Psychische
Hürden: Studierende unter Druck
Von
Lu Rucai

Ma
Jiajue, 23, stammt aus einer verarmten ländlichen Familie
aus einem abgelegenen Dorf in der Autonomen Region der Zhuang-Nationalität
der Provinz Guangxi. Ma schrieb sich an der berühmten Universität
Yunnan ein, und sah sich außerstande, sich in der Studienumgebung
zurechtzufinden. Er hatte Wutausbrüche, die in seinem Minderwertigkeitsgefühl
wurzelten und durch die Armut seiner Familie hervorgerufen
wurden, und damit einhergehend wenige Freunde. Im Februar
erschlug Ma vier seiner Klassenkollegen nach einer Auseinandersetzung.
Dieser Vorfall schockierte das ganze Land. Viele fragten,
was stimmt nicht mit unseren Kindern?
Anpassungsperiode
Universitätsstudierende,
die in China auch „Günstlinge des Himmels“ genannt werden,
haben ein aufregendes Leben und finden nach dem Studienabschluss
relativ gut bezahlte Berufe. Aber Selbstmorde auf dem Universitätsgelände,
Gewalt und diese letzten Morde, haben nichtsdestotrotz die
psychische Gesundheit der Studierenden zu einer dringenden
Angelegenheit gemacht. Ein Student, der ungenannt bleiben
will, erzählte von seinen Anpassungsschwierigkeiten an
der Universität. Von Natur aus schüchtern, wurde seine
Introvertiertheit noch gesteigert durch seine Schwierigkeiten
mit den anderen mitzuhalten. „Durch ein unterschwelliges Unterlegenheitsgefühl
kam ich mir dumm vor“, sagt er, „Ich konnte mich meinen Klassenkollegen
gegenüber nicht natürlich verhalten und mit der Zeit wurde
ich zum Einzelgänger. Die Morde in Yunnan haben mir meine
Probleme vor Augen geführt und ich habe Angst, dass ich eines
Tages auch die Kontrolle verlieren werde.“
Zur Zeit sind an der Universität häufig
Studierende mit psychischen Problemen anzutreffen. Der Bericht
Die Psychische Verfassung der Beijinger Universitätsstudierenden
aus dem Jahre 2001 zeigte, dass 16.51 Prozent der Bejinger
Universitätsstudierenden ernste diesbezügliche Probleme
haben. Der Großteil ist aus ländlichen Gebieten.
Die Daten wurden von Ende 1997 bis Anfang 1998 erhoben und
Psychologen schätzen, dass der Anteil heute bei über
30 Prozent liegt. Das bedeutet, dass fast ein Drittel der
23 Millionen Universitätsstudierenden in China ernste
psychische Probleme haben. Laut Shi Gang, einem Psychologieprofessor
der Chinesischen Universität für Landwirtschaft, hat
jeder Jahrgang seine eigenen psychischen Symptome. Die Erstsemester
haben Probleme, sich an die neue Studienumgebung insbesondere
an die neuen zwischenmenschlichen Beziehungen zu gewöhnen.
Nachdem am Ende des ersten Semesters Stipendien an Studierende
mit guten Noten vergeben werden, finden manche Studierende
im zweiten Studienjahr den Durck unerträglich. Ein weiteres
Problem ist, dass die sexuelle psychische Verfassung weit
hinter der körperlichen Reifung herhinkt. Das Hauptanliegen
der Studierenden der höheren Jahrgänge ist, einen
guten Arbeitsplatz zu finden. „Die meisten dieser Probleme
sind eine unvermeidbare Folge des Erwachsenwerdens, können
aber, wie beim Fall Ma Jiajue, wenn man nicht richtig damit
umgeht, zu Tragödien führen“, sagt Shi.
Hintergründe
Lius
Sohn ist im dritten Jahrgang der Universität. Er ist
süchtig nach Online-Spielen und hat kein Interesse daran,
Kontakte mit Menschen zu knüpfen. „Wir hatten diese Probleme
nicht, warum haben sie so viele“, fragt Liu. Am Östlichen
Psychologischen Beratungszentrum erklärt Doktor Dong
Lijun, dass psychische Probleme auch existierten als Liu jung
war, aber mit Chinas aufblühender Wirtschaft wurde die psychische
Gesundheit im Streben nach Materialismus vernachlässigt.
