weiten Asiens zu entlassen, die sich bald von tiefer Nacht umhüllt
präsentieren werden. Noch sechs Stunden Flugzeit bis Beijing:
das Abenteuer beginnt bei Anbruch des Tages.
Ein letzter europäischer Gruß –
die Portion Gulasch mit Kartoffelpüree auf dem Klapptischchen
vor mir wurde - formvollendet von der in meinem Rücken untergehenden
Sonne untermalt, während das kleine blinkende Flugzeug
auf dem Monitor über den engen Sitzreihen der Economy Class
erst etwa ein Viertel des transkontinentalen Bogens in Form
einer gestrichelten Linie hinter sich gebracht hatte.
Es war früher Morgen, August und Beijing -
frei nach Cees Noteboom gesprochen – und bei meiner Ankunft
im Reich der Mitte erinnerte ich mich wieder, was „kontinentaler
Monsun“ bedeutet. Schon kurz nach der Landung war es sehr heiß
an diesem späten Augusttag. So heiß, dass ich beschloss,
alle guten Vorsätze und Erfahrungen hinter mir zu lassen
und ein Privattaxi in die Innenstadt nahm. Hinter getönten
Scheiben zog dann die Stadt an mir vorbei, die für die nächsten
9 Wochen mein Zuhause werden sollte. Etwa ein Jahr zuvor hatte
ich mich – inspiriert durch eine Urlaubsreise nach Beijing –
für einen Praktikumsplatz im Goethe-Institut der chinesischen
Hauptstadt beworben. Als Germanistikstudent wollte ich erforschen,
wie die deutsche Sprache und Kultur im Ausland vermittelt werden
kann. Letztendlich erhielt ich auch den Zuschlag für das Praktikum
und ließ das große Abenteuer auf mich zukommen.
Eine Woche Urlaub in Beijing hatte dafür gereicht, dass ich
mich für diese Stadt begeistern konnte. Würde diese Begeisterung
jedoch während der zwei Monate des Arbeitens und Wohnens
dort anhalten?
Des Chinesischen nicht mächtig, versuchte
ich auf einem Stadtplan, die Route, die mein überteuertes Taxi
nahm, zu verfolgen. Entlang des 3. Ringes ging es zur Beijing
Foreign Studies University im Stadtteil Haidian. Adrenalin,
Angst, Anspannung, alles ausgelöst durch die überwältigenden
Eindrücke, die Beijing mir schon in den ersten Stunden nach
meiner Ankunft bot, ließen meinem Jet-Lag vorerst keine
Gelegenheit, sich bemerkbar zu machen. So viele Menschen, so
viele Fahrzeuge, dazwischen Hochhäuser, verglaste Fassaden,
IKEA... Kulturschock.
Der Taxifahrer lud meine Koffer auf dem Campus
der Universität ab, die von nun an meine chinesische Heimat
werden sollte und die unter ihren Studenten aus aller Welt nur
„BeiWai“ genannt wurde. Es war zehn Uhr morgens, ich war völlig
erschöpft, verschwitzt, müde und absolut fremd in dieser
riesigen Stadt, der ich in diesem Moment am liebsten wieder
den Rücken gekehrt hätte. Vom Eingang des Campus blickte
ich auf den 3. Ring. Kohlenmonoxid und ohrenbetäubender
Verkehrslärm vernebelten mir die Sinne. Hinter mir sprudelte
ein Springbrunnen.
Das Goethe-Institut Beijing liegt auf dem
Gebiet des östlichen Campus der Beijing Foreign Studies
University. Bereits am Tag nach meiner Ankunft konnte ich meine
Arbeit dort aufnehmen, und diese erwies sich als äußerst
vielfältig. Mein Haupttätigkeitsbereich sollte die
Sprachabteilung des Instituts sein, gleichzeitig gab man mir
aber auch die Möglichkeit, Einblicke in den Bereich der
pädagogischen Verbindungsarbeit und in die Programmabteilung
zu erhalten. Schon nach einer Woche durfte ich selbstständig
unterrichten. Ich war sehr erstaunt, wie positiv meine ersten
„Gehversuche“ im Bereich Deutsch als Fremdsprache anstielen:
Mir persönlich machte der Unterricht sehr viel Spaß,
und meine Schüler waren motiviert und sehr umgänglich.
