Juli 2004
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Satire aus dem 18. Jahrhundert: Die Gelehrten

Von Yuan Shishuo

Zwei Romane aus der Mitte des 18. Jh. wurden wegen ihrer realistischen und kritischen Schilderung des gesellschaftlichen Lebens zu Klassikern der chinesischen Literatur. Einer ist Cao Xueqins unsterblicher Traum der Roten Kammer (siehe Nr. 5, 1985), der andere Die Gelehrten von Wu Jingzi. Als Episoden-Roman ohne eine ausgeprägte Kernhandlung beschreibt Wus Buch mit einer bunten Mischung verschiedenster Charaktere auf satirische Weise die Anmaßung und Heuchelei der Beamten-Gelehrten.

Seit der Tang-Dynastie (618–907) wurden die Beamten, die das Reich regierten, in einer Reihe kaiserlicher Prüfungen auf verschiedenen Ebenen ausgewählt. Zur Zeit der Ming- (1368–1644) und der Qing-Dynastie (1644–1911) waren diese Prüfungen zu starren Formalitäten geworden und fragten nach keinem praktischen Wissen, das wirklich von Nutzen gewesen wäre. Stattdessen vergeudeten junge Männer Jahre damit, sogenannte „achtbeinige Essays“ zu schreiben, die aus acht Abschnitten und 600–700 Schriftzeichen zu bestehen hatten und nach einer festen Regel aufgebaut sein mussten. Die Themen stammten aus klassischen konfuzianischen Werken und mussten nach den Richtlinien abgehandelt werden, die der Gelehrte Zhu Xi aus dem 5. Jh. in Kommentaren  festgelegt hatte. Gedankliche oder stilistische Originalität galt in den Augen der prüfenden Richter als schwerer Fehler.

Wu Jingzi (1701–1754) kannte die Welt der Beamten-Gelehrten gut. Sechs Verwandte aus den Generationen seines Großvaters und seines Urgroßvaters hatten die höchsten kaiserlichen Prüfungen bestanden und Positionen am Hof eingenommen. Sein Vater kam nicht so weit, wurde aber als Leiter der kaiserlichen Akademie eines Kreises eingesetzt. Mit 20 Jahren bestand Wu selbst die Prüfungen auf Kreisebene und wurde ein Xiucai – der niedrigste Status eines Gelehrten.

Nach dem Tode seines Vaters vernachlässigte er seine Studien. Wie viele Intellektuelle einschließlich einiger, die in seinem Roman beschrieben sind, verachtete er schließlich das ganze Geschäft des Machtkampfes und des falschen Gelehrtentums, das sich in den Prüfungen widerspiegelte. Da Wu ein schlechter Verwalter des Familienvermögens war und freigiebig mit seinem Geld umging, hatte er den größten Teil seiner Erbschaft in ein paar Jahren vertan.

Aber er trauerte diesem Verlust nicht nach. Er zog nach Nanjing, dem südlichen Zentrum von Politik, Handel und Kultur, und lebte vom Schreiben von Essays und Kommentaren zu Klassikern. (Etliche Charaktere seines Romans sind Schriftsteller, einige darunter wirkliche Gelehrte und andere bloß Schreiberlinge, die nichts zu sagen haben, aber wegen ihrer Beamtenstellung ständig gebeten werden, Vorworte zu schreiben.) Wu Jingzi schrieb Die Gelehrten in seinen letzten Lebensjahren.

Wang Mian, der im ersten Kapitel vorgestellt wird und sofort aus dem Roman verschwindet, gibt ein Bild vom Ideal des Autors, wie er sich einen wirklich gebildeten Mann vorstellt. Die Armut zwingt Wang, seine verwitwete Mutter bei vielen niedrigen Arbeiten im Haus zu unterstützen, aber durch vieles Lesen bildet er sich. Auf ihrem Totenbett nimmt ihm seine weise alte Mutter das Versprechen ab, ein aufrichtiges Leben zu führen und niemals, niemals Beamter zu werden. Er hält sein Versprechen, auch als der Kaiser selbst ihm einen hohen Posten am Hof anbietet. Wang bedauert das starr formalisierte Prüfungssystem, da „die Kandidaten wissen, dass es leicht ist, eine hohe Position zu erreichen, und deshalb auf wirkliches Gelehrtentum und ehrliches Verhalten herabsehen werden“.

In den folgenden Kapiteln des Romans wird die Vorhersage Wang Mians voll bestätigt. Eine Reihe von Möchte-gern-Gelehrten ziehen am Auge des Lesers vorbei, die nichts im Sinn haben als die Prüfungen zu bestehen – diesen goldenen Pass zu Macht, Reichtum und Ruhm. Man sieht, dass ihre Familien und ein großer Teil der Gesellschaft diese „Werte“ hochhalten und dass ihnen ein Mann nichts wert ist, ehe er ein behördlich anerkannter Gelehrter ist, den sie dann mit Schmeicheleien und Geschenken überschütten.

