März 2004
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Wirtschaft

Das Wudang-Gebirge

– der Entstehungsort der Kampfkunst von Wudang

Von Yuan Quan

Wie andere Hauptströmungen der traditionellen chinesischen Kampfkunst (Wushu) ist auch die bekannte Kampfkunst von Wudang eng mit einem heiligen Gebirge verbunden. Es ist das Wudang-Gebirge.

Im Nordwesten der zentralchinesischen Provinz Hubei ist das mächtige Wudang-Gebirge gelegen. Auf einer Fläche von etwa 160 000 km2 ragen 72 Gipfel auf zum Himmel, zwischen denen stille Täler und zahlreiche schroffe Schluchten liegen. Überall bahnen sich klare Bäche ihren Weg. Kein Wunder, dass diese Gegend zu den schönsten Naturlandschaften Chinas zählt!

Das Wudang-Gebirge ist seit alters ein heiliges Gebirge des Daoismus. Bereits in der Frühzeit der Tang-Dynastie (618–907) wurden dort die ersten daoistischen Paläste und Klöster gebaut. In der Ming-Zeit (1368–1644) erreichte diese Bautätigkeit ihren Höhepunkt. Auf Befehl des Kaisers Zhu Di wurde im Jahre 1412 im Wudang-Gebirge mit einem ungeheueren Bauprojekt für die daoistische Religion begonnen. Innerhalb von zehn Jahren wurden 33 Baukomplexe mit einer Gesamtfläche von 1,6 Mio. m2 fertig gestellt. Dafür wurden täglich 300 000 Bauern, Soldaten und Handwerker eingesetzt. Acht Paläste, zwei Klöster, mehr als 70 Tempel und Altäre sowie ein Dutzend Pavillons und Terrassen wurden aufgebaut. Die Paläste, Klöster und Tempelanlagen umfassen mehr als 20 000 Räume. Etwa 50 km Steinpfade und mehr als 30 Brücken verbinden die einzelnen Bauten zu einem Ganzen, entlang eines Weges, der sich rund 70 km weit zwischen der Stadt Danjiangkou und dem Hauptgipfel des Wudang erstreckt.

Die „Goldene Halle“, die auf dem Hauptgipfel steht, ist ein besonders prächtiges Bauwerk. Sie ist der „Goldene Halle“ in Beijings Kaiserpalast getreu nachgebaut und misst 5,5 m x 5,8 m x 4,2 m. Errichtet auf einem Sockel aus Granit, ist die Halle vollständig aus Bronzegussteilen zusammengesetzt. Sie ist vergoldet und ihr Dachfirst mit lebendig gestalteten bronzenen Löwen, Affen, Hirschen und Kranichen geschmückt. Im Inneren ist eine zwei Meter hohe Bronzestatue des daoistischen Gottes, des Großen Zhen Wu, aufgestellt. Zu ihren beiden Seiten stehen vier ebenfalls vergoldete Bronzefiguren: ein Knabe, ein Mädchen, der Wasser- und der Feuergott. Diese „Goldene Halle“ wurde im Jahre 1416 erbaut und ist die größte ihrer Art, die in China erhalten ist.

Der Zixiao-Palast (Palast der purpurfarbigen Wolken) ist ein anderes Hauptgebäude des Wudang. Mit seinen glasierten Dachziegeln und purpurroten Mauern, seinen geschnitzten und buntbemalten Balken ist er ein besonders eindrucksvolles Gebäude. Wenn man vom Bergeingang aus die Steintreppe hinauf zum Zixiao-Palast steigt, geht man durch ein Zypressenspalier und passiert nacheinander die Drachen-und-Tiger-Halle, den Pavillon mit der Steintafel und zwei weitere Hallen. Zur Linken und Rechten der Haupthalle des Palastes stehen der Ost- und der Westhofpalast, an ihrer Rückseite die „Eltern-Halle“. Diese Gebäude enthalten insgesamt 860 Räume. Wang Jiaohua, der über achtzig-jährige Vizevorsitzende der Chinesischen Gesellschaft der Daoisten, hat hier seine Wohnung.

Das Wudang-Gebirge ist auch bekannt und berühmt als Entstehungsort einer Kampfkunst, die dort seit Jahrhunderten gepflegt wird, und zieht damit in- und ausländische Liebhaber und Adepten des Wushu an.

