August 2005
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Geld oder Leben

Von Mitarbeiterin Lu Rucai

Am 10. April 2005 verstarb der berühmte chinesische Maler Chen Yifei in Shanghai im Alter von 59 Jahren, kurz bevor er seinen Debutfilm Barber zu Ende drehen konnte. Im Januar verschieden zwei Professoren der Top-Universität Qinghua verfrüht im Alter von 36 und 46 Jahren. Der Grund für ihren Tod war bemerkenswerterweise ähnlich – Überarbeitung. Müdigkeit hatte ihre Gesundheit angegriffen, doch sie hatten es verpasst, sich rechtzeitig um medizinische Behandlung zu kümmern. Chinesische Soziologen, Mediziner und auch die allgemeine Öffentlichkeit sprechen seitdem über die Auswirkungen des chronischen Müdigkeitssyndroms. Sozialstudien zeigen, dass die chinesischen Jugendlichen und mittelaltrigen Bürger im Allgemeinen nicht in gutem gesundheitlichem Zustand sind, und dass nur ein kleiner Teil von ihnen genug auf ihr Wohlbefinden achtet.

Großer Karrieredruck lastet auf jungen Männern

Der 30-jährige Zhang Liang ist Projektmanager in einer mittelgroßen Internetfirma. Während der einwöchigen Ferien zum Internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai arbeitete er jeden Tag für den dreifachen Lohn. Zhang konnte sich nicht zu Hause ausruhen oder reisen, aber er bereut seine Entscheidung nicht. „Wir haben gerade ein neues Haus gekauft und zahlen eine monatliche Hypothek von 3000 Yuan“, sagt Zhang. „Da wir beide ziemlich weit von unserer Arbeit entfernt wohnen, haben wir vor, ein Auto zu kaufen. Ich muss extra hart arbeiten, um all diese Kosten zu decken.“ Zhang verdient ungefähr 7000 Yuan pro Monat, doch wiegt die finanzielle Belastung sehr schwer auf seinen Schultern. Viele seiner Kollegen fühlen das gleiche. Die Hochzeit steht vor der Tür, wie auch Kinder und die Anschaffung eines Hauses und eines Autos. Und alles kostet Geld.

Da junge Berufstätige erst seit kurzem an ihrem Arbeitsplatz arbeiten, verfügen sie nur über geringe Ersparnisse. Viele sind gezwungen, extrem hart zu arbeiten und alle Überstunden anzunehmen, um über die Runden zu kommen. Zhang sagt: „Ich würde nicht zögern, mehr Arbeit zu übernehmen, wenn ich die Zeit dazu hätte.“ Die meisten seiner Freunde arbeiten daneben noch in Teilzeitjobs, um ihr Einkommen aufzubessern. Laut einer kürzlichen Umfrage, das vom Zentrum für gesellschaftliche Erhebungen der Zeitung China Youth Daily durchgeführt wurde, finden 66,5% der chinesischen jungen Leute, dass sie unter großem Druck stehen, 3,7% dass sie unter erträglichem Druck stehen, und nur 0,3% empfinden gar keinen Druck.

„Ich finde, dass ich gealtert bin und oft Probleme habe, meine Gefühle unter Kontrolle zu halten“, sagt Zhang Liang, der seit kurzem unter mehr Stress leidet als früher. Als seine Freundin auf Persönlichkeitsveränderungen aufmerksam wurde, suchte er medizinischen Rat. Der Arzt sagte ihm, dass er sich überarbeitet habe und kurz vor einem Burnout-Syndrom stehe. Er warnte Zhang, dass er, wenn er seinen Lebensstil nicht änderte, ein chronisches Müdigkeitssyndrom entwickeln würde. Anfang dieses Jahres wurden 3206 Personen im Gesundheitszentrum des Krankenhauses für Traditionelle Chinesische Medizin Guangxi untersucht, von denen alarmierende 67,3 Prozent am chronischen Müdigkeitssyndrom litten. Von den Betroffenen waren 62 Prozent männlich und 38 Prozent weiblich. Die meisten waren zwischen 25 und 45 Jahren alt.

