November 2002
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Sonderberichte

Die Reisende Liao Jia

Von Yan Xiaohong

„Als ich die Mittelschule besuchte, war Geographie mein Lieblingsfach.“ Die in Freizeitkleidung und Sportschuhen gekleidete, zierliche Liao Jia erzählt lächelnd von ihrer Schulzeit. „Vielleicht konnte das dünne Lehrbuch meinen Wissensdrang nicht befriedigen, jedenfalls sehnte ich mich damals danach, eines Tages alles mit meinen eigenen Augen zu sehen.“

Heute erfüllt sich Liao Jia gerade ihren ersehnten Wunsch. Als bekannte Autoreisende aus Beijing machte sie zwischen 1996 und 2000 zehn Reisen mit ihrem Fiat Uno und besuchte 28 Provinzen, regierungsunmittelbare Städte und Autonome Gebiete. Nur in Tibet, Hainan und Chongqing war sie noch nicht. Auf ihren Fahrten legte sie etwa 80000 km zurück. Und Sie ist von einer Hobbyreisenden zu einer wahrhaftigen Reisenden geworden. 2001 umrundete sie allein den eurasischen Kontinent, was es noch nie gegeben hatte, und wurde damit die erste Chinesin, die allein mit dem Auto eine ausgedehnte Reise ins Ausland unternahm.

Am 7. Juli 2002 saß Liao Jia wieder in ihrem Auto. Sie wird während eines halben Jahres durch 31 Provinzen, regierungsunmittelbare Städte und Autonome Gebiete auf dem chinesischen Festland reisen – eine Fahrt von 60 000 km.

Liao Jia ist keine Profi-Autorennfahrerin, sie hat auch keinen Kurs für Autoreparatur besucht. Sie berichtet jeden Tag mit ihrer Kamera und ihrem Laptop über ihre Erlebnisse, die viele Chinesen faszinieren.

Ein unerwartetes Ergebnis

1991 schloss Liao Jia ihr Studium an der Chinesischen Volksuniversität in Beijing ab und arbeitete eine Zeit lang in Shenzhen. Ab 1993 war sie bei einer Werbeagentur in Beijing tätig.

Ihre Arbeit bot ihr viele Gelegenheiten zu Dienstreisen. Sie flog oft zwischen verschiedenen Städten hin und her und besichtigte nebenbei ihre Sehenswürdigkeiten. Weil sie ihre Aufmerksamkeit nicht ganz der Arbeit schenkte, verlor sie viele wichtige Kunden. Im Sommer 1996 entschloss sie sich, nach Tibet zu reisen und sich dabei zu entspannen. Danach wollte sie ihre bisherige Arbeit aufgeben und eine routinemäßige Büroarbeit aufnehmen.

Das Ergebnis der Tibet-Reise war jedoch ganz wider Erwarten. Sie fuhr mit einem Mietwagen von Lhasa nach Tingri. Unterwegs wurde sie von der einzigartigen Landschaft in Bann genommen. Gleichzeitig wurde ihr bewusst, dass eine Reise mit dem eigenen Wagen viel leichter und interessanter war, selbst wenn man sich nicht im besten Zustand befand oder die Umstände hart waren.

Die Tibet-Reise veränderte ihr Leben. Von da an begann sie mit ihren Autoreisen.

Einen Monat später wagte sie es schon, allein mit dem neu gekauften Fiat Uno von Beijing aus zur Shandong-Halbinsel aufzubrechen. Erst fünf Wochen davor hatte sie den Führerschein erworben und noch nicht einmal 2500 km zurückgelegt. Doch diese erfolgreiche Alleinfahrt versicherte Liao Jia, eine Autoreisende werden zu wollen.

Ein anderes Leben

Wie besessen hat Liao Jia all ihre Zeit, Energie und ihr Geld für die Autoreisen eingesetzt. Ihre Freunde und Verwandten hielten sie für verrückt. „Wenn ich erklären muss, was mich anzieht“, sagte Liao Jia, „so denke ich, es sind die unzähligen schönen Sehenswürdigkeiten und Landschaften und die unerwarteten Begegnungen sowie die Freiheit, unter dem weiten Himmel nach meinem Willen das Lenkrad zu steuern. Diese Freiheit begeistert und fasziniert mich.“

Für sie sind die Reisen manchmal sehr romantisch. Einmal fuhr Liao Jia auf dem weiten und ebenen Hexi-Korridor in Westchina. Der starke Nordwind wehte vom Plateau der Inneren Mongolei über die Gebirge in die geräumige Ebene. Liao Jias Wagen wiegt bloß 840 kg, deshalb musste sie das Lenkrad mit aller Kraft festhalten, damit er nicht umkippte. Plötzlich erblickte sie Überreste der Großen Mauer aus der Ming-Dynastie (1368–1644). Die aus Lehm und Löß gebaute alte Mauer durchmaß die Ödnis auf beiden Seiten der Straße, die mit dem schneeweißen Hauptgipfel des Qilan-Gebirges einen reizvollen Kontrast bildete.  In der Sommerhitze spiegelten sich das Schneegebirge und die Große Mauer auf der Straße. Fasziniert und ergriffen fuhr Liao Jia durch die von Natur, Geschichte und Menschlichkeit gebildete Szenerie.