Bei den Lernern im Goethe-Institut handelt es sich größtenteils
um Studenten, die in China schon ein Studium abgeschlossen haben
und nach dem Erwerb der deutschen Sprache in Deutschland studieren
wollen. Viele von Ihnen sind mir gegenüber äußert
freundlich und aufgeschlossen begegnet. In den Unterrichtsstunden,
die ich erlebt bzw. gegeben habe, wurde viel gelacht, und insbesondere
Mißverständnisse oder Verständigungsschwierigkeiten
waren paradoxerweise die fruchtbarsten und interessantesten
Kommunikationsanlässe für interkulturell bereichernde Diskussionen
und Gespräche.
Die wohl interessanteste Aufgabe im Bereich
der Spracharbeit war für mich die Konzeption und Durchführung
eines Kurses, der sich speziell mit deutscher Literatur auseinandersetzen
sollte. Hier standen weniger Grammatik und Wortschatz im Mittelpunkt,
sondern vielmehr die gemeinsame Lektüre und Interpretation ausgewählter
Texte, allesamt Klassiker der deutschen Literatur. Ein Kurs,
der mich an die Grenzen meiner gerade frisch erworbenen Lehrkompetenz
führen sollte: Kafka, zwölf Deutschlernende der Mittelstufe
und ein Praktikant – womöglich hatte ich ein wenig zu hoch
gegriffen. Ein Praktikum bringt nur dann wirkliche Erfahrungswerte
mit sich, wenn man auch Scheitern gelernt, es als Chance begriffen
hat und so den professionellen Umgang damit lernt. Zum Fremdsprachenunterricht
gehören eben auch Brüche und Störungen der Kommunikation.
Die Diskussionen über Kafkas Parabeln waren für mich als Germanistikstudent
mit einem allzu eurozentristischen Blickwinkel philologisch
gesehen höchst ergiebig. Den Schülern wollte ich nicht
nur literarische Texte präsentieren, die konform und pflegeleicht
daherkommen, davon gibt es schon zu viele in den Lehrbüchern.
Gerade der interkulturelle Dialog in der Unterrichtssituation
kann aufgewertet werden durch Texte, die auch mal verstören,
sich wehren und widerspenstig sind.
Mein Tätigkeitsbereich war allerdings
nicht nur auf das Unterrichten beschränkt. So hatte ich
auch die Möglichkeit, bei den Vorbereitungen der Eröffnung
eines Selbstlernzentrums für Deutsch-Lerner in der Xicheng-Stadtbezirksbibliothek
mitzuhelfen. Dort haben chinesische Deutschlernende die Möglichkeit,
sich anhand von rund 1000 Büchern und 700 audiovisuellen Medien
über Deutschland zu informieren bzw. die deutsche Sprache anhand
von Lehrwerken zu erlernen oder ihre Kenntnisse darüber zu vertiefen.
In die Zeit meines Chinaaufenthaltes fiel
auch der chinesische Nationalfeiertag am ersten Oktober. Anstelle
kollektiver Feierstunden oder kleinerer Reisen stand für mich
jedoch die Arbeit auf der Messe „30 years with a future“ an,
die im Millennium-Monument stattfand. Auch hier wurde gefeiert
– jedoch ging es um das Jubiläum der diplomatischen Beziehungen
zwischen der BRD und der VR China. Neben allen großen
deutschen Wirtschaftsunternehmen war auch das Goethe-Institut
mit einem Stand auf dieser Messe vertreten, um der eher wirtschaftlich
geprägten Veranstaltung ein kulturelles Highlight hinzuzufügen.
Der Beitrag des Instituts bestand im wesentlichen aus einer
großen Ausstellung zur deutschen Kultur und Sprache. Zuvor
hatte ich mit einer anderen Praktikantin aus der Sprachabteilung
eine Art „Deutsch-Crash-Kurs“ für blutige Anfänger erstellt,
der zu einer kleinen Broschüre für Ausstellungsbesucher umgestaltet
wurde. Auf diesem Weg konnte sich nun jeder beim Besuch der
Messe einige wenige Worte Deutsch aneignen. Die Messe war sehr
gut besucht, insbesondere durch die vielen Menschen aus anderen
Provinzen Chinas, die über die Feiertage in der Haupstadt waren.