Warum stehen aber chinesische Männer unter mehr Druck als ihre weiblichen Genossinnen? Manche machen die chinesische Kultur verantwortlich dafür, die traditionellerweise mehr gesellschaftliche und familiäre Verantwortung auf die Schultern der Männer bürdet, da diese als das stärkere Geschlecht angesehen werden. Ein anderer Faktor ist die unterschiedliche Art, wie Frauen und Männer mit Stress umgehen. Chinesische Männer werden nicht dazu ermutigt, Emotionen zu zeigen, und ziehen es deshalb vor, ihre Sorgen hinunterzuschlucken und ihre eigenen Lösungen zu finden. Frauen hingegen sind mehr offen mit ihren Gefühlen und reden über ihre Probleme mit ihren Freunden.

Geld und Leben

Yang Zhaoxu ist Professor am Ciji-Gesundheitspflegezentrum in Beijing. Er sagt, dass die meisten Chinesen sich entweder nicht im Klaren sind über ihren Gesundheitszustand oder nicht genug darauf achten. Ein kleiner Prozentsatz, sagt er, verfügt über ein wenig medizinisches Wissen, aber ihr hektisches Arbeitsleben lässt ihnen wenig Zeit, zu regelmäßigen Untersuchungen zu gehen. Das Problem ist besonders verbreitet unter Büroangestellten und Universitätsprofessoren. Im April 2005 führten das Zentrum für gesellschaftliche Erhebungen der Zeitung China Youth Daily und China View Intelligence Co., Ltd. eine gemeinsame Untersuchung unter 1218 Personen durch. Sie ergab, dass 34,4 Prozent der Befragten weniger als acht Stunden pro Tag, 65,6 Prozent mehr als acht Stunden und davon 20 Prozent mehr als zehn Stunden pro Tag arbeiteten. Warum arbeiten sie so hart? Die Untersuchung zeigt, dass 82 Prozent über 15 Stunden für gute Bezahlung arbeiten würden – eine verbreitete Einstellung unter Personen zwischen 20 und 40 Jahren. Sie zeigte auch, dass 75,1 Prozent der Jugendlichen und mittelaltrigen Leute sich bewusst sind, dass man durch das chronische Müdigkeitssyndrom sterben kann, und trotzdem würden nur 18 Prozent ihren Lebensstil ändern, um dies zu vermeiden. „Wozu brauchen wir gute Gesundheit, wenn wir kein Geld haben“, argumentiert Zhang Liang, und viele im gleichen Alter stimmen ihm zu. Gleichzeitig sehen sich Personen um die 40, die in ihrer Karriere schon erfolgreich vorangekommen sind, mit scharfer Konkurrenz in einer sich rapide verändernden Gesellschaft konfrontiert, und fühlen sich verpflichtet, noch härter zu arbeiten, um ihre Stellung zu bewahren.

Chinas gegenwärtige Periode des gesellschaftlichen Wandels hat einen tief schürfenden Einfluss auf die jüngere Generation. Das Psychologieinstitut der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften schloss nach vier Jahren eine Forschung über Stress und psychologische Probleme verschiedener Berufs- und Altersgruppen ab. Das Resultat zeigte, dass die 20–30-jährigen den stärksten Druck fühlen. Lu Shizhen, Vizerektor der Chinesischen Jugenduniversität für Politikwissenschaften, sagt: „Wenn sich eine Sozialstruktur verändert, sind junge Leute am stärksten davon betroffen. Unsere aktuelle Sozialhilfepolitik, wie für Hausankauf und medizinische Reformpolitik, kommt den Leuten mittleren Alters und den Älteren zugute, aber sie übt großen Druck auf die Personen zwischen 20 und 30 Jahren aus, die am Anfang ihres Berufslebens stehen und sich auch mit den Verpflichtungen, wie einen Ehepartner und eine Wohnung zu finden, Kinder aufzuziehen und an verschiedenen gesellschaftlichen Aktivitäten teilzunehmen, auseinandersetzen müssen.