Die traditionelle chinesische Kampfkunst hat eine sehr lange Geschichte. Zur Zeit sind einige hundert Wushu-Arten in China verbreitet. Je nach ihrer Kampftechnik und ihrem Kampfstil lassen sie sich jedoch hauptsächlich in eine nordchinesische und eine südchinesische Schule unterteilen.

Die erstere Richtung stammt aus dem Shaolin-Kloster im Songshan, einem heiligen Gebirge des Buddhismus in China. Sie wird auch als Shaolin-Schule bezeichnet. Das Shaolin-Boxen ist Waijia („Äußeres“)-Boxen, welches sich durch kraftvolle, schnelle Bewegungen und elegante Figuren auszeichnet. Es dient hauptsächlich der Selbstverteidigung und dem Kampf.

Demgegenüber entstand die südchinesische Richtung im Wudang-Gebirge, dem heiligen Gebirge des Daoismus. Sie ist als Wudang-Schule bekannt.

Das Wudang-Boxen, auch Neijia („Inneres“)-Boxen genannt, dient im Gegensatz vor allem der Körpertüchtigung. Es ist auf Selbstfindung und Vitalitätserhaltung hin ausgerichtet. Bei den Übungen wird darauf geachtet, die Atmung auf einen bestimmten Teil des Mittelbauches zu konzentrieren, Bewegungen kraftvoll aber gehalten und mit äußerster Präzision durchzuführen. Im Kampf, wenn es wirklich dazu kommt, wird das Prinzip befolgt: „Mit Gelassenheit und Geschicklichkeit den Angriff abwehren und dann den Gegner unschädlich machen.“

In Kreisen der chinesischen Wushu-Anhänger ist daher der Satz bekannt: „Im Süden herrscht die Wudang-Schule, im Norden die von Shaolin.“ Im Vergleich zur Kampfkunst von Shaolin hat die Wudang-Kampfkunst nur ein kleines Verbreitungsgebiet. Ursprünglich war sie auf den relativ kleinen Kreis der daoistischen Mönche beschränkt, außerhalb dessen sie sich nicht ausbreiten durfte. Die Kampfkunst wurde den Mönchen gemäß einem strengen System von Initiationsstufen vermittelt. So geschah es nur sehr selten, dass Einzelheiten über die Wudang-Kampfkunst in die Außenwelt gelangten. Schriftliche Aufzeichnungen über diese Kampfkunst sind trotz ihrer jahrhundertealten Geschichte kaum existent, und Meister der Wudang-Kampfkunst sind nur noch äußerst selten zu finden.

Es heißt, dass der Schöpfer der Kampfkunst von Wudang Zhang Sanfeng, ein daoistischer Mönch aus der Song-Zeit (960–1279), gewesen sei. Über die Umstände der Entstehung wird folgendes überliefert: „Eines Tages hörte Zhang plötzlich im Hof eine Elster aufgeregt kreischen. Er schaute zum Fenster hinaus und sah draußen auf dem Baum eine Elster hocken, die böse nach unten blickte. Auf dem Boden ringelte sich, mit hoch erhobenem Kopf eine Schlange. Sie zischte und sah wachsam nach oben. Lange kämpften die beiden miteinander. Jedesmal, wenn die Elster einen Angriff gegen die Schlange flog, wandte sich die Schlange nur geschickt hin und her und wich so jedem Angriff aus.“

Diese Szene gab Zhang Sanfeng Aufschluss über ein Prinzip, nach dem es möglich wäre, durch geschicktes Nachgeben und Wendigkeit einen heftigen Angriff zu parieren. Nach langen Jahren des Übens und Bemühens gelang es ihm schließlich, eine besondere Kampftechnik zu entwickeln, die als die Grundlage der späteren Wudang-Kampfkunst angesehen werden kann. Eine Statue von Zhang Sanfeng ist heute noch im Yuzhen-Palast des Wudang-Gebirges zu sehen.

In der langen Geschichte ihrer Entwicklung zerfiel die Kampftechnik von Wudang in eine Vielfalt von Unterarten und speziellen Boxstilen, wie etwa das Taijin-, das Taiyi- und das Taiheboxen. Später entstand eine Reihe von Kampfkünsten mit verschiedenen Waffen, z. B. Kampf mit der Lanze (Taijiqiang), Kampf mit dem Schwert (Taijijian bzw. Baxianjian), Kampf mit dem Stock (Taijigun) usw. Zur Kampfkunst von Wudang gehört außerdem Qigong, eine Atemkunst bzw. Energiesteuerungstechnik, die vornehmlich gesundheitlichen Zwecken dient. Sie lässt sich in viele Unterformen, z. B. das harte und das weiche Qigong, unterteilen.