In meinen Arbeitspausen am Nachmittag stieg ich manchmal auf
die drehbare Plattform des Millennium-Monuments, um den Blick
über das Stadtzentrum Beijings zu genießen. Weiter südlich
erblickte man das imposante Gebäude des Westbahnhofs, das
mal mehr, mal weniger im Dunst versank. Es war Oktober und das
Wetter war noch immer fast sommerlich.
Insbesondere in der Woche vor dem Nationalfeiertag
fuhr ich abends gerne mit der U-Bahn auf den Tian´anmen-Platz.
Hier herrschte ein buntes Treiben, an dem jeweils zigtausende
von Menschen teilnahmen. Die großen Plakate und Blumenarrangements,
die Lichterketten überall erinnerten mich an Weihnachten. Hatte
ich eine Zeitung unter mir ausgebreitet, um für kurze Zeit Rast
zu machen, scharten sich sofort neugierige Menschen um mich.
Es wurde gelächelt, fotografiert, ungläubig gestarrt,
so dass ich mir fast wie ein außerirdisches Wesen vorkam.
Eine Gruppe jüngerer Chinesen überreichte mir schließlich
eine kleine chinesische Flagge. Natürlich nicht einfach so geschenkt,
zum Dank dafür mußte ich mich damit fotografieren lassen.
Vom Platz des himmlischen Friedens war der
Weg nicht weit zur Hauptkonsummeile Beijings, der Wangfujing-Straße.
Mich zogen weniger die großen Kaufhaus-Tempel und die
Souvenirstände an, die meterweise Mao-Devotionalien in
Form von Weckern, Tassen und Uhren unter die Touristen brachten;
es waren die Nachtmärkten mit ihren Essensspezialitäten
aus allen Regionen Chinas, die mich faszinierten. Wo sonst bekommt
man die Gelegenheit, einmal Skorpion oder Frosch am Spieß
genießen zu können? Die chinesische Küche hatte es
mir besonders angetan, und so konnte ich mich zumindest in einem
Punkt sehr chinesisch verhalten: Ein großer Teil meiner
Freizeit bestand aus ritueller Essensaufnahme. Meist besuchte
ich zweimal am Tag ein Restaurant, ohne während meines
Aufenthaltes an Gewicht zuzunehmen. In besonders guter Erinnerung
sind mir auch die großen Essensrunden mit anderen Studenten
aus Japan, Deutschland und China geblieben: ausschweifende Mahlzeiten
von kalten Gerichten über alle Sorten Fleisch und Gemüse bis
hin zu Suppe und Reis. Danach wurde meist noch den sehr bekömmlichen
chinesischen Spirituosen in Form des unverwüstlichen Ergoutou
gefrönt.
Neben Essen und Unterrichten blieb jedoch
auch immer viel Zeit für chinesische (Alltags-)Kultur. An freien
Tagen oder am frühen Abend sattelte ich mein unverwüstliches
„Flying Pigeon“ und machte mich auf den Weg, ohne Ziel. Fahrradfahren
in Beijing ist nicht einfach Fahrradfahren, sondern eine metaphysische
Erfahrung. Nach ein wenig Übungszeit kennt man die Wege,
die PKWs, Busse und andere Räder nehmen und kann sich bequem
in den Verkehrsstrom der Metropole eingliedern, ohne dabei ob
der überlasteten Straßen und genervten anderen Verkehrsteilnehmer
in Lebensgefahr zu geraten. Mein Fahrrad trug mich zum Einkaufen,
durch Haidian und sogar bis zum Sommerpalast. Wenn ich mit dem
Rad unterwegs war, hatte ich es automatisch nie eilig. Ich fuhr
einige Straßen entlang, hielt, machte Fotos, fuhr einige
Straßen weiter, um wieder anzuhalten und einen Laden anzusehen
oder einen Markt oder auch, um etwas zu essen. Gerade so hat
sich mir Beijing erschlossen. Je mehr ich eintauchte in diese
Stadt und ihre Mikrostrukturen, je mehr ich lernte über das
Verhalten ihrer Einwohner, über Land und Leute, je mehr ich
er-fuhr, desto mehr Fragen kamen auf und desto größer
wurde die Neugier auf mehr.
