Februar 2004
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Ein unvergänglicher Roman

– Der Traum der Roten Kammer

 

Der Traum der Roten Kammer ist sicherlich der größte und schönste Beitrag der an herausragenden Werken nicht eben armen literarischen Welt Chinas an die Weltliteratur. Da sein Autor, Cao Xueqin (172?–1763), in weiten Teilen auf eigene Erfahrungen aus seinem familiären und sozialen Hintergrund zurückgriff, um das Leben und die wechselhaften Schicksale einer reichen und mächtigen Feudalfamilie zu beschreiben, bietet seine eigene Biographie einen guten Ausgangspunkt für eine Betrachtung seiner literarischen Schöpfung.

Cao Xueqin stammte aus einer Familie von hanchinesischen Beamten, die für die mandschurischen Herrscher der Qing-Dynastie tätig waren. Von seinem Urgroßvater bis zu seinem Vater und seinem Onkel hatten seine Vorfahren sämtlich den Posten eines Zhizao inne, dessen Aufgaben die Überwachung der Textilproduktion und des Finanzeinzugs sowie der Spionage für den Kaiserhof waren. Die Caos, die inzwischen die mandschurische Nationalität angenommen hatten und in ein Banner eingegliedert worden waren, kamen dieser einträglichen Aufgabe im heutigen Nanjing nach.

Unter der Herrschaft Kang Xis (1662–1722) nahmen Reichtum und Ansehen der Familie zu. Unter seinem Nachfolger, Kaiser Yong Zheng (1723–1735), wurde der Vater Cao Xueqins, der sich der falschen Fraktion angeschlossen hatte, entlassen; der angehäufte Besitz der Caos wurde beschlagnahmt. Bald darauf zog die Familie – Cao Xueqin war gerade 13 – nach Beijing um. Erst mit der Ablösung des Kaisers durch seinen Nachfolger Qian Long ging es auch mit der Familie Cao wieder bergauf, als viele der vorher verfolgten und bestraften Beamten rehabilitiert wurden. Doch schon vier oder fünf Jahre später fiel die Familie erneut in Ungnade und verarmte nun endgültig. Cao Xueqin zog in den Westen Beijings um. Um sich etwas Wein kaufen zu können, musste er Bilder malen und verkaufen. Dennoch enthüllte er seine materielle Not und seine Sorgen, sein Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein, nur seinen engsten Freunden. Um Hilfe zu bitten, verbat ihm sein Stolz. Doch sobald er einmal gut aufgelegt war, stellte er seinen Humor, seine Weitherzigkeit und vor allem sein erzählerisches Können unter Beweis.

Sein Opus magnum entstand erst in den letzten Jahren seiner immer erbärmlicheren Existenz. Fünfmal sah er die Manuskripte der ersten 80 Kapitel noch überarbeiten und fertigstellen zu können; am 12. Februar 1763 ereilte ihn sein Ende, nachdem ihm kurz zuvor der Tod seines Sohnes den letzten Lebenswillen genommen hatte.

Seine Manuskripte hatte Cao mit dem Titel „Die Geschichte eines Steines“ versehen (der auch bei verschiedenen Übersetzungen ins Englische Verwendung gefunden hat). Diese Rohform des Romans kursierte in der Form von handgeschriebenen Kopien zunächst nur unter seinen engeren Freunden, bis 1719 Cheng Weiyuan und Gao E eine überarbeitete Version in 120 Kapiteln drucken ließen. Das Werk trug nun, nach den Ereignissen im einleitenden Kapitel, bereits den Titel Traum der Roten Kammer. Wie heute allgemein angenommen wird, hat Gao E die letzten vierzig Kapitel verfasst, wohl auf der Grundlage von noch vorhandenen Unterlagen und Skizzen Cao Xueqins.

Wider die Dekadenz des Feudalismus

Die sechzig Jahre der Herrschaft Kaiser Qian Longs gelten als die Blütezeit der Qing-Dynastie, nachdem Kang Xi in ebenfalls sechzig Jahren das Reich konsolidiert hatte. Doch seine Herrschaftszeit war gleichzeitig die letzte Epoche, in der der chinesische Feudalismus noch florierte. Im Rückblick leitete sie die Wende zu Zerfall und Abstieg ein. Cao Xueqin verspürte bereits den Wind, der durch die Blüten fahren sollte; seine Erfahrungen lehrten ihn, wohin gesellschaftliche Widersprüche und die Gier, der Egoismus und die Korruptheit der Herrschenden führen mussten. Doch bei aller Schärfe der Einsicht, die in seinem Roman zum Ausdruck kommt, tragen tiefe Gefühle dessen Handlungen.

