China
gestern
–
„China heute“
Zwei
Jahre in einer chinesischen Redaktion
Von
Olivier Roos
Als ich im September 2000 mit meiner Frau
nach Beijing kam, erfüllte sich ein Plan, den wir lange mit
uns herumgetragen hatten. Sie hatte eine Stelle als ausländische
Lektorin an der Peking-Universität angenommen, womit sich
uns eine ideale Gelegenheit bot, wieder nach China zurückzukehren.
Das nämlich hatten wir uns vorgenommen, als wir fünf Jahre
davor unseren Studienaufenthalt an der Shandong-Universität
beendeten.
Ich war zunächst noch mit meinem Universitätsabschluss
beschäftigt und schrieb an meiner Magister-Arbeit. Als
ich im Dezember 2001 endlich die letzten Prüfungen hinter mich
gebracht hatte, begab auch ich mich auf Stellensuche in Beijing.
Irgendetwas zu finden war nicht schwierig: Hier etwas Deutsch
unterrichten, da Artikel verfassen, dort ab und zu übersetzen.
Dies war zwar genug, um sich eine Weile durchzuschlagen, aber
auf die Dauer würde es unbefriedigend sein. Ein rechter Job
musste her.
So war ich ganz erfreut, als mich im Februar
2002 eine Freundin darauf aufmerksam machte, dass die Deutschabteilung
von „China heute“ einen „Ausländischen Experten“ suchte.
Es war ein sonniger Tag, als ich zum Vorstellungsgespräch
fuhr. Das Taxi brachte mich von der Peking-Universität
durch den üblichen Stau in Zhongguancun bis vor das Waiwenju
-Gebäude. Durch das Osttor betrat ich den Innenhof. Er
machte einen abgenützten und überfüllten Eindruck, wie eine
viele Jahre bewohnte Wohnung, in der sich die persönlichen
Gegenstände ihres Besitzers stapeln und etwas beengend
wirken, aber nicht ungemütlich. Ich blickte mich um und bemerkte,
dass auf der einen Seite die grauen Fassaden vollständig
mit Efeu überwuchert waren, was den Hauch eines europäischen
Landhauses in den Innenhof brachte. In der zaghaften Wärme
der ersten Frühlingstage sprossen die ersten Blätter. Vor
mir zog sich ein ebenfalls überwucherter Maschendrahtzaun in
die Höhe, und dahinter erkannte ich ein Basketballfeld.
Ein Korb war kaputt. Die andere Hälfte des Innenhofs belegte
ein Autoparkplatz, der bis zum letzten Platz besetzt war.
Bald fand ich linker Hand, wie man es mir
beschrieben hatte, hinter einer Baumreihe den Eingang zum Redaktionsgebäude
von „China heute“. Ein Schaufenster mit den letzten Nummern
der Zeitschrift in sechs Sprachen – Spanisch, Englisch, Französisch,
Arabisch, Chinesisch, Tibetisch – auf der einen und sonnengebleichten
Büchern auf der anderen Seite begrüßte den Besucher. Ich
trat durch die Glastür. Links blickte das Fenster des Portierkämmerchens
in den Eingangsraum, und rechts hing die Uhr, die einem anzeigte,
ob man rechtzeitig zur Arbeit erschien oder nicht. Darunter
bedeckte ein breites Anschlagbrett die Wand.
Später, als ich dort arbeitete, warf
ich immer wieder gerne einen Blick auf die Bekanntmachungen,
denn sie lieferten mir in den zwei Jahren bei „China heute“
viel Anschauungsmaterial über das Leben und die Veränderungen
in einer staatlichen Arbeitseinheit. Hier wurden die verschiedensten
Informationen ausgehängt: die letzten Neuerungen zur Reform
der Krankenversicherung, die Beträge und Namen der Spender
anlässlich eines Spendenaufrufs, Bilder von Sitzungen zum
Studium der „Drei Vertretungen“, Empfehlungen und Ermahnungen
des Quartierpolizeibüros zu korrektem Verkehrsverhalten, Bilder
und Berichte von Veranstaltungen für die jüngeren Mitarbeiter
der Waiwenju usw.
