Kann
das ländliche China Schritt halten?
Von unserem Mitarbeiter Zhang
Xueying


Während
die industrielle und städtische Entwicklung in den letzten
50 Jahren durch die Entschlossenheit der chinesischen Regierung
angekurbelt wurde, wurden die ländlichen Gebiete vernachlässigt.
Nun richten die politischen Entscheidungsträger ihren
Blick auf die ländlichen Gegebenheiten. Obwohl sich die
Zentralregierung in den letzten Jahren bemühte, die Situation
zu verbessern, ging die Durchführung der betreffenden politischen
Entscheidungen langsam vor sich. Die Regierung brachte 2004
eine Reihe von landwirtschaftlichen Reformmaßnahmen
vor, die die Besteuerung der Bauern, deren Aufenthaltsstatus
und Land betrafen und als Bekundung der Entschlossenheit der
neuen Führung angesehen wurde, ländliche Probleme anzugehen.
Einige Beobachter der chinesischen Politik verglichen das
Jahr 2004 mit einem „zweiten Frühling“ für das ländliche
China.
Im
Februar 2004 befasste sich das Dokument Nummer Eins
der Zentralregierung mit der Anhebung des bäuerlichen
Einkommens. Während der jährlichen Tagung des Nationalen
Volkskongresses und der Politischen Konsultativkonferenz des
Chinesischen Volkes im März machte Ministerpräsident
Wen Jiabao in seinem Arbeitsbericht der Regierung die Angelegenheit
der ländlichen Gebiete zu einem zentralen Thema. Seitdem
gab es eine Reihe konkreter Maßnahmen: Landwirtschaftssteuern
wurden um 3 Prozentpunkte verringert und werden in 5 Jahren
völlig abgeschafft; direkte Fördermittel für Bauern
werden 2004 insgesamt 10 Milliarden Yuan ausmachen; und der
Spezialfonds zur Unterstützung der Landwirtschaft wird im
Vergleich zu 2003 um 30 Miliarden Yuan erhöht und erreicht
damit eine nie dagewesene Höhe von 150 Milliarden Yuan.
Für Chinas 900 Millionen Bauern bedeuten diese Zahlen einen
finanziellen Gewinn von mehr als 300 Yuan pro Kopf. Volkswirtschaftler
glauben, dass diese Maßnahmen einen neuen landwirtschaftlichen
Aufschwung mit sich ziehen werden, genauso wie das „Verantwortungssystem“
(vertragsgebundenes System für den auf Haushaltsbasis festgelegten
Ertrag), das in den ausgehenden 70er Jahre die landwirtschaftliche
Produktivität steigerte.
Klüfte
überwinden
Von
1978 bis 1989 fand die erste Reform der ländlichen Gebiete
statt: die landwirtschaftliche Kollektivproduktion der Mao-Ära
machte dem „Verantwortungssystem“ Platz. Bauern erhielten
ihr eigenes Land und entschieden selbst, was sie darauf anbauen
wollten. Das Resultat dieser Reform war die rapide Zunahme
von Wohlstand. Ausgehend vom Fixpreis stieg der landwirtschaftliche
Produktionswert Chinas in den 80er Jahren um 86 Prozent und
das Pro-Kopf-Einkommen um 192 Prozent. 1978 erreichte das
durchschnittliche bäuerliche Einkommen 39 Prozent des
städtischen, doch 1983 war es auf 55 Prozent gestiegen.
Die massive Anhäufung von ländlichem Wohlstand lieferte
wertvolles Kapital für das spätere industrielle Wachstum.
Seit
1984 sind Städte der Mittelpunkt der chinesischen Wirtschafstentwicklung.
Die Privatisierung der Industrieproduktion, des Exports und
des Wohnbaus verhalfen den Einkommen der Städter zu einem
Höhenflug, während die Lage der Bauern unverändert
blieb.
Bauern
erfüllten lange Zeit eine doppelte Pflicht: Einmal die Produktion
von Getreide für die Bedürfnisse des städtischen Verbrauchs
ungeachtet des Kaufpreises; zum anderen Steuerzahlungen zur
Unterstützung der städtischen und industriellen Entwicklung
sowie der täglichen Tätigkeiten der Gemeinderegierungen.