Wiewohl eine zum Scheitern verurteilte Liebe als roter Faden die Erzählung durchzieht, liegt der Schwerpunkt, die soziale Bedeutung des Romans nicht oder nicht nur in dieser Tragik. Es geht um den inneren und äußeren Zerfall der Familie Jia, einer der vier führenden Klans um den Kaiserhof. Die ganze Fülle gesellschaftlicher Widersprüche findet ihren Widerhall im Leben dieser Familie und ihren Beziehungen nach außen, im Verhältnis der Familienangehörigen zu Dienern und Zofen, Untergebenen und abhängigen Bauern, Freunden und Feinden. Die adlige Familie imponiert zunächst durch Glanz und Reichtum; sie lebt in einem Komplex von Hallen, Höfen und Pavillons, gebaut und gefüllt mit dem Besten vom Besten. Wie selbstverständlich verfügen sie über Gold, Silber, Jade und andere Kostbarkeiten. Keine andere Kleidung als Pelze, Seide und Satin bedeckt ihre fragilen Körper, die sie mit den erlesensten Kostbarkeiten anfüllen, dargeboten auf jadenen Tafeln und in goldenen Bechern. Diener müssen vor ihnen niederknien und ihnen Hände und Gesicht waschen, Diener reichen ihnen den Tee, und Diener eilen mit dem Spucknapf herbei, wenn sie sich räuspern. Ihre Verschwendungssucht ist enorm. Eines Tages soll Shi Xiangyun einem Fest vorsitzen, auf dem Gedichte zur Zwergapfelblüte vorgetragen werden sollen. Aufgrund der ärmlichen Herkunft Shis findet Xue Baochai („Jadespange“), ein anderes der zur Verwandschaft gehörenden Mädchen und Favoritin der Familie für die Verheiratung mit dem Protagonisten Baoyu, einen Weg, das Fest einfacher und billiger als üblich zu gestalten. Als jedoch die Großmutter Liu vom Lande zu Besuch kommt, muss sie feststellen, dass das Geld für dieses kleine, bescheidene Bankett gut und gern „ausreicht, um die Leute in meinem Dorf ein ganzes Jahr lange zu ernähren“. Bei „wichtigen Ereignissen“ ist die Verschwendung noch kaum irgend zu überbieten. Der Aufwand, der bei der Beisetzung der jungen Frau eines Enkels betrieben wird, ist allein in Geldsummen nicht mehr zu fassen. Schon der Sarg aus Sandelholz ist „auch für tausend Liang (Tael) Silber nirgends zu bekommen“. Die Trauerprozession wirkt wie ein „Berg von Silber, der die Erde erdrückt“. Als die Tochter des Hauses, der die Ehre zuteil wurde, kaiserliche Konkubine zu werden, der Familie einen Besuch abstattet, wird eigens für sie der „Lustgarten der Großen Aussicht“ angelegt, ein Landschaftsgarten mit Bergen und Seen, Pavillons und Terrassen, Bächen und Felsgruppen, so groß und vielfältig, dass die Wege dem Besucher die Sinne verwirren – für Unsummen von Gold und Silber, und alles nur für einen Tag.

Den Hinweis auf die Herkunft dieses Reichtums spart Cao Xueqin nicht aus. Hohe Pachtabgaben bilden die Grundlage dessen, was die Familie Jia mit vollen Händen ausgibt. Kapitel 53 beschreibt anhand einer Liste eines Steuereintreibers, welche Güter der Familie in welchen Mengen zufließen. Außer direkten Pachtabgaben in Naturalien und Geld sind dies wertvolle und seltene Genussmittel, Wild, Holzkohle und anderes mehr. Der Familie erscheinen die aufgeführten Güter jedoch bei weitem nicht genug; dass es lange Schlechtwetterperioden und dadurch eine schlechte Ernte gegeben hat, interessierte sie nicht, sie beklagt sich nur über die Unannehmlichkeiten, die ihr aus den „mangelnden Abgaben“ entstehen.