Liao Jia sagt, am meisten liebe sie Sonnenuntergänge. Während der Fahrt durch den eurasischen Kontinent fuhr sie einmal auf der Autobahn in Spanien, um den Sonnenuntergang an der Küste von San Sebastián zu bewundern. Als die Sonne hinter dem Horizont verschwand, erfasste sie Melancholie und sie war ganz gerührt.

Doch auf ihren Reisen gibt es nicht nur Romantik. Oft genug hat Liao Jia mit harten Bedingungen zu kämpfen, es geht ihr das Geld aus oder sie trifft auf andere Schwierigkeiten, die man sich nur schwer vorstellen kann. Liao Jia isst oft einen ganzen Tag lang nur trockenes Brot. Als sie nach ihrer Reise durch 31 Länder wieder in Beijing ankam, war sie wie gerädert. Sie konnte ihre Arme kaum noch heben. Auf dem Rückweg nach Beijing litt sie plötzlich an einem Magengeschwür und hatte hohes Fieber. Als sie in Beijing ihre Freunde wieder traf, sagte sie nur: „Ich habe nur noch 60 Yuan bei mir, ich muss sofort mein Autorenhonorar abholen!“

Ein großartiger Plan

Im Moment fährt Liao Jia zum zweiten Mal durch China, diesmal in einem Fiat Palio. Vor dem Aufbrechen sagte sie: „In den fünf Jahren zwischen Herbst 1996, als ich zum ersten Mal mit dem Auto nach Shandong fuhr, und 2001, als ich von der asiatisch-europäischen Reise zurückkam, erkannte ich meinen Wert als Autoreisende. Er liegt nicht in den Reisen, die ich gemacht habe, sondern darin, dass in China das Zeitalter des Familienautos bevorsteht. Zur Zeit befindet sich China noch in der Anfangsphase, doch immerhin sind allein in Beijing schon 540 000 private Wagen zu verzeichnen. Immer mehr Besitzer von Privatautos stellen sich die Frage, was sie damit anstellen können. Mit meinen Autoreisen kann ich ihnen eine Antwort geben.“ Mit diesen Worten machte sie sich diesmal auf den Weg.

Unterwegs versucht sie, mit Informationen aus erster Hand und entsprechend den internationalen Gepflogenheiten die Straßen nach der Schönheit der Landschaft zu klassifizieren. Straßen mit sehenswürdigen Landschaften werden mit grünen Linien markiert. Außerdem will sie einen Reiseführer für Hobby-Autoreisende verfassen. Dazu hat sie ein normales Familienauto mit Zweiradantrieb gewählt, denn sie meint, dass dieser Typ unter chinesischen Familien am weitesten verbreitet ist.

Frei wie der Wind

Im Herbst 1997 las sie einen Bericht über ein Oldtimer-Rennen von Beijing nach Paris. Der Bericht richtete ihren Blick von den chinesischen Straßen auf die Straßen, die Atlantik und Pazifik verbinden. Anfangs plante sie, von Beijing nach Moskau oder Paris zu fahren. Nach einigen Nachforschungen fand sie heraus, dass noch niemand allein im Auto rund um Europa gefahren war. Sie war ganz aufgeregt. Schließlich machte sie 2001 ihre eurasische Wagenrundfahrt wahr.

Liao Jia konnte und kann ihre Pläne in die Tat umsetzen, weil sie sich ungebunden fühlt. Sie zwinkert mit den Augen und sagt stolz: „Ich bin unverheiratet und lebe allein in Beijing. Meine Eltern sind in Hongkong, ich höre ihr Geschwätz  nicht. Außerdem gibt es keine Arbeit, die mich fesseln kann. Mit den Ersparnissen aus früherer harter Arbeit kann ich mir einen Wagen gut leisten. Diese Bedingungen erlauben mir, eine freie Autofahrerin und mein eigener Herr zu sein.“

Wenn Liao Jia nicht unterwegs ist, sitzt sie gern im Café und schreibt. Sie surft jeden Tag im Internet, das hat ihr bei ihren Autoreisen viel geholfen. Besonders als sie vor ein paar Jahren das Autofahren gerade erlernt und kaum noch Reiseerfahrungen hatte, fand sie im Internet viele nützliche Informationen. Da lernte sie auch viele bekannte Abenteuer-Autoreisende kennen. Jedes Mal, wenn sie eine neue Website zu Reisen entdeckt, ist sie die ganze Nacht hindurch online und plant dabei oft neue Reisen.

Einmal hörte sie bei einem Freund zu Hause ein Lied von einer irischen Sängerin. Eine Zeile lautete: „Unterwegs werde ich frei sein...“

Das ist ihr Lieblingslied geworden, weil es die Stimme ihres Herzens zum Ausdruck bringt.

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