China ist das einzige Land auf der Welt, das Landwirtschaftssteuern
von Bauern einhebt. Daraus folgte, dass das landwirtschaftliche
Pro-Kopf-Nettoeinkommen der Bauern von 1998 bis 2000 von Jahr
zu Jahr abnahm – um 30 Yuan im Jahr 1998, um 57 Yuan im Jahr
1999 und um 43 Yuan im Jahr 2000. Diese Abnahme beeinträchtigte
77.5 Prozent der bäuerlichen Haushalte, die zum Großteil
von der Landwirtschaft lebten. Während der selben Zeitspanne
fiel das ländliche Pro-Kopf-Einkommen auf 35 Prozent
des städtischen. 2003 machte das 2.622 Yuan aus. Die
Erweiterung der Kluft zwischen Stadt und Land verminderte
auch die bäuerliche Kaufkraft. In den letzten Jahren
stagnierte der städtische Verbrauchermarkt und der Verkauf
von Leichtindustrieprodukten und elektrischen Hauhaltsgeräten
war flau. Doch ist der Prozentsatz der mit Fernsehgeräten
und anderen elektrischen Haushaltsgeräten ausgestatteten
ländlichen Haushalte noch immer niedrig und wenige verfügen
über anständige Wohnmöglichkeiten. Aufgrund des
geringen Einkommens schwand das Interesse an der Landwirtschaft.
Dang Guoying, Forscher am Forschungsinstitut für Ländliche
Entwicklung der Chinesischen Akademie für Sozialwissenschaften,
meinte, dass die Unterstützung, die den Bauern während
der Übergangsphase gewährt wird, darauf hindeutet,
dass die neue Führung soziale Sicherheit verwirklichen und
beständige Entwicklung und nachhaltigen Wohlstand aufrecht
erhalten will.
Hauptpriorität
Die
Regierung gibt nun der Erhöhung des bäuerlichen
Einkommens und der Verminderung der Steuerlast höchste
Priorität. Zwischen 1990 und 2001 gab die Regierung jährlich
gesetzliche Regulierungen zur Verminderung von Steuern heraus.
Mittlerweile wurden Maßnahmen durchgeführt, um den Missbrauch
einzudämmen, wie z.B. „Die Karte zur Kontrolle der steuerlichen
Belastung der Bauern“, „Das Untersuchungssystem der steuerlichen
Belastung der Bauern“ und „Das Veto-System durch Ablehnung
mit nur einer Gegenstimme der steuerlichen Belastung der Bauern“.
Bis 2003 hatte die ländliche Steuerreform die finanzielle
Belastung um 13.7 Milliarden Yuan reduziert. Laut dem Landwirtschaftsministerium
zeigten Berichte aus 11 Provinzen, wie Heilongjiang, Hebei,
Shaanxi, Jiangsu und Henan, dass die Reform die Steuern um
30 bis 80 Prozent gesenkt hatte.
Aber
die Situation ist noch immer ernst. Die Verminderung der ländlichen
Steuern und Abgaben wird zwangsläufig das Einkommen der
Gemeindeverwaltung und Dorfkomitees verringern. Ein Bericht
aus Anhui zeigt, dass seit der Steuerreform das ländliche
Steueraufkommen der Provinz von 4.915 Milliarden Yuan auf
4.048 Milliarden Yuan sank, ein Unterschied von 867 Millionen
Yuan. Gleichzeitig sank das Steueraufkommen auf Gemeinde-
und Dorfebene durchschnittlich um ein Drittel, wobei das auf
Dorfebene um durchschnittliche 63 Prozent gefallen war. Für
die meisten Dorfkomittees ohne nicht-landwirtschaftliches
Einkommen wurde dadurch die Arbeit erheblich beeinträchtigt.
