Alte
Wohnhöfe, neues Wohnviertel in Nanchizi
Von Zhan Ni


Als Zhang
Fenghe wieder vor der Reihe neulich umgebauter Siheyuan (ein
Siheyuan ist ein auf allen vier Seiten von ebenerdigen Häusern
umgebener viereckiger Wohnhof) an der Nanchizi-Straße
östlich des Tian’anmen-Platzes stand, legte sich eine
Mischung aus Sehnsucht und Reue auf sein Gesicht.
47
Jahre lang lebte er in einem Siheyuan aus dunklen Backsteinen
und grauen Dachziegeln. Zum Schutz der alten Bauwerke beschloss
die Beijinger Stadtregierung vor einem Jahr, die Nanchizi-Straße,
die auf eine Geschichte von einigen hundert Jahren zurückblicken
kann, zu restaurieren. Da Zhang Fenghe einige Maßnahmen
der Stadtregierung für die Umsiedlung nicht akzeptieren konnte,
zog seine Familie ins Quartier Di’anmen um, das ein gutes
Stück vom Tian’anmen (dem Tor des Himmlischen Friedens) entfernt
liegt. Dennoch sind die Alltagsszenen im alten Siheyuan und
die besondere kulturelle Atmosphäre der ehemaligen Kaiserstadt
tief in seiner Erinnerung geblieben.
Nanchizi,
wo die Familie von Zhang Fenghe wohnte, liegt südöstlich
des Kaiserpalastes und war in der Ming- (1368–1644) und der
Qing-Dynastie (1644–1911) ein Bestandteil der Kaiserstadt.
In den Häusern hier waren in der Ming-Dynastie Angehörige
des Hofs, die für das Leben der kaiserlichen Familie und die
alltäglichen Angelegenheiten des Kaisers zuständig
waren, einquartiert. In der Qing-Dynastie entwickelte sich
Nanchizi allmählich zum Lagerviertel der Behörde
für innere Angelegenheiten. Ortsnamen wie Ciqiku (Depot der
Porzellanwaren) und Denglong (Laternen)-Gasse sind historisch
überliefert. In der Zeit der Republik China (1912–1949) wurde
das Straßenviertel von Familien bewohnt, aber nicht
von gewöhnlichen. „Die meisten waren Nachkommen der kaiserlichen
Familien der Ming- und Qing-Dynastie, gesellschaftliche Prominenzen
und wichtige Regierungsbeamte. In neuerer Zeit wohnten hier
der General Luo Ruiqing und der General Zhang Yunyi“, sagt
Zhang Fenghe stolz. Wie seine welterfahrenen ehemaligen Nachbarn
ist Zhang Fenghe sehr stolz, dass er im gleichen Straßenviertel
gewohnt hat wie so viele wichtige Persönlichkeiten.
In
den letzten Jahren hat die dicke Mauer an der Einmündung der
Nanchizi-Straße in die Chang’an-Straße das Wohnviertel
nicht nur vom lebhaften Verkehr abgeschirmt, sondern auch
seine Ruhe bewahrt und das Erscheinungsbild und die Atmosphäre
eines traditionellen Beijinger Wohnviertels erhalten. Die
ordentlich aneinander gereihten Siheyuan heben die noble und
glanzvolle Verbotene Stadt hervor.
Zhang
Fenghe wohnte von klein auf in einem viereckigen Wohnhof,
was er dem Reichtum der Familien seiner Eltern zu verdanken
hat. Seine Mutter stammte aus einer angesehenen Familie in
Nordostchina, die mit dem berühmten Zhang Xueliang enge
Freundschaft pflegte. Zhang Fenghes Vater war der Hauptverwalter
der Verlagsbuchhandlung auf dem Dong’an-Markt an der Wangfujing-Straße,
der Geschäftsstraße Nr. 1 in China. Es ist deshalb
nicht verwunderlich, dass seine Familie ein Siheyuan mit einem
Dutzend Häusern bewohnte. „Meine Familie hatte drei Häuser
auf der nördlichen Seite, je ein kleines Zimmer an den
beiden Seiten, und je drei Häuser auf der östlichen
und westlichen Seite. Außerdem gab es weitere Gebäude
für die Küche, das Esszimmer und Toiletten. Der mit Steinmetzarbeiten
verzierte und bemalte Torbogen und die Abschirmwand dahinter
wirkten imposant“, sagt Zhang. Mit ihnen zusammen wohnten
die Familien seiner zwei Onkel. Am Wochenende ging sein Vater
jeweils in den kaiserlichen Garten (heute der Zhongshan-Park),
um Gymnastik zu machen, dann las er am Stadtgraben stehend
laut vor. Die Kinder folgten ihm hüpfend. Die Verbotene Stadt,
die Ecktürme, den schimmernden Changpu-Fluss am Weg und den
Pudu-Tempel gegenüber dem Haupteingang seines Wohnhofs wird
er nie vergessen.
