Juli 2004
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Auf dem Weg

Von Katharina Schneider-Roos

Nach meiner Babypause genoss ich es, wieder mein Fahrrad besteigen zu können. Ich bin überzeugte Fahrradfahrerin – für Strecken unter einer halben Stunde – und für meinen Arbeitsweg brauche ich glücklicherweise 25 Minuten.

Nachdem ich aus dem Tor des Friendship Hotels auf die Straße aufgefahren bin, ordne ich mich in die Masse der Arbeitenden ein, die alle ihrem täglichen Ziel entgegen fahren. Eine Gruppe von Leuten, die aus der Masse herausstechen, sind die Pensionisten beim Bambusgarten, die entweder dabei sind, ihre Vögel, die in zugedeckten Kafigen auf ihren Fahrrädern hin- un herschaukeln, auszuführen, oder mit eingepackten Taiji-Schwertern den Nachhauseweg antreten. Sie sind auch diejenigen, die die Kinder am Nachmittag im Dreirad von der Schule oder vom Kindergarten abholen.

Doch mein Augenmerk gilt etwas anderem. Jeden Tag kommt mir zwischen der Hochschule für Nationale Minderheiten und der Nationalbibliothek ein westlicher Mann entgegen. Er eilt mit weit ausholenden Schritten und wehendem Hemd zu Fuss seiner Arbeit entgegen. An ihm messe ich, wie pünktlich oder unpünktlich ich bin. Ist er noch bei der Bibliothek, bin ich sehr früh. Doch einmal kam er mir schon bei der Hochschule entgegen, da musste ich mich sputen. Die Nationalbibliothek wird gerade ausgebaut und nebenan wird ein neues Gebäude errichtet, das laut einer Mitarbeiterin des deutschen Architektenbüros KSP Engel & Zimmermann, das den Zuschlag bekommen hat, „sehr experimentell, eher niedrig, aus Glas und in der Form eines Buches“ gehalten sein soll.

Nun erreiche ich die Fahrradunterführung, in die sich ab und zu ein Auto verirrt und in der regelmäßig ein Eselwagen steht, der mit Melonen beladen ist. Den Autos wurde in letzter Zeit viel Raum gegeben, der auf Kosten der Fahrradfahrer ging. Die ehemalig von Autoreifen unberührten, breiten und von Bäumen überschatteten Fahrradwege wurden zum Teil zu Rechtsabbiegespuren umgewidmet, auf manchen parken Taxis, die auf Kunden warten, auf anderen sind meterlange Bushaltestellen angelegt worden. Den Busverkehr nehme ich hin, da der Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems in meinem Sinne läge. Doch eine Verkehrspolitik zugunsten der Autofahrer ist offensichtlich, ein gefährliches Unterfangen in einer Stadt, in der Großteil der Autofahrer und Autofahrerinnen erst weniger als drei Jahre am Steuer sitzen. Die Unfallquote in Beijing ist dementsprechend hoch.

Ich nähere mich der Chegongzhuang-Kreuzung, die mit einer neuen Ampel ausgestattet wurde. Diese Ampel verfügt seit kurzem über die sehr brauchbare Funktion eines Linksabbiegepfeils. Trotz dieser Vorrichtung stürmen alle, auch die linksabbiegenden Fahrradfahrer, bei Grün gerade aus. Ich und ein zweiter oder dritter warten auf der für Linksabbieger vorgesehenen Spur und werden damit belohnt, als erste an der schräg gegenüberliegenden Seite anzukommen. Es dürfte keine Verkehrsinformation für Radfahrer geben, die über solche Neuerungen aufklärt.

Nun fahre ich durch eine Allee mit Blauglockenbäumen, die vor kurzem noch blühten und dufteten. Es ist eine angenehme schattige Abwechslung zu der sonnenbeschienenen 8-spurigen Stadtautobahn, von der ich abgebogen bin. Hier regeln jeden Tag von 7.30–11 Uhr und von 15–18 Uhr braun uniformierte Verkehrslotsen den Fahrradverkehr. Die Fahrradfahrer, die zugegebener Weise oft gegen die Verkehrsregeln verstoßen – da muss ich mich selbst bei der Nase nehmen – werden in letzter Zeit von der Polizei als strafwürdig betrachtet. Doch die Verkehrslotsen, die meistens ältere Männer oder Frauen sind, dürfen keine Geldstrafen verhängen, sondern müssen sich mit Zurufen und Fähnchenwinken begnügen. An einer Kreuzung sind die Fähnchen rot, an einer anderen sind sie grün-gelb-rot gestreift, und geben so kein eindeutiges Signal. Muss man nun stehen bleiben, sich vorbereiten, oder losfahren, wenn es geschwenkt wird? Ein von mir befragter Fahrradlotse konnte mir darüber auch keine Auskunft geben, meinte aber, dass sie sie eben so von der Arbeitseinheit bekommen hätten. Mir wurde von befreundeten Fahrradfahrern aus dem Bezirk Chaoyang (verfügt über mehr Ausländer, mehr Firmenniederlassungen und damit einhergehend auch mehr Autos) berichtet, dass die Lotsen dort noch strenger wären und man abgemahnt würde, wenn auch nur das halbe Vorderrad die weiße Linie überragte.