Die traditionelle chinesische Kampfkunst erlebt in China heute einen lebhaften Aufschwung. Dabei erregt die Wudang-Kampfkunst immer mehr das Interesse. Verschiedene Übungsfolgen und Spielarten, die lange Zeit begraben waren, werden entdeckt und neu zusammen gestellt. Im vorigen Jahr z. B. teilten etwa zwei Dutzend Mönche der daoistischen Klöster im Wudang ihre öffentlichen Kunstgriffe und Geheimnisse mit, die früher der Außenwelt nicht verraten werden durften. Besonders hervorragend waren die Vorführungen zweier Mönche im Zixiao-Palast.

Der Mönch Zhu Chengde, 86, präsentierte zuerst einen Lotossitz mit nach oben gerichteten Fußsohlen. Anschließend drückte er drei Finger jeder Hand auf den Boden und hob sich etwa zehn Zentimeter hoch. Eine Minute lang hielt er so seinen Körper auf sechs Finger gestützt. Darauf änderte er seine Gestalt, indem er sich beugte, bis er mit dem Unterkiefer die Knie berührte und drehte sich nach rechts und links. Sachverständige meinten, dass ein schwer auszuführender Sechsfingerstand wie dieser nur nach 30–50-jährigem Training möglich ist.

Der 64-jährige Mönch Guo Gaoyi demonstrierte die Kampfkunst mit dem Baxianjian (Schwert der Acht Unsterblichen) und Schattenboxen im Wudang-Stil. Obwohl er diese Kampfkunst schon viele Jahre nicht mehr geübt hatte, führte er die Bewegungen doch noch gekonnt und äußerst wendig aus. Blitzschnell schwang er sein blankes Schwert. Seine Übungen erinnerten die Zuschauer an den schwimmenden Drachen und den tanzenden Phönix aus der Legende.

Auch viele im Volk verbreitete Übungsfolgen der Wudang-Kampfkunst wurden in den letzten Jahren gesammelt. Ein gutes Beispiel dafür ist die Geschichte vom Taiyuwuxing-Boxen, das ein alter Herr namens Jin aus der Provinz Zhejiang in der Öffentlichkeit bekannt machte. Der Alte Jin hatte diese Boxart von seinem guten Freund, einem Abt namens Li Heling, gelernt. Dafür war er ehedem ins Wudang-Gebirge gekommen. Es schien ihm zunächst unmöglich, sich diese Boxtechnik anzueignen, weil das Taiyiwuxing-Boxen nur im Kreis der Mönche des Wudang verbreitet werden durfte. Gerührt durch sein inständiges Ersuchen versprach der Abt Li ihm schließlich, ihn in dieser Boxtechnik zu unterweisen. Die Vorbedingung dafür war jedoch, dass Jin schwören musste, die Technik niemals an andere zu verraten.

Begeistert von dem Wiederaufleben der Kampfkunst in China entschloss sich der alte Jin im Jahre 1981, sein wertvolles Geheimnis zu offenbaren.

Das Taiyiwuxing-Boxen dient seit eh und je der Gesundheitspflege. Bei der Übung wird mehr Gewicht darauf gelegt, auf harmonische Weise zu atmen und zu meditieren, das Becken nach rechts und links zu drehen und Arme und Beine und ihre Gelenke locker zu machen, damit die Kanäle des ganzen Körpers, so heißt es in der traditionellen chinesischen Medizin, frei von Hindernissen werden, und die vitale Energie (yuanqi) und das Blut dadurch intensiv kreisen können. Deshalb hat das Taiyiwuxing-Boxen folgende Wirkungen: die Aktivität des Herzens und der Lunge zu stärken, das Nervensystem gesund zu erhalten und die Verdauung zu fördern. Vor kurzem ist ein Buch Das Taiyiwuxing-Boxen von Wudang erschienen. Es ist besonders bei Alten und Mittelaltrigen beliebt.

Die Kampfkunst von Wudang ist kostbares Meisterwerk innerhalb der traditionellen chinesischen Kampfkunst. Ihr reiches Erbe ist heute noch lange nicht voll erschlossen. Es ist abzusehen, dass diese Kampfkunst in Zukunft zu weiter Verbreitung und noch glänzenderer Blüte kommt.

Aus China im Aufbau, Nr. 9, 1985
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