Die
Zeiten aber ändern sich. Die Ruhe im Wohnhof der Familie
Zhang wurde gestört. Die Familien seiner Onkel erhielten
neue Wohnungen zugewiesen und zogen aus dem Siheyuan aus.
Wegen des Bevölkerungsanstiegs und weil der Wohnungsbau
damit nicht mithalten konnte, requirierte die Regierung viele
Häuser der Familie Zhang, um sie an Familien abzugeben,
die kein Dach über dem Kopf hatten. So blieben der Familie
Zhang nur zwei Hauptwohnhäuser, also zwei nach Süden
gerichtete Häuser im Hof übrig. Die mehr als zehn Familien
machten den Hof besonders eng und gedrängt. 1976 erschütterte
das starke Erdbeben in Tangshan, 200 km nördlich von
Beijing, auch die Hauptstadt, und auf dem freien Platz in
Zhangs Wohnhof wurden kreuz und quer einige Holzbuden gebaut.
Die Wohnanlage der Zhangs war nach einem Brand im Jahr 1917
wieder aufgebaut worden, so dass die Qualität der Häuser
nicht mehr so gut war wie früher. Das alte Siheyuan nahm an
der dichten Besiedlung Schaden und wirkte immer verworrener.
Die vielen Familien mussten sich eine Toilette und einen Wasserhahn
teilen, außerdem kochten sie auf Brikettöfen, so
dass immer Brandgefahr bestand. Eine Verbesserung der Wohnqualität
war äußerst dringend.
Nach
dem Umbau der Nanchizi-Straße im August 2002 fuhr Zhang
Fenghe jede Woche mit dem Fahrrad hin. Obwohl seine Familie
Nanchizi bereits verlassen hatte, fühlte er sich dem Ort untrennbar
verbunden. Da er den alten Wohnhof in jeder Einzelheit kannte,
sah er sich die Bauausführung jedesmal genau an. Er sorgte
sich besonders um die Restaurierung des Haupttors des Siheyuan.
Seiner Ansicht nach hat das Haupttor eine besondere symbolische
Bedeutung. Es spiegelt den Status, die Stellung, den Geschmack
und den Ehrgeiz des Besitzers wider. Seine Struktur, seine
Türhöhe, seine Ausmaße, seine Propotion und seine
Stufen müssen aufeinander abgestimmt sein. Mit dem renovierten
Haupttoran der Putuosi Houxiang Nr. 10, war er sehr zufrieden:
„Das ist sehr angemessen. Der alte Stil des Siheyuan ist zum
großen Teil erhalten. Das mit Eisenblechen beschlagene
rote Tor, die bronzenen Torringe, die Stufen und der bemalte
Torbogen strahlen noch den Reiz der alten Beijinger Wohnhöfe
aus.“ Nur die Steintrommeln vor dem Haupttor, wo er und seine
Spielkameraden in der Kindheit Verstecken gespielt, Geschichten
erzählt und Spaß getrieben hatten, waren verschwunden,
weswegen er ein Gefühl des Verlusts nicht vermeiden konnte.
Ein
Stangengerüst zum Ziehen von Kletterpflanzen, zwei Blumenbeete,
drei Steintische und zwölf Steinhocker schmücken heute
den Wohnhof. Die rot und grün bemalten Fenstergitter und die
braunen Fenster und Türen passen gut zu den grauen Wänden
und Dachziegeln und den dunklen Backsteinen. In die Freude,
dies alles wiederzusehen, mischt sich bei Zhang Fenghe auch
die Reue, den Siheyuan verlassen zu haben.