Zuerst begegnet man der traurigen Figur Fan Jin, einem Mann mittleren Alters, dem es trotz vieler Versuche nicht gelungen war, die Kreisprüfungen auf niedrigster Ebene zu bestehen. Er ist der Schwiegersohn eines Metzgers, der in der Erwartung, dass Fan Jin Beamter würde, sozusagen als Einsatz seine Tochter mit diesem verarmten Mann verheiratete. Während der langen Jahre der Misserfolge hat Fan Jin unter dem Hohn und der Verachtung seiner Familie, der Familie seiner Frau und der Nachbarn zu leiden. Als er schließlich die Kreisprüfungen besteht – überwiegend dank der Großzügigkeit des prüfenden Richters – ändern sich sein Ruf und damit sein Schicksal schlagartig und grundlegend.

Später besteht Fan Jin sogar die Prüfungen auf Provinzebene und wird Superintendent von Gelehrten. In dieser Rolle zeigt er die Ignoranz, Kleinlichkeit und Heuchelei eines typischen Beamten. Einmal erkennt er den Namen des berühmten Dichters Su Shi aus der Song-Dynastie nicht – ein unglaublicher Lapsus für jemanden, der sich für gebildet hält. Während der Trauerzeit für seine verstorbene Mutter wird er zu einem großen Bankett eingeladen. Um seine Frömmigkeit und seinen Respekt zu zeigen, weigert er sich, Essstäbchen aus Silber oder Elfenbein zu benutzen, und entscheidet sich schließlich für ein Paar aus schlichtem Bambus. Außerdem verlangte die Sitte, dass man während der Trauerzeit kein Fleisch ass, sondern nur vegetarische Kost zu sich nahm. Der Gastgeber, Magistrat Tang, macht sich Gedanken, ob er für die richtigen Gerichte gesorgt hat, und ist zufrieden, als Fan mit Genuss ein köstliches Krabbenbällchen auswählt – und damit sowohl seinen Appetit befriedigt als auch die Trauersitten befolgt.

Indem der Autor kommentarlos die Anmaßung seiner Figuren ihrem weniger bewundernswerten Verhalten gegenüberstellt, erzielt er in dieser Szene und in anderen eine subtil satirische Wirkung. Der große Schriftsteller des 20. Jh., Lu Xun, sagte über die Episode des Fan Jin beim Bankett: „Ohne ein einziges abfälliges Wort wird die Heuchelei aufgedeckt.“ Die Satire Wu Jingzis ist so treffend, weil sie dem wirklichen Leben entspricht und offensichtlich auf der Grundlage genauer Beobachtungen seiner eigenen Gesellschaft beruht.

Viele der Beamten in diesem Roman sind bedeutend böser, korrupter und heuchlerischer als Fan Jin. Sie pressen ohne zu zögern Geld aus den Menschen, die sie regieren, verkaufen Gerechtigkeit an den Meistbietenden und intrigieren untereinander, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Und immer schmücken sie sich mit ihrer Kultiviertheit, ihrer höheren Moral und ihrer Liebe zur konfuzianischen Lehre.

Die Brüder Wang De und Wang Ren zum Beispiel haben eine Schwester, die mit Yan Dayu verheiratet ist. Während ihre Schwester im Sterben liegt, verschwören sich diese selbsternannten Muster an Moral mit Yan und seiner ehrgeizigen Konkubine, um diese anstelle ihrer Schwester zu Yans offizieller Ehefrau zu machen – ein grober Verstoß gegen die Sitten. Sie erhalten 50 Silbertaelen.

Obwohl Yan sich nicht scheut, für das, was er wirklich will, zu bezahlen, ist er in anderer Hinsicht ein kleinlicher Geizhals. Als er später selbst auf dem Totenbett liegt und nicht mehr sprechen kann, hebt er in offensichtlicher Unruhe ständig zwei Finger. Niemand versteht, was er meint, bis seine zur Ehefrau avancierte Konkubine richtig errät, dass er gegen das verschwenderische Abbrennen von zwei Dochten in der Öllampe protestiert. Sie nimmt einen heraus, und er kann in Frieden sterben.

Sein Bruder Yan Zhizhong ist noch schlimmer. Indem er seine Beziehungen als Beamter ausnutzt, macht er seinen Weg mit Hilfe von Einschüchterungen und Betrügereien. So beansprucht er einmal das Schwein eines Nachbarn, das sich auf sein Grundstück verirrt hatte. Mit einem billigen Trick betrügt er einen armen Bootsmann um seinen Lohn und zwingt sein Opfer zum Schweigen. Er weigert sich, die Witwe seines Bruders anzuerkennen, so dass er das Erbe für seinen eigenen Sohn beanspruchen kann.

Einige Passagen zeichnen ein schreckliches Bild der Regierung, die die Leute von diesen Beamten-Gelehrten zu erwarten hatten. Als ein gewisser Wang Hui Magistrat der Präfektur Nanchang wird, sagen die Leute, dass man aus seinem Gerichtssaal nur das Klatschen des Bambusflegels auf menschlichem Fleisch und das Klicken der Abakusse hören kann, auf denen die erpressten Beträge addiert werden, sowie das Geräusch der Waagen, die das Silber wiegen.