Obwohl die Zentralregierung und einige Provinzen und Städte
Fördermittel bereitstellen, ist die Mehrheit der Gemeinden
und Dörfer nicht mehr fähig, ihre Schuldenzahlungen
zu leisten und haben keine Finanzmittel für Bildung und das
öffentliche Wohlfahrtswesen. Bauerngemeinden mit wenig
Industrie können nicht einmal die Löhne der Verwaltngsbeamten
auszahlen. Diese Probleme könnten eine Gegenbewegung
zur Steuerreform auslösen. Laut Chen Xiwen, einem hohen
Beamten für Agrarangelegenheiten, hat die Zentralregierung
ihr Agrarbudget auf 150 Milliarden Yuan angehoben, um den
Aufbau der ländlichen Infrastruktur, das öffentliche
Gesundheitswesen und das Bildungswesen zu unterstützen und
Fördermittel für unzureichend vorhandene Feldfrüchte
wie Getreide und Sojabohnen bereitzustellen. Chen sagt, dass
dieses Budget helfen soll, das kontinuierliche Sinken des
Getreideertrags in den letzten fünf Jahren zu kontrollieren
und den Druck, der durch den Getreidemangel entstanden ist
und der seit letztem Oktober zu einer Preissteigerung von
10 bis 20 Prozent geführt hat, abzubauen.
Durch
den rasanten Zuwachs der ländlichen Bevölkerung
wird es immer schwieriger, eine Zunahme des bäuerlichen
Einkommens zu erzielen. Die Pro-Kopf-Landfläche wurde
immer weniger; 1986 besaß ein Haushalt durchschnitlich
9.2 mu (1 mu = 1/15 Hektar) Ackerland, 2000 nur mehr
1.15 mu. Das Ausmaß der chinesischen Landwirtschaft
ist ein Bruchteil von dem der EU-Länder und der USA.
Im Lauf der letzten 50 Jahre stieg die ländliche Bevölkerung
um 250 Prozent an. Von den 900 Millionen ländlichen Bewohnern
sind 600 Millionen fähige Arbeitskräfte, doch die
Bauernhöfe bieten nur Arbeitsplätze für 150 Millionen;
ländliche Unternehmen beschäftigen 120 Millionen,
was mehr als 300 Millionen unbeschäftigt lässt.
Auf lange Sicht ist die Umsiedlung der Landbevölkerung
in die Städte unvermeidbar, wenn Bauern ihr Enkommen
steigern wollen und das ländliche China seine Armut abschütteln
will.
Statistiken
des Landwirtschaftsministeriums zeigen, dass die Zahl der
Bauern, die in den Städten arbeiten, 2004 die 100 Millionen-Marke
überstiegen hat, eine Zahl, die weiterhin jährlich um
8.5 Prozent steigen wird. Es wird erwartet, dass in den kommenden
15 Jahren 150 Millionen bäuerliche Wanderarbeiter in
die Städte strömen werden.
Politik
und ihre Implementierung
Ohne
lokale Haushaltregistrierung haben es bäuerliche Wanderarbeiter
schwerer, eine Anstellung, eine Wohnung, eine Ausbildung oder
Sozialversicherung in der Stadt zu bekommen, lauter Dinge,
die Städtern zugänglich sind. Unbeständige
Arbeitsplätze, niedrige Löhne, ein Mangel an dauerhaften
Wohnungen, kein Zugang zum örtlichen Bildungssystem und
eine schlechte Gesundheitsvorsorge beschreiben die Situation
eines bäuerlichen Wanderarbeiters. Die Diskriminierung
wird dem Verwaltungssystem zur Last gelegt, da dieses Einwohner
mit landwirtschaftlicher Haushaltseintragung und Einwohner
ohne unterscheidet.
Anfang
2001 unternahm China eine Reform des Haushaltseintragungssystems
und begann damit in den entwickelten Provinzen Guangdong und
Jiangsu. Dadurch konnten ländliche Bewohner dieser zwei
Provinzen ihren landwirtschaftlichen Status, wenn sie wollten,
in einen nicht-landwirtschaftlichen umwandeln lassen. Aber
die Reform wurde gleich nach ihrem Start in Guangdong vorübergehend
eingestellt, weil nur wenige ländliche Einwohner um einen
Statuswechsel ansuchten und die wenigen, die angesucht hatten,
später um eine Rückgängigmachung ihres Statuswechsels
baten. Der Gurnd: viele ländliche Bewohner zweifelten
daran, die gleichen Vorteile, wie Sozialversicherung wie städtische
Bewohner bekommen zu können und befürchteten gleichzeitig,
die Zuschüsse und Vorteile, die mit einem ländlichen
Wohnsitz einhergehen, wie z.B. Land und das Recht auf ein
zweites Kind, zu verlieren.
