Juli 2004
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China gestern

– „China heute“

Zwei Jahre in einer chinesischen Redaktion

Von Olivier Roos

Als ich im September 2000 mit meiner Frau nach Beijing kam, erfüllte sich ein Plan, den wir lange mit uns herumgetragen hatten. Sie hatte eine Stelle als ausländische Lektorin an der Peking-Universität angenommen, womit sich uns eine ideale Gelegenheit bot, wieder nach China zurückzukehren. Das nämlich hatten wir uns vorgenommen, als wir fünf Jahre davor unseren Studienaufenthalt an der Shandong-Universität beendeten.

Ich war zunächst noch mit meinem Universitätsabschluss beschäftigt und schrieb an meiner Magister-Arbeit. Als ich im Dezember 2001 endlich die letzten Prüfungen hinter mich gebracht hatte, begab auch ich mich auf Stellensuche in Beijing. Irgendetwas zu finden war nicht schwierig: Hier etwas Deutsch unterrichten, da Artikel verfassen, dort ab und zu übersetzen. Dies war zwar genug, um sich eine Weile durchzuschlagen, aber auf die Dauer würde es unbefriedigend sein. Ein rechter Job musste her.

So war ich ganz erfreut, als mich im Februar 2002 eine Freundin darauf aufmerksam machte, dass die Deutschabteilung von „China heute“ einen „Ausländischen Experten“ suchte.

Es war ein sonniger Tag, als ich zum Vorstellungsgespräch fuhr. Das Taxi brachte mich von der Peking-Universität durch den üblichen Stau in Zhongguancun bis vor das Waiwenju -Gebäude. Durch das Osttor betrat ich den Innenhof. Er machte einen abgenützten und überfüllten Eindruck, wie eine viele Jahre bewohnte Wohnung, in der sich die persönlichen Gegenstände ihres Besitzers stapeln und etwas beengend wirken, aber nicht ungemütlich. Ich blickte mich um und bemerkte, dass auf der einen Seite die grauen Fassaden vollständig mit Efeu überwuchert waren, was den Hauch eines europäischen Landhauses in den Innenhof brachte. In der zaghaften Wärme der ersten Frühlingstage sprossen die ersten Blätter. Vor mir zog sich ein ebenfalls überwucherter Maschendrahtzaun in die Höhe, und dahinter erkannte ich ein Basketballfeld. Ein Korb war kaputt. Die andere Hälfte des Innenhofs belegte ein Autoparkplatz, der bis zum letzten Platz besetzt war.

Bald fand ich linker Hand, wie man es mir beschrieben hatte, hinter einer Baumreihe den Eingang zum Redaktionsgebäude von „China heute“. Ein Schaufenster mit den letzten Nummern der Zeitschrift in sechs Sprachen – Spanisch, Englisch, Französisch, Arabisch, Chinesisch, Tibetisch – auf der einen und sonnengebleichten Büchern auf der anderen Seite begrüßte den Besucher. Ich trat durch die Glastür. Links blickte das Fenster des Portierkämmerchens in den Eingangsraum, und rechts hing die Uhr, die einem anzeigte, ob man rechtzeitig zur Arbeit erschien oder nicht. Darunter bedeckte ein breites Anschlagbrett die Wand.

Später, als ich dort arbeitete, warf ich immer wieder gerne einen Blick auf die Bekanntmachungen, denn sie lieferten mir in den zwei Jahren bei „China heute“ viel Anschauungsmaterial über das Leben und die Veränderungen in einer staatlichen Arbeitseinheit. Hier wurden die verschiedensten Informationen ausgehängt: die letzten Neuerungen zur Reform der Krankenversicherung, die Beträge und Namen der Spender anlässlich eines Spendenaufrufs, Bilder von Sitzungen zum Studium der „Drei Vertretungen“, Empfehlungen und Ermahnungen des Quartierpolizeibüros zu korrektem Verkehrsverhalten, Bilder und Berichte von Veranstaltungen für die jüngeren Mitarbeiter der Waiwenju usw.