Hinter dem hellen Vorraum am Eingang führte
ein langer, schmaler Gang auf beide Seiten. Dunkel war es hier
und kühl.
Im Rückblick kommt es mir vor, als ob dort
nie die Lichter gebrannt haben, aber dieser Eindruck mag daher
rühren, dass sich an seinen beiden Enden ein helles Fenster
befand, was den Gang finsterer erscheinen ließ, als er
tatsächlich war. Dieser Kontrast war in den oberen Stockwerken,
wo sich auch die Deutschabteilung von „China heute“ befand,
noch ausgeprägter, so dass es unmöglich war, jemanden
zu erkennen, der einem vom anderen Ende des Gangs entgegenkam.
Ich stieg also die Treppe hoch in den 3. Stock
und trat in das Büro der deutschen Redaktion von „China heute“
ein. Man bat mich, auf einem breiten Ledersofa Platz zu nehmen.
Dahinter ragte ein Bücherregal in die Höhe, das bis zur
Decke reichte und eine sehr gut bestückte Sammlung von Wörterbüchern
und Nachschlagewerken enthielt. Leicht aufgeregt begrüßte
ich die vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und setzte mich.
Meine Nervosität verflog aber rasch, als sich herausstellte,
dass Herr H. sich während seines Doktoratsstudiums in Deutschland
auch mit deutscher Sprachwissenschaft auseinandergesetzt hatte.
Ich hatte selber Sprachwissenschaft studiert, und so konnten
wir ein wenig fachsimpeln.
Bald schon erhielt ich Bescheid, dass ich
für die Stelle ausgewählt worden sei. Dies freute mich
nicht nur, weil ich endlich eine feste Stelle hatte, sondern
auch, weil meine Frau nach zwei Jahren an der Peking-Universität
etwas anderes machen wollte als unterrichten. Da jedoch Visum
und Wohnung an ihre Anstellung gebunden waren, war ungewiss,
welche Zukunft uns erwarten würde. Doch mit meiner Stelle bei
„China heute“ waren wir unsere Sorgen los: Unsere Aufenthaltsgenehmigung
würde über mich laufen und wir würden ins altehrwürdige Friendship
Hotel mit seiner einmalig grünen Anlage ziehen dürfen.
So bezog ich meinen Arbeitsplatz – ich genoss
den Vorzug, ein Büro für mich allein zu haben – und besorgte
in den nächsten Tagen alles, was zu einer vollständigen
Ausrüstung gehört. Neben Schreibzeug und Radiergummi (wobei
ich etwas erstaunt war, dass sich jeder sein Arbeitswerkzeug
selber beschaffen musste) umfasste dies ein Emailgeschirr und
Besteck, um in der Mensa zu essen. Arbeitsbeginn war um 8.30
Uhr, von 11.30 bis 13.30 Mittagspause inkl. 1 Stunde für Lektüre
und um 16.30 Feierabend. Besonders auf die Zeit für die Lektüre
freute ich mich – endlich würde ich einmal Zeit haben, um regelmäßig
chinesische Zeitungen zu lesen. Dachte ich.
Ich fühlte mich bald heimisch an meinem Arbeitsplatz,
und meine Kolleginnen und Kollegen taten auch alles, damit ich
mich wohlfühlte. Das tägliche Ritual des Gangs in die Mensa
wuchs mir ans Herz: Genau um 11.25 hörte man auf dem Gang
das Geschirr klappern, was unmissverständlich die Mittagspause
ankündigte. Die Lektürepause nach dem Essen nutzte ich allerdings
selten, um Zeitung zu lesen, denn immer wieder – das war natürlich
erfreulich – ergab sich ein unterhaltsames Gespräch mit
meinen Kolleginnen und Kollegen. Ich schätzte mich glücklich,
selber erfahren zu können, was es heißt, in einer
noch recht sozialistischen Arbeitseinheit tätig zu sein,
und war immer neugierig zu erfahren, was dies für den Alltag
meiner Kolleginnen und Kollegen bedeutete. So bot sich mir die
Gelegenheit, unmittelbar mit dem System- und Gesellschaftswandel
in China in Berührung zu kommen, der immer dann am deutlichsten
sichtbar wurde, wenn sie aus früheren Zeiten erzählten.
