November 2004
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Neues chinesisches Nachtleben

 

Von Jin Fujun und Tan Zhen

Auf den Besuch eines Firmenkollegen aus Shenzhen in der Hauptstadt hin führte sein Partner ihn zum Abendessen aus, worauf Drinks in der berühmten Sanlitun-Barstraße folgten und ungefähr eine Stunde Karaoke in der Cash Box Party World. Zu Mitternacht, als der Gastgeber andeutete, es möge an der Zeit sein, heimzugehen, antwortete sein Gast mit unverblümter Überraschung: „Aber in Shenzhen beginnt das Nachtleben erst zu dieser Stunde!“

Für ältere Chinesen ist das Phänomen des Nachtlebens so neu wie die Reform- und Öffnungsgeneration, die ihm nachjagt. Diese junge gut verdienende Mittelschicht sieht eine Nacht in der Stadt als ihre schwer verdiente Belohnung für einen harten Arbeitstag unter hohem Druck. Aber erst seit den letzten hundert Jahren wird das Vergnügen Nachtleben in China akzeptiert. In alten Zeiten wurde vor dem Ausgehen nach Einbruch der Dunkelheit abgeraten, um der Bevölkerung gemäßigte Sitten beizubringen und sie vor Schaden zu bewahren.

Ursprünge des Nachtlebens

Vor Jahrhunderten riefen Akivitäten während der Nacht Assoziationen von politischer Subversion oder Korruption hervor, soweit sie mit Cliquenbildung, dem Aushecken von Rebellionen oder dem Einschmeicheln durch Wein, Frauen, Komplimente und Bestechung in Verbindung gebracht wurden. Der Qing-Kaiser Yongzheng (1677–1735) bemerkte einmal in einem Brief an einen Minister, dass dieses Amtsvergehen unter der Beamtenschaft grasiere, und dass anstatt sich auf Staatsangelegenheiten zu konzentrieren, viele Beamte den hedonistischen Weg zur Beförderung wählten.

Um die Ausschweifungen nach Einbruch der Dunkelheit zu verhindern, hielten aufeinander folgende chinesische Dynastien am Ritual der Morgenaudienz fest, wobei der Kaiser und seine Minister sich bei Tagesanbruch trafen, um Staatsangelegenheiten zu besprechen. Dies war ein effektives Abschreckungsmittel gegen nächtliches Herumtreiben, und damit gegen Korruption. Es machte auch Enthaltsamkeit zum Maßstab, mit dem der Kaiser und seine Höflinge beurteilt werden konnten. Die Weisheit, sich an dieses System zu halten, wurde offensichtlich durch das schmachvolle Ende der ruhmreichen Tang-Dynastie (618–907).

Mit der Gründung der Tang-Dynastie setzte sich Kaiser Taizong das Ziel, China wohlhabender zu machen als jemals zuvor, was er auch erreichte. Nachfolgende Herrscher waren eitel, kraftlos und mit Ästhetizimus und fleischlichen Genüssen beschäftigt. Der letzte Tang-Kaiser, Xuanzong, war vernarrt in seine Konkubine Yang Yuhuan; als sie seine Favoritin wurde, nahm er nicht mehr an den Morgenaudienzen teil. Dies gab Yang Guozhong, Yang Yuhuans Kusin und einer machtvollen Gestalt, eine Blankovollmacht, was politische Intrigen und die Ausnutzung von Möglichkeiten, seine Taschen zu füllen, anging. Beamte jeden Ranges unterdrückten das Volk. Die Dinge spitzten sich zu mit dem An-Shi-Aufruhr, als die Tang-Beamten An Lushan und Shi Siming eine rebellische Erhebung entfesselten, die Kaiser Xuanzong und die ganze Tang-Dynastie stürzte.

Die Morgenaudienz war eine Qual, die die Kraft der stärksten Staatsmänner strapazierte. Hunderte von Beamten aus der Hauptstadt und der Umgebung warteten in der Morgendämmerung auf die Glocke, die das Öffnen der Palasttore signalisierte. Danach traten sie ein und stellten sich im Palasthof auf, die Zivilbeamten Richtung Westen und die Militäroffiziere Richtung Osten. Diejenigen der angesehenen ersten bis vierten Ränge marschierten daraufhin in die Palasthalle zur kaiserlichen Audienz. Die für die jeweiligen Ministerien zuständigen Beamten berichteten dem Kaiser über die Staatsangelegenheiten und ersuchten um seine Anweisungen. Der Kaiser stellte seinerseits Fragen. Der Morgenaudienz wurde solche Wichtigkeit beigemessen, dass der Kaiser selbst nur schwer davon entschuldigt werden konnte. In einer Nacht 1498 fing der Palast Feuer und der Ming-Kaiser Xiaozong hatte kein bisschen geschlafen. Am nächsten Morgen bat und argumentierte er noch im Delirium vor nervöser Erschöpfung einige Zeit mit seinen Ministern, bevor sie zustimmten, dass die Mogenaudienz an jenem Tag abgesagt wurde.