Als ein anderer Magistrat von einem befreundeten Gelehrten um ein Darlehen gebeten wird, empfiehlt er den Freund stattdessen als Berater einer Familie, die in einem Mordfall als Kläger auftritt. Der Magistrat selbst entscheidet dann den Fall zu ihren Gunsten, und der Freund streicht 130 Silbertaelen von der dankbaren Familie ein. Die Familie Fang mit ihren zwei hohen Beamten entwickelt sich zu wahren Tyrannen der Grafschaft. Nicht nur, dass sie mit der Androhung gnadenloser Schläge ihre Pächter um den letzten Pfennig für die Pacht erpressen, sie verlangen auch, dass die Bauern die Pachteintreiber mit Speisen bewirten und mit feinen Zeremonien empfangen.

Den ignoranten und gierigen Beamten steht eine Zahl von ehrlichen und wahrhaft gebildeten Charakteren gegenüber – von denen die meisten ein einfaches Leben dem Beamtentum vorziehen. Da sind z. B. der Maler Gai Guan, der für seinen Lebensunterhalt ein Restaurant betreibt, und der Schneider-Poet Jing Yuan. Andere widmen sich der Musik, der Kalligraphie und der Landwirtschaft.

Einer der am feinsten entwickelten dieser Charaktere ist Du Shaoqing, der einen hohen Posten am Hof ablehnt und für seine Unabhängigkeit kämpft. Er rebelliert in mancher Weise gegen die feudalen Normen. Obwohl er ein gebildeter Mann aus einer adligen Familie ist, versteht er sich gut mit Opernsängern, Gärtnern und anderen einfachen Leuten, wogegen er Beamte und reiche junge Nichtsnutze mit kühler Missachtung behandelt. Er respektiert Frauen und weigert sich, Konkubinen zu nehmen, was zu jener Zeit allgemein üblich war. Ungeachtet der öffentlichen Meinung geht er bei einem Spaziergang Hand in Hand mit seiner Frau.

Die Armen und Unterdrückten finden einen guten Freund in ihm. Er gibt einer Magd das Geld, das sie braucht, um einer grausamen Leibeigenschaft zu entfliehen. Eine andere Frau, Shen Qiongzhi, flieht von zu Haus, um nicht als Konkubine verkauft zu werden, und versucht ihren Lebensunterhalt durch den Verkauf eigener Gedichte und Stickereien zu verdienen. Eitle Nichtsnutze beleidigen sie, und sie wird vom Magistrat festgenommen. Doch Du Shaoqing schätzt ihre Begabungen und tut alles, um sie zu schützen.

Du und andere Figuren des Romans lehnen Ruhm und Macht der Beamtenwelt ab. Mit besonderer Scharfsichtigkeit fasst der Autor die Heuchler ins Auge, die öffentlich abfällig über Ruhm und Titel reden, aber in Wirklichkeit allein dadurch, dass sie sich heraushalten, nach Ruhm streben. Zum Beispiel verdient Jing Lanjing murrend seinen Lebensunterhalt mit einem Wirtshaus, doch jeden Tag bürstet er seinen Gelehrtenhut sorgfältig und rezitiert Verse. Aber indem er den Ruhm vollkommen zu verachten vorgibt, verrät er sich durch Aussprüche wie „Meister Zhao hat nie eine kaiserliche Prüfung bestanden, doch sind seine Gedichte in etlichen Anthologien abgedruckt, die überall in der Welt gelesen werden. Es gibt niemanden, der den Namen des Meisters Zhao Xuehai nicht kennt“.

Es gelingt dem Autor auch, Sympathie für solche Leute zu erwecken, die gedanklich hoffnungslos dem Aberglauben und der feudalen Ideologie verfallen sind. Der alte Gelehrte Wang Yuhui entdeckt, dass seine gerade verwitwete junge Tochter aus konfuzianischem Gehorsam heraus Selbstmord begehen will. Nach einem kurzen Versuch, die junge Frau davon abzubringen, gibt er seinen Segen und preist ihre „Tugend“. Trotz der entsetzten Proteste ihrer Mutter, anderer Verwandter und ihrer Freunde hungert sich die Witwe zu Tode, während der alte Mann seinen tiefen Kummer hinter starken Worten der Verteidigung dieser „edlen“ Tat versteckt. Wie der Autor sie darstellt, sind beide, Vater und Tochter, bemitleidenswert, und die alten Moralvorstellungen unmenschlich und verachtenswürdig.

Der große Roman Wu Jingzis gestattet dem heutigen Leser einen tiefen Einblick in die Gesellschaft jener Zeit und spiegelt deren schlechte Seiten wider. Seine Prosa hat viele jüngere chinesische Romanschriftsteller beeinflusst. Die Gelehrten ist heute noch recht beliebt in China und wurde in andere Sprachen übersetzt. So bereichert dieser Roman die literarische Schatzkammer der Welt.

Aus China im Aufbau, Nr. 4, 1986

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