Cheng
Deqing, mit Kosenamen „Dezi“, wohnte im gleichen Siheyuan
und war einer von Zhang Fenghes Spielkameraden. Er gehörte
zu einer der vielen Familien, die in den Wohnhof zogen. Dezi
ist nach dem Umbau in den Siheyuan zurückgekehrt und wohnt
jetzt wieder dort. „Nur hier bin ich zu Hause. Selbst die
Luft ist hier anders.“ Dezi hat gerade seinen lange erwarteten
Hausschlüssel bekommen. Als er sah, dass der einst gedrängte
und schäbige Wohnhof in ein ordentliches und gemütliches
Siheyuan umgewandelt wurde, konnte er seine Freude nicht verbergen.
Dezis
Erinnerung an das frühere Nanchizi ist immer noch frisch.
Damals
musste seine zehnköpfige Familie aus vier Generationen
mit knapp 40 m2 Wohnraum auskommen. Wenn es regnete,
musste Dezi sofort nach Hause eilen, denn das Hausdach musste
mit Dachpappe bedeckt und das aufgestaute Wasser im Hof weggeschöpft
werden. Dezi bemerkt sarkastisch: „Ich habe jahrzehntelang
in Nanchizi gewohnt und bin nun ein hervorragender Handwerker.“
Nach
der Meinung von Dezi vereinen sich im umgebauten Wohnviertel
in Nanchizi Tradition und Moderne. Sein Haus ist an die Wasserversorgung
und das Abwasser angeschlossen, es gibt eine Heizung, Erdgas
und neue Stromleitungen sowie eine Küche und eine Toilette.
Sogar ein Breitband-Internet-Anschluss fehlt nicht. Früher
konnte Dezi in der Gasse keinen Parkplatz für sein Auto finden,
heute steht eine öffentliche Garage mit 160 Parkplätzen
unter dem Pudu-Tempel zur Verfügung. Trotzdem ist Dezi in
einigen Punkten mit der Hauskonstruktion unzufrieden. Er findet
die Küche und die Toilette zu klein, und im möblierten
Wohnzimmer kann er kaum drei Gäste bewirten. „Es sieht
ganz danach aus, dass ich meine Gäste im Hof empfangen
muss.“
Dezi
ist froh, dass er nicht wie Zhang Fenghe umgezogen ist. „Als
ich hörte, dass Nanchizi umgebaut wurde, sprach ich mit
meiner Familie darüber, in eine Überbauung umzuziehen.
Wir dachten, dass der umgebaute Siheyuan sehr teuer werden
würde und wir ihn uns gar nicht leisten könnten. Doch
mein Vater brachte es nicht übers Herz, sich von der Garküche,
wo er fast jeden Morgen frühstückte, zu trennen. Hinzu kommt,
dass der Kulturpalast der Werktätigen, in dem er jeden
Tag einen Spaziergang macht, gleich um die Ecke liegt. Auch
die Nachbarn kennen wir seit vielen Jahren. Der Wunsch meines
Vaters und die harte Realität stürzten mich in ein Dilemma.
Doch zum Glück gewährte uns die Regierung einen ermäßigten
Kredit mit niedrigeren Darlehenszinsen. Sonst hätten
wir es nie gewagt zu glauben, dass wir eines Tages zurückziehen
würden.
Als Zhang
Fenghe Dezis Worten zuhört, überkommt ihn plötzlich
der Wunsch, auch zurückzuziehen, denn der umgebaute Siheyuan
setzt ihn ins alte Beijing zurück.
Informationen
zum Umbau der Nanchizi-Straße
Die Abrissfläche
für das Umbauprojekt in der Nanchizi-Straße beträgt
54 000m2, das ist die Hälfe der Gesamtfläche
in Nanchizi. Von den alten Häusern waren 91,96% baufällig.
Unter den 103 Wohnhöfen, die in das Projekt aufgenommen
wurden, hat man 31 erhalten und restauriert, die anderen wurden
neu gebaut oder umgebaut. In 49 der neuen Wohnhöfe wurde
nicht nur der traditionelle Beijinger Baustil bewahrt, sondern
auch die Wohnqualität verbessert.
Verlauf,
Ort und Namen der Gassen haben sich nicht geändert. Ein
Teil der Häuser wurde aufgestockt. Im Erdgeschoss befinden
sich Wohnzimmer, Küche und Toilette, über eine Treppe gelangt
man ins Schlafzimmer im oberen Stock. Die Häuser an der
Straße bleiben dagegen ebenerdig.
Die Siheyuan
in Nanchizi sind das erste Viertel in Beijing, das unter kulturhistorischem
Schutz steht und versuchsweise restauriert wurde. Ende August
2003 zogen 300 Familien in die 103 neuen Siheyuan ein.