Juli 2004
Ihre Position: Homepage >

Sind die chinesischen Klassiker

den Aufwand wert?

Von Mitarbeiterin Zhang Hong

„Kinder, lest mir nach!“ Jeden Samstag sitzen die Kinder im Lesezentrum Sihai für klassisches Chinesisch für Kinder im Bezirk Haidian in Beijing und beten chinesische Klassiker herunter. Diese Rückkehr zu einer alten Disziplin wurde von Professor Wang Caiguo von der Pädagogischen Universität Taizhong in Taiwan ins Leben gerufen. Er fand heraus, dass das Lesen klassischer Texte und das Aufsagen von Gedichten den Kindern die feinen Zwischentöne der chinesischen Sprache vermitteln und sie besser darauf vorbereitet sind, literarische Werke schätzen zu lernen. Wang ist der Meinung, dass das Gedächtnis in der Kindheit bis zum Alter von 13 Jahren am aufnahmefähigsten ist, und dass es gut ist für Kinder, Klassiker zu lesen, aufzusagen und auswendig zu lernen. Wenn sie das Erwachsenenalter erreichen, verfügen sie so über ein tieferes Verständnis der Aussagen dieser Werke und wenden diese von ihnen bereits verinnerlichten Prinzipien oft bewusst im Alltag an.

Auf der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes 1995 schlugen neun angesehene chinesische Gelehrte vor, Kinderklassen für die chinesischen Klassiker einzuführen, um ihr Wissen über chinesische Literatur und traditionelle Kultur zu bereichern. Der Vorschlag wurde besonders von denjenigen willkommen geheißen, deren Glaube und Träume während der Kulturrevolution (1966–1976) zerstört worden waren und die sich wünschen, dass ihre Kinder ein Fundament von grundlegenden Moralvorstellungen und Ethik erhalten. Viele glauben daran, dass die Gedanken der altertümlichen chinesischen Weisen Konfuzius und Menzius in der heutigen Gesellschaft noch immer relevant sind.

„Einstmals betrachteten Leute Konfuzius als ihren Gott; zu anderen Zeiten wurde er als Monster gesehen“, sagt Professor Guo Qijia vom Institut für Erziehungswissenschaft der Pädagogischen Universität Beijing. „Wir wenden uns ihm nun erneut zu und untersuchen seine Ideen neu in seiner Eigenschaft als einer normalen Person wie du und ich.“

Mit der zunehmenden Beliebtheit des Lesens klassischer Texte nimmt deren Ausmaß in den Lehrplänen der Lernzentren zu. Im Juli 2004 hielt das Sihai Zentrum eine Konfuzius- und Shakespeare-Woche ab. Für 2007 plant es eine Veranstaltung, bei der 1000 Kinder Shakespeare-Sonette rezitieren werden.

Die Regierung richtet ihre Aufmerksamkeit im Grundschulwesen zunehmend auf chinesische Tradition und Kultur. Neue chinesische Lesebücher, die 160 klassische Texte umfassen, was 40 Prozent der Gesamtanzahl ausmacht im Vergleich zu den alten Lehrbüchern, die nur 40 alte Gedichte umfassten, wurden in bestimmten Grundschulen in den letzten Jahren getestet.

Argumente für und wider das Lesen der Klassiker

Chinesische Grund- und Mittelschüler sind jetzt schon an den Wochenenden eingespannt mit extra Mathematik- und Englischunterricht wie auch Klavierunterricht und nun müssen sie noch die Zeit für die Klassiker aufbringen. Manche Eltern fragen sich, wie brauchbar das Erlernen der Vier Bücher (Die Große Lehre, Doktrin der Mitte, Gespräche und Menzius) und der Fünf Klassiker (Das Buch der Lieder, Das Buch der Geschichte, Das Buch der Riten, Das Buch der Wandlungen und Die Frühlings- und Herbstanalen) für die Kinder sein kann.

Privatschulen nach altem Stil, in denen die Kinder klassische chinesische Texte auswendig lernen mussten, wurden vor einem Jahrhundert abgeschafft. Trotzdem sitzen in einem Bauernhaus in der Provinz Hunan Schüler um einen groben Tisch, der aus alten Türen gefertigt wurde, und lauschen einem grauhaarigen Lehrer, der umhergeht und sie in alten Gedichten, klassischen Texten und Kalligraphie unterrichtet. „Zeitgenössischer Unterricht hilft den Kindern, in der Zukunft einen guten Job zu finden, doch das Erlernen alter Texte bringt ihnen bei, wie man sich richtig verhält. Für Bauern ist das letztere wichtiger“, argumentiert er.

Stimmt dem aber jeder zu? Im Juli 2004 schrieb Xue Yong, ein chinesischer Journalist, der an der Yale University Geschichte studiert hat, einen Zeitungsartikel und drückte seine Zweifel an der Sinnhaftigkeit, Kinder klassische Texte aufsagen zu lassen, aus. Dies löste eine nationale Debatte in den Print- und Webmedien aus, deren hitzigster Aspekt war, ob die neu herausgegebene zwölfbändige Lesebuchserie der chinesischen kulturellen Klassiker, die 19 konfuzianische Klassiker umfasst, die insgesamt 150 000 Zeichen enthalten, für Grund- und Mittelschüler geeignet ist. Xue Yong zweifelt am Nutzen des Aufsagens alter Texte zusätzlich zur schon erdrückenden Studienlast.

Die Befürworter des Studiums der chinesischen Klassiker argumentieren, dass China sich bereits westliche Bildungskonzepte zu Eigen gemacht hat, was so weit ging, dass chinesische klassische Werke – das Fundament der traditionellen chinesischen literarischen Kultur – vernachlässigt wurden. Chinas reichhaltige Kultur und Tradition haben das Überleben der chinesischen Nation während schwieriger Zeiten gesichert, argumentieren sie, und wenn die Wichtigkeit der chinesischen literarischen Klassiker innerhalb des Bildungssystems nicht genügend betont wird, könnte das kulturelle Erbe des Landes verblassen.

Die chinesischen Jugendlichen können davon profitieren, Shakespeare zu lernen, die Geschichten von Hans Christian Andersen zu genießen und von Harry Potter-Filmen in Aufregung versetzt zu werden. Aber sie sollten auch Tang-Gedichte zu schätzen lernen, da diese in den literarischen Kreisen der Welt hohen Respekt genießen und in viele andere Sprachen übersetzt worden sind. Chinesische Gelehrte sind meistens vertraut mit den Werken von Aristoteles und Kant, dem griechischen Demokratiesystem und der Britischen Verfassung, aber sie sollten ebenso vertraut mit der konfuzianischen Theorie und dem Buch der Wandlungen sein.

Mit der Blüte der chinesischen Wirtschaft beginnen soziale Probleme aufzutauchen. Bestimmte traditionelle chinesische Werte und Konzepte, wie Humanität und der Geist der Harmonie, die von Konfuzius propagiert wurden, werden weiterhin praktiziert und in der gegenwärtigen Gesellschaft vorangetrieben. Kinder brauchen jegliche Art von Anreiz, um geistig und körperlich zu wachsen. Die Frage ist: Wie sollen diese gehandhabt werden?

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+--+-+-+-+--+-+-+--+-
Zurück