Auch durch die ruhigen Bezirke der fast dörflich
anmutenden Beschaulichkeit der alten Stadtviertel, der Hutongs
mit ihren Hofhäusern rings um die Verbotene Stadt. trug
mich mein „Flying Pigeon“ und ließ mich darin versinken.
Stets bewegte ich mich hier ohne Stadtplan, einfach von einer
Gasse zur nächsten, auch Sackgassen konnten mir die Begeisterung
nicht nehmen. In den Hutongs entfaltete Beijing einen stillen
und trotzdem lebhaften, sehr besonderen Charme. Dann gab es
die unzähligen kleinen und großen Parks und Tempelanlagen.
Besonders reizvoll waren: die Sonnenuntergänge auf der
Nordseite des Kohlehügels, wo nicht Heerscharen von Touristen
bemüht sind, über Baumwipfel hinweg ein halbwegs gutes Foto
der Dächer des Kaiserpalastes zu schießen, sondern
dort, wo abends noch die älteren Beijinger zum Tai Chi
kommen und mich als Zuschauer zu einem kurzen Augenblick der
Ruhe und Meditation einluden.
Welchen Gegensatz dazu bot das laute Beijing!
Riesige, mehrspurige Straßen, Alleen und von Betonträgern
in der Luft gehaltene Stadtautobahnen, gesäumt von Hochhauswohnsiedlungen,
unzähligen Restaurants mit bunten, der traditionellen chinesischen
Bauart nachempfundenen Frontseiten, Glaspalästen... In
Beijing erreichte ich die Grenzen meiner Aufnahmefähigkeit,
so viel gab es zu sehen, was mein europäisches Auge
schnell überforderte. Das Bild, das mir von meiner Reise für
immer im Kopf bleiben wird, ist das Dahingleiten auf meinem
Fahrrad auf einer großen Straße, mitten im Getümmel
und Chaos der Großstadt. Es vermittelte mir manchmal das
Gefühl, nicht ich würde mich fortbewegen, sondern nur diese
riesige Stadt um mich herum. Man selbst steht staunend, während
sich Beijing in Lichtgeschwindigkeit um einen formt und verändert.
China ist eine unersetzliche „Fremdheits-Erfahrung“, die einem
ein wenig zu helfen vermag, den eurozentristischen Blickwinkel
einmal abzustreifen und offen zu werden für Neues, Anderes und
Ungewöhnliches.
Der leider viel zu kurze Aufenthalt und das
Praktikum in China waren für mich eine wunderbare Erfahrung
und es stimmte mich traurig, dass ich nach nur neun Wochen
China, Peking und das Goethe-Insitut schon wieder verlassen
mußte. Vom ersten Tag an habe ich mich im Institut, unter
den Schülern, Lehrern und anderen Kollegen und Kolleginnen sehr
wohl gefühlt, und ich konnte wertvolle Unterrichtserfahrungen
sammeln, auf die ich sicherlich noch zurückgreifen werden könne.
Denke ich an Beijing zurück, so erinnere ich
mich stets auch an den Duft, der mir in die Nase stieg, sobald
ich auf die Straße trat. Die Abgase der Autos, die sich
mit dem Gerüchen der Menschen, Restaurants und Garküchen mischten.
Ein Duft – exotisch, rau und abenteuerlich –, der mir als Europäer
so intensiv erschien, dass ich ihn fast schmecken zu können
meinte. Beijing schmeckt für mich so wie die gleichnamige Zigarettenmarke
und ich vermisse diesen Geschmack. Meine Erinnerungspackungen
habe ich inzwischen fast aufgeraucht und ich brauche dringend
ein paar neue.
Europa empfing mich mit Gulasch und Kartoffelpüree,
nach Beijinger Zeit war es bereits nach 18 Uhr, aber immer noch
schien die Sonne über den Wolken...