„Die gesellschaftliche Entwicklung hat viele Probleme mit
sich gebracht“, sagt Dong. „Ein beschleunigter Lebensrhythmus
und hoher Druck am Arbeitsmarkt machen Universitätsstudierende
viel anfälliger für Verhaltensstörungen.“
Für das Aufwallen psychischer Probleme gibt
es außer dem gesellschaftlichen Wandel noch viele andere
Gründe. „Unter dem herrschenden Erziehungssystem werden die
Universitätsstudierenden mit weniger Rückschlägen
konfrontiert und verfügen deshalb über eine mangelhafte Anpassungsfähigkeit“,
sagt Shi. Die familiäre Umgebung spielt auch eine wichtige
Rolle in der Entwicklung eines Kindes. Dr. Fang, Arzt an der
Univerität Beijing, weist darauf hin, dass eine ungesunde
Familienumgebung negative Auswirkungen auf die Gesundheitsverfassung
hat. „Ein großer Prozentsatz der Studierenden mit psychischen
Problemen kommt aus gestörten Familienverhältnissen“,
sagt Fang, „Sie verfügen nicht über die Fähigkeit, mit
zwischenmenschlichen Beziehungen umzugehen und können
keinen Druck ertragen. Für Studierende mit ländlicher
Herkunft ist ein Minderwertigkeitsgefühl aufgrund der ärmlichen
Verhätlnisse ihrer Eltern das größte Problem.“
In ihrem Streben, möglichst viele Studierende anzuwerben,
vernachlässigen die Universitäten die psychische
Gesundheit der Studierenden.
Unterstützungssysteme
Psychische Belange werden in China kaum
ernst genommen. Leute mit psychischen Störungen werden
als „verrückt“ angesehen, deshalb zögern die meisten,
professionelle Hilfe anzunehmen und gehen eher in den Tempel
auf der Suche nach spirituellem Trost. Psychologische Beratung
ist sehr selten in China und Studierende gehen nicht zu Psychologen,
wenn Probleme auftreten, obwohl sie generell sehr offen sind.
„Ich wende mich mit Problemen lieber an meine engen Freunde“,
sagt Wang Hao, ein Student der Polytechnischen Hochschule
Beijing, „Ich glaube daran, sie selbst lösen zu können,
anstatt zu einem Seelenklempner zu gehen.“
Mit dem Fortschritt der Gesellschaft verändern
sich auch die Anschauungen. „Die Einstellung der Studierenden
hat sich sehr geändert“, sagt Zhao, ein psychologischer
Berater an der Zentralen Universität für Finanz- und
Wirtschaftswissenschaften, „Als die Beratungen anfingen, kam
niemand, heute sind sie aber sehr beliebt. Die Studierenden,
die hierher kommen, wollen Ratschläge zu Themen wie Lernkompetenz
und emotionalen Problemen. Das ist das Ergebnis des gesellschaftlichen
Wandels.“
Um sich diesem Problem zu widmen, haben
70 Prozent der Beijinger Hochschulen psychologische Beratungszentren
eingerichtet, um den Studierenden Experten anzubieten, mit
denen sie über ihre Konflikte und Probleme sprechen können.
Doch die psychische Gesundheitserziehung ist nicht systematisch.
Laut des Berichts Die Psychische Verfassung der
Beijinger Universitätsstudierenden hat die Hälfte
dieser Zentren keine fixen Fördermittel und die meisten
unterstehen den Büros für Studentische Angelegenheiten. Manche
Universitäten haben keine extra Beratungszimmer, geschweige
denn eine dazueghörige Ausstattung. Eine psychologische
Beraterin einer Beijinger Universität sagte, dass die
meisten Zentren auf Aufforderung des Bildungsministeriums
gegründet worden wären und dass die Berater keine Ausbildung
in diesem Gebiet hätten. Doktor Dong vom Östlichen
Psychologischen Beratungszentrum sagt: „Die Funktion der Campusberater
ist, eine grundlegende Einschätzung der Probleme vorzunehmen
und die Studierenden mit ernsten Problemen an professionelle
Organisationen zu überweisen. Leider sind sie nicht qualifiziert,
mehr zu tun, obwohl es in manchen Fällen viel einfacher
wäre, den Verzweifelten zu helfen, wenn man ihre Probleme
früher behandeln könnte.“
Professionelle Psychologen finden, dass
die psychologische Gesundheitserziehung im Universitätsbereich
durch den Mangel an Beratern vom Fach ernsthafte Lücken aufweist.
Das Verhältnis zwischen Studierenden und psychologischen
Beratern ist an den meisten Universitäten 10.000 zu eins,
viel zu wenig, um sich um die steigende Zahl der Studierenden
mit psychischen Problemen kümmern zu können.