Sittenverfall im Hause Jia

Der Roman bemüht sich an nicht wenigen Stellen, den moralischen Abstieg dieser Familie und ihre Lasterhaftigkeit vorzuführen, die sich hinter einem Vorhang von Gelehrsamkeit und Liebe zur Poesie verbirgt. Hinter Bildung und künstlerischem Geschmack wabert der faulige Geruch sexueller Zügellosigkeit. Jia She ist längst ergraut und hat zahllose Söhne und Enkel, dennoch will er die Zofe seiner Mutter, Yuanyang („Mandarinente“), zu seiner Konkubine machen. Selbst bei einem Trauerfall ergehen sich die Kinder der Familie Jia, bei aller Pietät, die sie an den Tag legen, in Glücksspiel, Verführungen, Hurerei und anderen Lasterhaftigkeiten. Als Jia Lian die Frau eines Knechtes verführt, wird ihm rasch vergeben. Die Großmutter, die den Sippenvorstand bildet, „lachte nur und sagte: ,Was macht denn das schon, die Kinderchen sind doch noch jung. Er ist doch noch ein kleines, verspieltes Kätzchen, das man doch für seine Taten nicht verantwortlich machen kann. Und welcher Mann schlägt sich denn nicht auf diese Weise durch?‘“

Den Bodensatz der Familie Jia bildet eine Schicht von Bediensteten. Einige davon gehören seit Generationen zur – oder der – Familie, andere sind als Kinder von armen Leuten an die Familie verkauft worden und führen mehr oder weniger ein rechtloses Sklavendasein. Ihr Schicksal ist höchst ungewiss und hat oft einen unglücklichen Ausgang. Am verletzlichsten sind die jungen Zofen und Mägde, denen die Männer der Familie im Lustgarten nachstellen. Eine der Zofen, die sich den sexuellen Forderungen eines männlichen Familienangehörigen widersetzt, wird in den Tod getrieben. Eine andere, der der Diebstahl eines Schmuckstückes zum Vorwurf gemacht wird, begeht Selbstmord.

Der Traum der Roten Kammer enthüllt – teilweise in Verbindung mit den Geschicken der Familie Jia – auch andere finstere Erscheinungen der feudalen Gesellschaft. Der reiche Händler und Hoflieferant Xue Pan, ein Verwandter der Familie, sieht überhaupt kein Problem darin, dass er einen Mann erschlagen hat. „Mit ein wenig Geld ist die Sache schon weniger schlimmer“, tut er den Mord ab. Als Jia She eine Sammlung von 20 kostbaren Fächern zu Gesicht bekommt, die ihm sehr gefallen, will er sie ihrem Besitzer Shi Daizi abkaufen, notfalls unter Zwang. Shi Daizi weigert sich. Um in Verbindung mit der Familie zu treten, zimmerte der Magistratsbeamte Jia Yucun eine Anklage gegen Shi Daizi, setzt sich in den Besitz der Fächer und übergibt sie Jia She. Shi Daizi und seine Familie gehen dabei zugrunde. Die „Phönixschwester“, Frau eines der älteren Söhne der Familie, lässt sich mit 3000 Liang Silber bestechen, um die Heirat Zhang Jin’ges zu verhindern; ihr Plan geling, und die beiden Liebenden gehen in den Tod.

Kein Recht auf Liebe

Die zentralen Figuren des Romans sind Jia Baoyu und die arme Verwandte Lin Daiyu. Die Geschichte nimmt einen mythologischen Beginn: Am Ufer des Seelen-Flusses im mythologischen Westen wächst ein Purpurperlen-Kraut. Jeden Tag wird es vom himmlischen Hüter der göttlichen Jade mit süßem Tau genetzt, wodurch es ewiges Leben erlangt und sich schließlich in eine Fee verwandelt. Als nun der Hüter der göttlichen Jade zur Erde hinabfährt, um ein Leben unter den Sterblichen zu führen, beschließt die Fee, es ihm gleichzutun und ihm die Gabe des süßen Taus mit allen Tränen zu vergelten, die sie in ihrem irdischen Leben vergießen kann. Der Hüter der Jade wird zu Baoyu („kostbare Jade“), die Fee zu Lin Daiyu („schwarzgefleckte Jade“). Die Botschaft, die diese dichterische Wendung Cao Xueqins vermittelt, sosehr sie auch ein beliebter Kunstgriff der damaligen Dichtung war, ist die tiefere Bedeutung der Liebe zwischen den beiden; ihr Bund wurde im Himmel geschlossen, auf Erden aber musste er scheitern. Weshalb, zeigen seine Sittenbeschreibungen.

Zunächst kommen sich Jia Baoyu und Lin Daiyu recht nahe. Sie wachsen zusammen auf, sie haben viele Charakterzüge gemein, sie teilen den Groll gegen feudale Sitte und Riten. Sie entwickeln eine tiefe Liebe zueinander.

