Auf
dem Weg
Von
Katharina Schneider-Roos

Nach meiner Babypause genoss ich es, wieder
mein Fahrrad besteigen zu können. Ich bin überzeugte
Fahrradfahrerin – für Strecken unter einer halben Stunde –
und für meinen Arbeitsweg brauche ich glücklicherweise 25
Minuten.
Nachdem
ich aus dem Tor des Friendship Hotels auf die Straße
aufgefahren bin, ordne ich mich in die Masse der Arbeitenden
ein, die alle ihrem täglichen Ziel entgegen fahren. Eine
Gruppe von Leuten, die aus der Masse herausstechen, sind die
Pensionisten beim Bambusgarten, die entweder dabei sind, ihre
Vögel, die in zugedeckten Kafigen auf ihren Fahrrädern
hin- un herschaukeln, auszuführen, oder mit eingepackten Taiji-Schwertern
den Nachhauseweg antreten. Sie sind auch diejenigen, die die
Kinder am Nachmittag im Dreirad von der Schule oder vom Kindergarten
abholen.
Doch mein Augenmerk gilt etwas anderem.
Jeden Tag kommt mir zwischen der Hochschule für Nationale
Minderheiten und der Nationalbibliothek ein westlicher Mann
entgegen. Er eilt mit weit ausholenden Schritten und wehendem
Hemd zu Fuss seiner Arbeit entgegen. An ihm messe ich, wie
pünktlich oder unpünktlich ich bin. Ist er noch bei der Bibliothek,
bin ich sehr früh. Doch einmal kam er mir schon bei der Hochschule
entgegen, da musste ich mich sputen. Die Nationalbibliothek
wird gerade ausgebaut und nebenan wird ein neues Gebäude
errichtet, das laut einer Mitarbeiterin des deutschen Architektenbüros
KSP Engel & Zimmermann, das den Zuschlag bekommen hat,
„sehr experimentell, eher niedrig, aus Glas und in der Form
eines Buches“ gehalten sein soll.
Nun erreiche ich die Fahrradunterführung,
in die sich ab und zu ein Auto verirrt und in der regelmäßig
ein Eselwagen steht, der mit Melonen beladen ist. Den Autos
wurde in letzter Zeit viel Raum gegeben, der auf Kosten der
Fahrradfahrer ging. Die ehemalig von Autoreifen unberührten,
breiten und von Bäumen überschatteten Fahrradwege wurden
zum Teil zu Rechtsabbiegespuren umgewidmet, auf manchen parken
Taxis, die auf Kunden warten, auf anderen sind meterlange
Bushaltestellen angelegt worden. Den Busverkehr nehme ich
hin, da der Ausbau des öffentlichen Verkehrssystems in
meinem Sinne läge. Doch eine Verkehrspolitik zugunsten
der Autofahrer ist offensichtlich, ein gefährliches Unterfangen
in einer Stadt, in der Großteil der Autofahrer und Autofahrerinnen
erst weniger als drei Jahre am Steuer sitzen. Die Unfallquote
in Beijing ist dementsprechend hoch.
Ich nähere mich der Chegongzhuang-Kreuzung,
die mit einer neuen Ampel ausgestattet wurde. Diese Ampel
verfügt seit kurzem über die sehr brauchbare Funktion eines
Linksabbiegepfeils. Trotz dieser Vorrichtung stürmen alle,
auch die linksabbiegenden Fahrradfahrer, bei Grün gerade aus.
Ich und ein zweiter oder dritter warten auf der für Linksabbieger
vorgesehenen Spur und werden damit belohnt, als erste an der
schräg gegenüberliegenden Seite anzukommen. Es dürfte
keine Verkehrsinformation für Radfahrer geben, die über solche
Neuerungen aufklärt.
Nun fahre ich durch eine Allee mit Blauglockenbäumen,
die vor kurzem noch blühten und dufteten. Es ist eine angenehme
schattige Abwechslung zu der sonnenbeschienenen 8-spurigen
Stadtautobahn, von der ich abgebogen bin. Hier regeln jeden
Tag von 7.30–11 Uhr und von 15–18 Uhr braun uniformierte Verkehrslotsen
den Fahrradverkehr. Die Fahrradfahrer, die zugegebener Weise
oft gegen die Verkehrsregeln verstoßen – da muss ich
mich selbst bei der Nase nehmen – werden in letzter Zeit von
der Polizei als strafwürdig betrachtet. Doch die Verkehrslotsen,
die meistens ältere Männer oder Frauen sind, dürfen
keine Geldstrafen verhängen, sondern müssen sich mit
Zurufen und Fähnchenwinken begnügen. An einer Kreuzung
sind die Fähnchen rot, an einer anderen sind sie grün-gelb-rot
gestreift, und geben so kein eindeutiges Signal. Muss man
nun stehen bleiben, sich vorbereiten, oder losfahren, wenn
es geschwenkt wird? Ein von mir befragter Fahrradlotse konnte
mir darüber auch keine Auskunft geben, meinte aber, dass sie
sie eben so von der Arbeitseinheit bekommen hätten. Mir
wurde von befreundeten Fahrradfahrern aus dem Bezirk Chaoyang
(verfügt über mehr Ausländer, mehr Firmenniederlassungen
und damit einhergehend auch mehr Autos) berichtet, dass die
Lotsen dort noch strenger wären und man abgemahnt würde,
wenn auch nur das halbe Vorderrad die weiße Linie überragte.