Hinter dem hellen Vorraum am Eingang führte ein langer, schmaler Gang auf beide Seiten. Dunkel war es hier und kühl.

Im Rückblick kommt es mir vor, als ob dort nie die Lichter gebrannt haben, aber dieser Eindruck mag daher rühren, dass sich an seinen beiden Enden ein helles Fenster befand, was den Gang finsterer erscheinen ließ, als er tatsächlich war. Dieser Kontrast war in den oberen Stockwerken, wo sich auch die Deutschabteilung von „China heute“ befand, noch ausgeprägter, so dass es unmöglich war, jemanden zu erkennen, der einem vom anderen Ende des Gangs entgegenkam.

Ich stieg also die Treppe hoch in den 3. Stock und trat in das Büro der deutschen Redaktion von „China heute“ ein. Man bat mich, auf einem breiten Ledersofa Platz zu nehmen. Dahinter ragte ein Bücherregal in die Höhe, das bis zur Decke reichte und eine sehr gut bestückte Sammlung von Wörterbüchern und Nachschlagewerken enthielt. Leicht aufgeregt begrüßte ich die vier Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und setzte mich. Meine Nervosität verflog aber rasch, als sich herausstellte, dass Herr H. sich während seines Doktoratsstudiums in Deutschland auch mit deutscher Sprachwissenschaft auseinandergesetzt hatte. Ich hatte selber Sprachwissenschaft studiert, und so konnten wir ein wenig fachsimpeln.

Bald schon erhielt ich Bescheid, dass ich für die Stelle ausgewählt worden sei. Dies freute mich nicht nur, weil ich endlich eine feste Stelle hatte, sondern auch, weil meine Frau nach zwei Jahren an der Peking-Universität etwas anderes machen wollte als unterrichten. Da jedoch Visum und Wohnung an ihre Anstellung gebunden waren, war ungewiss, welche Zukunft uns erwarten würde. Doch mit meiner Stelle bei „China heute“ waren wir unsere Sorgen los: Unsere Aufenthaltsgenehmigung würde über mich laufen und wir würden ins altehrwürdige Friendship Hotel mit seiner einmalig grünen Anlage ziehen dürfen.

So bezog ich meinen Arbeitsplatz – ich genoss den Vorzug, ein Büro für mich allein zu haben – und besorgte in den nächsten Tagen alles, was zu einer vollständigen Ausrüstung gehört. Neben Schreibzeug und Radiergummi (wobei ich etwas erstaunt war, dass sich jeder sein Arbeitswerkzeug selber beschaffen musste) umfasste dies ein Emailgeschirr und Besteck, um in der Mensa zu essen. Arbeitsbeginn war um 8.30 Uhr, von 11.30 bis 13.30 Mittagspause inkl. 1 Stunde für Lektüre und um 16.30 Feierabend. Besonders auf die Zeit für die Lektüre freute ich mich – endlich würde ich einmal Zeit haben, um regelmäßig chinesische Zeitungen zu lesen. Dachte ich.