Das größte
Probelm für Bauern ist, dass der Kaufpreis für Getreide noch
immer vom Staat und nicht vom Markt bestimmt wird. Der Wirtschaftler
Zhou Qiren weist darauf hin: „Bauern schließen Verträge
über Ackerland ab, um davon zu leben. Wenn von der Regierung
reguliert wird, was und wieviel man anbauen darf und wem man
zu welchem Preis verkaufen darf, dann bleibt von diesem Vertrag
nur das „Recht Ackerbau zu betreiben“ (genauer das Ackerland
zu benutzen) übrig.“ Diese Politik bietet den Bauern wenig
Anreiz, Landwirtschaft zu betreiben. Dazu kommt noch, dass
die Landressourcen sich anhaltend verschlechtern und willkürliche
Verletzungen der Landnutzungsrechte der Bauern auftreten.
Angesichts dieser widrigen Umstände machen sich viele
Sorgen um Chinas landwirtschaftliche Entwicklung. Gemäß
des WTO-Abkommens wird der Schutzzollsatz auf importierte
Landwirtschaftsprodukte dieses Jahr auf unter 17 Prozent verringert
und der Zoll für konkurrierende Landwirtschaftsprodukte aus
den USA wird sogar noch niedriger werden. Der Haupthinderungsgrund
für eine erfolgreiche Agrarentwicklung ist eher das Fehlen
einer effektiven Politik als technische Faktoren. Die auf
die Städte zentrierte Politik der Vergangenheit befasste
sich nicht mit Angelegenheiten wie Getreidefixpreisen, dem
Haushaltseintragungssystem und der Landpolitik.
Politker
und Banken versuchen nun Investitionen auf das Land umzuleiten;
das Finanzministerium hat zum ersten Mal Fördermittel
für die Ausbildung von bäuerlichen Wanderarbeitern bereitgestellt.
In der Vergangenheit wurden solche Ausbildungsmaßnahmen
hauptsächlich am freien Markt angeboten und von den Teilnehmern
selbst bezahlt und der Inhalt war auf das Thema „Wie kann
ich meinen Lebensunterhatl auf dem Land verdienen?“ beschränkt.
Der Inhalt der neuesten Ausbildungskurse wird von landwirtschaftlichen
Fertigkeiten auf Arbeitsfertigkeiten im städtischen Umfeld
ausgeweitet.
Die Verfassungsänderungen,
die bei der Zweiten Tagung des 10. Nationalen Volkskongresses
im März angenommen wurden, verstärken den Schutz
der Menschenrechte. Demgemäß soll das Recht auf
Freiheit der Mobilität in Kraft gesetzt werden. Laut
des Ministeriums für Öffentliche Sicherheit ist die Gesetzgebung
für ein Haushaltseintragungssystem, dessen Ziel es ist, ein
einheitliches Haushaltseintragungssystem anstatt des dualen
Systems einzuführen, in Vorbereitung.. „China benötigt
eine dritte Revolution, um die Bauern endgültig von ihrem
Boden und dem Landleben zu befreien und grundlegend die unfaire
und ungerechte Situation zu beseitigen, die die städtischen
und ländlichen Gebiete isoliert, polarisiert und voneinander
trennt“, sagt Hu Angang, Wirtschaftsprofessor an der Qinghua-
Universität. Die Aufhebung des benachteiligten Status
ist eine unverzichtbare Maßnahme, wenn alle Einwohner,
städtische oder ländliche, gleichberechtigten Zugang
zu persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und Sozialeinrichtungen
haben sollen.
Laut
Chen Xiwen wird als weitere Bemühung für eine zweckmäßige
Politik 2004 ein Leitfaden zur Reform des Systems zur Einziehung
von Land und Boden öffentlich bekannt gegeben. Sein grundlegendes
Prinzip ist, in Anbetracht der großen Bevölkerung
und des beschränkten Ackerlandes, das weltweit strengste
Ackerboden- Schutzsystem einzuführen. Die Reform wird für
den Lebensunetrhalt der enteigneten Bauern Sorge tragen und
für ihre Anstellungen und Sozialversicherungen garantieren.
„Dieser
Wandel in der Politik.zeigt, dass China sich von der Deng
Xiaoping-Ära, als nur wenigen Leuten erlaubt wurde, zu
Reichtum zu kommen, zu einer neuen Periode weiterentwickelt
hat, die nach allgemeinem Wohstand strebt“, sagt der Wirtschaftler
Fan Gang.