Nun passiere ich die Beschwerdestelle des Bauamtes, vor dem täglich zehn bis zwanzig Menschen sitzen, die warten und Formulare ausfüllen. Sie beschweren sich über ihrer Meinung nach rechtswidrige Abrisse ihrer Häuser. Hierher kommen Hilfesuchende aus dem ganzen Land, die die Stadt – und Provinzbeschwerdestellen schon durchlaufen haben. Wie die Frau aus Liaoning, deren Haus 2001 von einer Immobilienfirma abgerissen wurde und die dafür nicht entgolten wurde.

Von hier biege ich rechts ab in ein gemütliches Viertel mit vierstöckigen roten Backsteinhäusern und kleinen selbst angelegten Vorgärten. Die Anrainer spazieren auf der Straße, bringen ihre Einkäufe nach Hause und plaudern mit den Nachbarn. Doch auf einem der Häuser klebte vor einem Monat ein Plan, auf dem ein zukünftiges hufeisenförmiges Gebäude über dem Großteil des Viertels zu sehen ist. Täglich standen Grüppchen von Anrainern um den Plan herum und diskutierten ihn lautstark. Dieses Viertel ist geschmückt mit Schildern, die kleine Püppchen zeigen, die Mama, Papa und Kind darstellen und mit Texten, die zur Einhaltung der Ein-Kind-Politik auffordern, wie z. B. „Sich auf Naturwissenschaft und Technik stützen und die Geburtenplanung gut durchführen“ und „Die Umgebung schätzen und die Geburtenplanung durchführen“, versehen sind. Weiter vorne in der Straße, neben einer Fahrradreparaturwerkstätte, deren Betreiber mich durch sein Können schon aus mancher misslichen Situation, wie einem Achsenbruch, gerettet hat, hängen Slogans der Nachbarschaftskomitees, die zu mehr Vorsicht ermahnen und dazu aufrufen, Kriminalität Einhalt zu gebieten und Feuerschutzvorkehrungen zu treffen.

Noch eine Gasse und ich steige vom Fahrrad, um es am Wächter vorbei zu Fuss durch das Tor meiner Arbeitseinheit zu schieben.

Mein Heimweg zeichnet sich vor allem durch Hitze aus, da auf der anderen Straßenseite eindeutig weniger Bäume gepflanzt wurden. Mein Weg führt an einer großen Zahnklinik vorbei, die anscheinend nicht über genügend Parkfläche verfügt. Und so verstellen die wartenden und – man stelle sich vor – durch Zahnschmerzen geplagten Autofahrer mit ihren Gefährten den Fahrradweg und die äußerste Spur der Stadtautobahn. Manchmal wird ein braungewandeter Lotse zur Hilfe der Fahrradfahrer abgestellt, doch meistens müssen wir uns selbst einen Weg durch die stehenden Autos suchen.

Bei der letzten Kreuzung vor dem Friendship Hotel überquere ich die Straße und fahre gegen die Einbahn. Ich bin einfach nicht lebensmüde genug, die 8-spurige „Stadtautobahn“ vor unserem Eingang zu überqueren, habe aber nicht genug Zeit, bis zur nächsten Kreuzung zu fahren und von dort wieder zurück. Für Fußgänger ist die Stadt noch schwieriger zu meistern. Die Fußgängerbrücken sind sehr weit voneinander entfernt und der Mittelstreifen ist oft mit einer Balustrade versehen, damit man die Straße nicht überall überquert, wo es einem in den Sinn kommt. Eine lebensrettende Maßnahme, doch eine Fußgängerampel ab und zu würde das Leben der Fußgänger erleichtern.

An dieser Kreuzung befindet sich das dreistöckige Internetcafe, in das, mit Sportanzügen uniformierte Schüler und Studenten strömen. Je höher das Stockwerk, desto eleganter ist die Ausstattung und desto weniger Leute findet man dort. Man muss sich mit einem Lichtbildausweis registrieren und bekommt dann einen Sitzplatz zugewiesen. Davor stehen die Kellner der Karaoke-Bar Melody zum Appell aufgereiht und lauschen mit gesenkten Köpfen den Anweisungen ihres Managers.

Nun ist es nicht mehr weit und ich fahre in unseren Hof ein. Ich öffne die Wohnungstür und mein Sohn lacht mir entgegen...

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