Zwar bewundert Baoyu die Schönheit Xue Baochais, seine Wahl gilt aber Lin Daiyu. Nicht nur sein tiefes Gefühl für Daiyu verhindert eine Verbindung mit Baochai, auch deren Vorstellungen und Ideale harmonisieren nicht mit den seinen. Wie seine Eltern fordert auch Baochai ihn immer wieder auf, eifrig zu lernen und an den staatlichen Prüfungen teilzunehmen, um Beamter zu werden. Lin Daiyu dagegen hält nicht viel von den Wegen eines pietätvollen Offiziellen. Sie erkennt und versteht, was Baoyu von gewöhnlichen Leuten unterscheidet und von ihnen nicht anerkannt wird. Sie unterstützt ihn.

Glück ist den beiden indes nicht beschieden. Eine derart freimütige Liebe gilt feudaler Tugend als unmoralisch. Jia Baoyu, Spross eines führenden Feudalklans, hat sich diesen Normen noch stärker unterzuordnen als gewöhnliche Leute. Und die aus einem armen Seitenzweig der Familie kommende Daiyu muss sich aus Gründen der Wahrung ihres Gesichtes dem ebenfalls fügen. Zwischen dieser Gebundenheit und ihrer Liebe gefangen, entwickelt sie eine widersprüchliche und zerrissene Psyche: Baoyu verlangt sie immer neue Liebesbezeugungen ab, sie stellt ihn auf die Probe und fordert Beweise für seine Aufrichtigkeit. Gesteht ihr Baoyu aber seine Liebe offen ein, tut sie, als glaube sie ihm nicht, redet sie von Lüge und Betrug. In ihrer Kammer allein, vergießt sie ungezählte Tränen. Dennoch gelingt es ihr durch ihre Liebe, die Schranken ihres von feudaler Sitte geprägten Bewusstseins zu durchbrechen. Schließlich festigt sich die Beziehung zwischen ihnen, ohne aber die Anerkennung der Familie, insbesondere durch den weiblichen Familienvorstand, zu erlangen. Denn trotz aller literarischen Beispiele von glücklichen Verbindungen gilt feudalem Brauch die Liebe wenig; Heiraten werden nach ökonomischen und Machtgesichtspunkten arrangiert. An diesem Umstand soll denn auch himmlische Liebe scheitern: Die Familie hat beschlossen, Baiyu mit Xue Baochai zu verheiraten, die von besserer Herkunft und loyaler ist. Man nimmt jedoch Rücksicht auf die delikate Gesundheit Baoyus und seine Zuneigung zu Daiyu und sagt ihm, diese sei seine Braut, wohl auf die Freuden und den Trost des Brautgemachtes bauend. Baoyu führt die verschleierte Braut, die er noch immer für seine Geliebte hält, zu seinen Räumen und entdeckt den Schwindel – zu spät. Daiyu, seit einiger Zeit schwer erkrankt ist, ist ihrer Schwindsucht erlegen. Jia Baoyu, wie um seine Fähigkeiten trotz aller Zweifel an ihm und trotz aller Ermahnungen unter Beweis zu stellen, nimmt an den kaiserlichen Prüfungen teil und besteht sie glänzend – um sofort darauf für immer zu verschwinden.

Cao Xueqin ist es meisterhaft gelungen, diese private Tragödie mit dem Trauerspiel des menschenverachtenden Feudalismus zu verbinden.

„Rote“ Forschungen

Welchen Stellenwert dieser Roman im Leben der Chinesen und im Verständnis ihrer eigenen Geschichte spielt, belegt die „Hongxue“, „Rote Forschung“, bei der das „Rot“ für den Traum der Roten Kammer (Honglou Meng) steht. Die Erforscher und Exegeten dieses Romans haben sich eine eigene Tribüne und eine eigene Gesellschaft für diesen Zweck geschaffen, die im Lande und auch international Beachtung findet. Wie der Faust im Deutschen dient übrigens auch der Traum als Schatzkammer für viele sprichwörtliche Redensarten und Zitate. Nahezu in jedem Jahr werden Tagungen zum Traum abgehalten, an denen Interessenten aus vielen verschiedenen Ländern teilnehmen. Dieses Interesse zieht weitere Menschen an. Bildhauer entwerfen und schaffen Skulpturen der Romangestalten, Opern, das Fernsehen, Film und Tanz bis hin zu Comicverlangen nehmen sich der Übertragung in andere Medien an. Modellbauer bauen den „Garten der Großen Aussicht“ in jahrelanger Kleinarbeit nach.

Längst ist der Traum der Roten Kammer auch fester Bestandteil der Weltliteratur. Übersetzungen in die wichtigsten Sprachen sind erfolgt.

Aus China im Aufbau, Nr. 5, 1985

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