Und ich kriegte vor Augen geführt, was das Konzept der Arbeitseinheit
als kleinster gesellschaftlicher Zelle im Konkreten bedeutete:
Nämlich, dass sie sich für einen verantwortlich fühlte
wie Eltern für ihre Kinder. Auch wenn diese Verantwortlichkeit
im Gegensatz zu früher schon deutlich aufgeweicht worden ist,
wurde dies besonders in den Zeiten von SARS deutlich, als jeder
ein kleines „Gesundheitspaket“ mit Vitamintabletten, Seife,
Fruchtsaft und Mundschutz erhielt. Es war zwar nur eine Geste,
aber immerhin.
Doch so, wie das Verantwortungsbewusstsein
der Eltern ihren Kindern als Bevormundung lästig sein kann,
lernte ich über meine Kolleginnen und Kollegen auch die Kehrseite
des Umsorgtseins durch die Arbeitseinheit kennen: Nämlich
dass die Grenze dessen, wofür sie sich zuständig wähnte,
weit in den Bereich reichte, den man in Europa zur Privatsphäre
rechnen würde.
So lernte ich in den zwei Jahren bei „China
heute“ einiges über die Lebensumstände in diesem Land,
und stieß doch immer wieder auf einige neckische Details:
Dass zum Beispiel leichter Schneefall ein Grund sein konnte,
nicht zur Arbeit kommen zu müssen – für einen Schweizer undenkbar.
Gleichzeitig erstaunte mich die Gelassenheit, mit welcher meine
chinesischen Kolleginnen und Kollegen Stromausfälle hinnahmen,
die im Sommer zwar geplant waren, aber über die man niemanden
informiert hatte. Ich konnte jeweils nicht anders, als mich
über solche Nachlässigkeit zu ärgern, und in diesen
Momenten wurde doch die kulturelle Trennlinie spürbar, die uns
unterscheidet.
Besonders beeindruckte mich die hervorragenden
Sprachkenntnisse meiner Kolleginnen und Kollegen. In der Regel
übersetzt man ja in seine Muttersprache, und das ist schwierig
genug. Deshalb staunte ich über die Gewandtheit, mit der meine
Kolleginnen und Kollegen vom Chinesischen ins Deutsche übersetzten,
zumal sie ja nicht regelmäßig Kontakt zu deutschen
Muttersprachlern hatten, der ihnen geholfen hätte, ihr
Sprachniveau aufrecht zu erhalten. Dass und v. a. wie weit dies
gerade für mich dringend nötig war, hätte ich im Vorfeld
meiner Tätigkeit bei „China heute“ nicht gedacht. Ganz
perfekt waren die Texte, die ich vorgelegt bekam, natürlich
nicht, sonst wäre ich ja als „Sprachexperte“ überflüssig
gewesen. Als schwierigste Korrekturen erwiesen sich jene Formulierungen,
die knapp daneben lagen. Hier war sprachliches Feingefühl gefordert,
und hier merkte ich auch, dass die regelmäßige Lektüre
deutschsprachiger Texte nötig war, um mir dieses zu erhalten.
Als ich zum letzten Mal das Redaktionsgebäude
von „China heute“ verließ, war schon einiges anders als
am Anfang: Der Basketballkorb war repariert worden, in den Gängen
war eine stärkere Beleuchtung eingebaut worden, und in
den Schaufenstern am Eingang hatten die Zeitschriften und Bücher
großen farbigen Tafeln Platz gemacht, die die verschiedenen
Abteilungen und jede Fremdsprachenredaktion vorstellten. Es
wurde auch davon gesprochen, dass die fremdsprachlichen Publikationen
der Waiwenju reorganisiert würden. Ich wünsche meinen ehemaligen
Kolleginnen und Kollegen, dass sie ihre Arbeit so weiterführen
können wie bisher, und alles Gute für die Zukunft.