Unzureichendes Bewusstsein der Gesundheitsvorsorge

Wenige Chinesen lassen sich regelmäßig untersuchen und das Bewusstsein, was die Gesundheitsvorsorge angeht, ist relativ wenig ausgeprägt. Trotz Chinas großer Bevölkerung gibt es nur eine beschränkte Anzahl von Krankenhäusern. Die Leute sehen sie hauptsächlich als Orte, an denen Krankheiten behandelt werden, aber nicht der Zustand der eigenen Gesundheit überprüft wird. Professionelle Gesundheitsvorsorgeorganisationen wie das Ciji-Gesundheitspflegezentrum sind äußerst dünn gesät und nicht allgemein akzeptiert. Außerdem sind mittelaltrige und ältere Leute an die alte Wiedererstattungspolitik für medizinische Ausgaben gewöhnt und wollen kein Geld für Behandlungen ausgeben. Sie verweigern den Krankenhausbesuch, bis es absolut notwendig wird. Sie finden, dass Gesundheitsuntersuchungen nicht notwendig sind, besonders wenn sie selbst bezahlt werden müssen. „Vierzig Prozent der chinesischen Bevölkerung gehen nie ins Krankenhaus“, sagt Professor Yang Zhaoxu. „Jüngere Leute halten sich für gesund und glauben nicht daran, einmal krank zu werden, und lassen das Risiko des chronischen Müdigkeitssyndroms außer Acht.“ Die dritte nationale Untersuchung zur Dienstleistung in der Gesundheitspflege, die 2004 abgeschlossen wurde, zeigt, dass nur 14,8 Prozent der Befragten regelmäßig Sport treiben, um ihre Gesundheit zu stärken.

Sicherheitsventile, durch die junge Leute psychologischen Druck ablassen können, gibt es nur wenige. Die Umfrage des Zentrums für gesellschaftliche Erhebungen der Zeitung China Youth Daily und der China View Intelligence Co., Ltd. im April letzten Jahres brachte ans Tageslicht, dass sich 43,1 Prozent der Befragten durch den Genuss von Musik entspannten, 40,4 Prozent durch Gespräche mit Familie und Freunden und 27,3 Prozent durch Tagebuchschreiben, während 31,2 Prozent nichts zur Entspannung taten. Die gleiche Umfrage zeigte auch, dass 37,1 Prozent eine psychologische Klinik besucht hatten und 41,4 Prozent der Befragten sagten, dass es in ihrer Umgebung keine psychologische Klinik gäbe, oder sie von keiner wüssten; 24,7 Prozent waren über den Standard solcher Kliniken im heutigen China besorgt und 7,8 Prozent zögerten mit dem Besuch, da sie Angst hatten, zum Opfer von Klatschbasen zu werden.

Verpflichtender Urlaub

Beamte, die für Regierungsämter arbeiten, sind eine weitere Hauptgruppe der Anfälligen für das chronische Müdigkeitssyndrom. Das Zentrum für die Sozial- und Krankenversicherung der Provinz Henan gab vor kurzem einen Bericht heraus, der sich um den Zustand der Gesundheit der Provinzbeamten besorgt zeigt. Der Bericht besagt, dass zwischen 2003 und 2004 sich 15 000 Beamte Gesundheitsuntersuchungen unterzogen hatten. Der Bericht zeigt, dass 32 Prozent an Hals- oder Lendenwirbelerkrankungen litten und 18 Prozent eine Fettleber hatten. Ähnliche Studien in Beijing zeigten, dass 40 Prozent der Beamten übergewichtig sind; in der Provinz Jiangsu hatten 40 Prozent klinische Erkrankungen und in der Stadt Wenzhou in der Provinz Zhejiang zeigten 70 Prozent der 30 000 Beamten Symptome des chronischen Müdigkeitssyndroms.

Nachdem Henans Provinzgouverneur Li Chengyu den Bericht gelesen hatte, verordnete er ab 7. März 2005 die sofortige Einführung eines verpflichtenden bezahlten Urlaubssystems für Beamte in seiner Provinz. Alle Beamte bekommen nun bezahlten Urlaub. Bezahlter Urlaub wurde auch in der Provinz Jiangsu zur Pflicht gemacht und Beamte bekommen spezielle Urlaubsbeihilfen. Studien zeigen, dass nur 20 Prozent der chinesischen Beamten die Zeit für bezahlten Urlaub haben. In Shanghai nehmen nur 6,9 Prozent der Journalisten ihren vollen bezahlten Urlaub, 21,2 Prozent nehmen weniger Urlaub, als die Regierung erlaubt, und 64 Prozent nehmen nie bezahlten Urlaub. Urlaub zur Pflicht zu machen zeigt, dass die chinesische Regierung es ernst meint mit der Verbesserung des Gesundheitszustands ihrer Beamten.

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