Ich fühlte mich bald heimisch an meinem Arbeitsplatz, und meine Kolleginnen und Kollegen taten auch alles, damit ich mich wohlfühlte. Das tägliche Ritual des Gangs in die Mensa wuchs mir ans Herz: Genau um 11.25 hörte man auf dem Gang das Geschirr klappern, was unmissverständlich die Mittagspause ankündigte. Die Lektürepause nach dem Essen nutzte ich allerdings selten, um Zeitung zu lesen, denn immer wieder – das war natürlich erfreulich – ergab sich ein unterhaltsames Gespräch mit meinen Kolleginnen und Kollegen. Ich schätzte mich glücklich, selber erfahren zu können, was es heißt, in einer noch recht sozialistischen Arbeitseinheit tätig zu sein, und war immer neugierig zu erfahren, was dies für den Alltag meiner Kolleginnen und Kollegen bedeutete. So bot sich mir die Gelegenheit, unmittelbar mit dem System- und Gesellschaftswandel in China in Berührung zu kommen, der immer dann am deutlichsten sichtbar wurde, wenn sie aus früheren Zeiten erzählten. Und ich kriegte vor Augen geführt, was das Konzept der Arbeitseinheit als kleinster gesellschaftlicher Zelle im Konkreten bedeutete: Nämlich, dass sie sich für einen verantwortlich fühlte wie Eltern für ihre Kinder. Auch wenn diese Verantwortlichkeit im Gegensatz zu früher schon deutlich aufgeweicht worden ist, wurde dies besonders in den Zeiten von SARS deutlich, als jeder ein kleines „Gesundheitspaket“ mit Vitamintabletten, Seife, Fruchtsaft und Mundschutz erhielt. Es war zwar nur eine Geste, aber immerhin.

Doch so, wie das Verantwortungsbewusstsein der Eltern ihren Kindern als Bevormundung lästig sein kann, lernte ich über meine Kolleginnen und Kollegen auch die Kehrseite des Umsorgtseins durch die Arbeitseinheit kennen: Nämlich dass die Grenze dessen, wofür sie sich zuständig wähnte, weit in den Bereich reichte, den man in Europa zur Privatsphäre rechnen würde.

So lernte ich in den zwei Jahren bei „China heute“ einiges über die Lebensumstände in diesem Land, und stieß doch immer wieder auf einige neckische Details: Dass zum Beispiel leichter Schneefall ein Grund sein konnte, nicht zur Arbeit kommen zu müssen – für einen Schweizer undenkbar. Gleichzeitig erstaunte mich die Gelassenheit, mit welcher meine chinesischen Kolleginnen und Kollegen Stromausfälle hinnahmen, die im Sommer zwar geplant waren, aber über die man niemanden informiert hatte. Ich konnte jeweils nicht anders, als mich über solche Nachlässigkeit zu ärgern, und in diesen Momenten wurde doch die kulturelle Trennlinie spürbar, die uns unterscheidet.

Besonders beeindruckte mich die hervorragenden Sprachkenntnisse meiner Kolleginnen und Kollegen. In der Regel übersetzt man ja in seine Muttersprache, und das ist schwierig genug. Deshalb staunte ich über die Gewandtheit, mit der meine Kolleginnen und Kollegen vom Chinesischen ins Deutsche übersetzten, zumal sie ja nicht regelmäßig Kontakt zu deutschen Muttersprachlern hatten, der ihnen geholfen hätte, ihr Sprachniveau aufrecht zu erhalten. Dass und v. a. wie weit dies gerade für mich dringend nötig war, hätte ich im Vorfeld meiner Tätigkeit bei „China heute“ nicht gedacht. Ganz perfekt waren die Texte, die ich vorgelegt bekam, natürlich nicht, sonst wäre ich ja als „Sprachexperte“ überflüssig gewesen. Als schwierigste Korrekturen erwiesen sich jene Formulierungen, die knapp daneben lagen. Hier war sprachliches Feingefühl gefordert, und hier merkte ich auch, dass die regelmäßige Lektüre deutschsprachiger Texte nötig war, um mir dieses zu erhalten.

Als ich zum letzten Mal das Redaktionsgebäude von „China heute“ verließ, war schon einiges anders als am Anfang: Der Basketballkorb war repariert worden, in den Gängen war eine stärkere Beleuchtung eingebaut worden, und in den Schaufenstern am Eingang hatten die Zeitschriften und Bücher großen farbigen Tafeln Platz gemacht, die die verschiedenen Abteilungen und jede Fremdsprachenredaktion vorstellten. Es wurde auch davon gesprochen, dass die fremdsprachlichen Publikationen der Waiwenju reorganisiert würden. Ich wünsche meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen, dass sie ihre Arbeit so weiterführen können wie bisher, und alles Gute für die Zukunft.

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