Nun passiere ich die Beschwerdestelle des
Bauamtes, vor dem täglich zehn bis zwanzig Menschen sitzen,
die warten und Formulare ausfüllen. Sie beschweren sich über
ihrer Meinung nach rechtswidrige Abrisse ihrer Häuser.
Hierher kommen Hilfesuchende aus dem ganzen Land, die die
Stadt – und Provinzbeschwerdestellen schon durchlaufen haben.
Wie die Frau aus Liaoning, deren Haus 2001 von einer Immobilienfirma
abgerissen wurde und die dafür nicht entgolten wurde.
Von hier biege ich rechts ab in ein gemütliches
Viertel mit vierstöckigen roten Backsteinhäusern
und kleinen selbst angelegten Vorgärten. Die Anrainer
spazieren auf der Straße, bringen ihre Einkäufe
nach Hause und plaudern mit den Nachbarn. Doch auf einem der
Häuser klebte vor einem Monat ein Plan, auf dem ein zukünftiges
hufeisenförmiges Gebäude über dem Großteil
des Viertels zu sehen ist. Täglich standen Grüppchen
von Anrainern um den Plan herum und diskutierten ihn lautstark.
Dieses Viertel ist geschmückt mit Schildern, die kleine Püppchen
zeigen, die Mama, Papa und Kind darstellen und mit Texten,
die zur Einhaltung der Ein-Kind-Politik auffordern, wie z.
B. „Sich auf Naturwissenschaft und Technik stützen und die
Geburtenplanung gut durchführen“ und „Die Umgebung schätzen
und die Geburtenplanung durchführen“, versehen sind. Weiter
vorne in der Straße, neben einer Fahrradreparaturwerkstätte,
deren Betreiber mich durch sein Können schon aus mancher
misslichen Situation, wie einem Achsenbruch, gerettet hat,
hängen Slogans der Nachbarschaftskomitees, die zu mehr
Vorsicht ermahnen und dazu aufrufen, Kriminalität Einhalt
zu gebieten und Feuerschutzvorkehrungen zu treffen.
Noch eine Gasse und ich steige vom Fahrrad,
um es am Wächter vorbei zu Fuss durch das Tor meiner
Arbeitseinheit zu schieben.
Mein Heimweg zeichnet sich vor allem durch
Hitze aus, da auf der anderen Straßenseite eindeutig
weniger Bäume gepflanzt wurden. Mein Weg führt an einer
großen Zahnklinik vorbei, die anscheinend nicht über
genügend Parkfläche verfügt. Und so verstellen die wartenden
und – man stelle sich vor – durch Zahnschmerzen geplagten
Autofahrer mit ihren Gefährten den Fahrradweg und die
äußerste Spur der Stadtautobahn. Manchmal wird
ein braungewandeter Lotse zur Hilfe der Fahrradfahrer abgestellt,
doch meistens müssen wir uns selbst einen Weg durch die stehenden
Autos suchen.
Bei der letzten Kreuzung vor dem Friendship
Hotel überquere ich die Straße und fahre gegen die Einbahn.
Ich bin einfach nicht lebensmüde genug, die 8-spurige „Stadtautobahn“
vor unserem Eingang zu überqueren, habe aber nicht genug Zeit,
bis zur nächsten Kreuzung zu fahren und von dort wieder
zurück. Für Fußgänger ist die Stadt noch schwieriger
zu meistern. Die Fußgängerbrücken sind sehr weit
voneinander entfernt und der Mittelstreifen ist oft mit einer
Balustrade versehen, damit man die Straße nicht überall
überquert, wo es einem in den Sinn kommt. Eine lebensrettende
Maßnahme, doch eine Fußgängerampel ab und
zu würde das Leben der Fußgänger erleichtern.
An
dieser Kreuzung befindet sich das dreistöckige Internetcafe,
in das, mit Sportanzügen uniformierte Schüler und Studenten
strömen. Je höher das Stockwerk, desto eleganter
ist die Ausstattung und desto weniger Leute findet man dort.
Man muss sich mit einem Lichtbildausweis registrieren und
bekommt dann einen Sitzplatz zugewiesen. Davor stehen die
Kellner der Karaoke-Bar Melody zum Appell aufgereiht und lauschen
mit gesenkten Köpfen den Anweisungen ihres Managers.
Nun
ist es nicht mehr weit und ich fahre in unseren Hof ein. Ich
öffne die Wohnungstür und mein Sohn lacht mir entgegen...