Fragwürdige nächtliche Gestalten

Der große Qing-Theoretiker Huang Zongxi (1610–1695) hatte einen Neffen in der Regierung, der ihn eines Tages zum Abendessen einlud. Nach Einbruch der Nacht machte sich Huang Zongxi auf, um nach Hause zu gehen, doch sein Neffe bat ihn inständig weiter zu trinken und versicherte ihm, dass sein Leibdiener ihn sicher nach Hause begleiten werde. „Leute, die nächtens ausgehen, haben zwei Absichten“, war die Antwort seines Onkels Huang Zongxi. „Eine ist zu stehlen, die andere ist auszureißen. Da ich keines von beidem plane, werde ich nun nach Hause gehen.“

Im alten China war „Nacht“ als Gegenteil zu „Licht“ abwertend gemeint. In der Literatur war Nacht oft mit Verbrechen verbunden, wie in dem Spruch: „Ein Feuer im Nachtwind legen; Leute unter einem mondlosen Himmel ermorden.“ Nach Einbruch der Nacht wurde niemand ohne Sondergenehmigung durch die versperrte Stadt und das Stadttor gelassen. Außerdem überwachte die Regierung jene besonders, die in der Nacht aktiver erschienen. Nachtpatroullien befragten jene auf den Straßen nach Einbruch der Dunkelheit ohne Federlesen. Während der Ming-Dynastie bestimmte die Regierung, dass Bürger, die jegliche Form von Wirtshäusern führten, ein Gästebuch, das die Namen aller Gäste, deren Wohnsitz, die Orte, von denen sie angereist kamen, den Grund ihres Aufenthalts und ob sich Pfeil und Bogen in ihrem Besitz befanden, auflisteten. Im Falle eines unpassenden Vorfalls konnten Kontrollen vorgenommen werden. Die Vernachlässigung der Eintragungen in das Gästebuch zog strenge Strafen nach sich.

Die Mehrheit der Chinesen hielt sich durch die Geschichte hindurch an die Vorstellung, dass die Nacht nur zum Schlafen sei. Der Lebensstil der Bauern war, bei Sonnenaufgang zu arbeiten und bei Sonnenuntergang zu ruhen, während die kleine Schicht der Elite jeden Abend las, schrieb, malte und sang, wie es in dem klassischen Roman Der Traum der Roten Kammer dargestellt wurde. Für die gesellschaftliche Konventionalität galten diese Aktivitäten als verschwenderisch und zeigten einen Mangel an Zielbewusstsein.

In der Sammlung des Palastmuseums in Beijing befindet sich das berühmte Rollgemälde Han Xizai (ein wichtiger Beamter der Südlichen Tang-Dynastie, der von 937 bis 975 lebte) hält ein Nachtbankett. Diese 28,7 cm mal 335,5 cm große Seidenrolle stellt fünf Szenen eines Banketts in Han Xizais Residenz dar: Gäste lauschen dem Pipaspiel (ein zu zupfendes Saiteninstrument mit einem Griffbrett mit Bünden), tanzen beim Bankett, Han Xizai lauscht dem Bambusflötenspiel und den Xiaopfeifen; und Han Xizai, der Gäste dazu überredet, länger zu bleiben. Die Rolle stellt mehr als 40 Personen dar, die das Leben vor 1000 Jahren im großen Stil genießen. Das Bild des Malers von einem Leben in luxuriöser Trägheit war eigentlich eine Fassade, die von Han Xizai harmonisch zur Anschauung gebracht wurde. Han, ein ehemaliger mächtiger Minister, war ein kompetenter Politiker und talentierter Musiker, Dichter und Maler. Der Kaiser der Südlichen Tang Li Yu wollte ihn zum Premierminister ernennen, doch als er die alberne Unfähigkeit des Kaisers beobachtete und entsetzt war von der Art und Weise, wie seine Beamten um Macht und Profit rauften, hatte Han Bedenken. Indem er angeblich nur für Vergnügungen lebte, vermied er die Ernennung durch den Kaiser. Der misstrauische Kaiser Li Yu sandte einen Maler zu Han Xizais Villa mit dem Auftrag, alles festzuhalten, was er an diesem Abend sah. Erst als der Maler das gut geprobte Szenario dieses luxuriösen Banketts wiedergab und es dem Kaiser zeigte, war dieser überzeugt von Han Xizais ausschweifendem Lebensstil und ließ ihn in Ruhe.

Umsturz traditioneller Konzepte

Seit China mit der westlichen Kultur und ihren Einflüssen in Kontakt kam, hat die im Gang befindliche Entwicklung von einer landwirtschaftlichen zu einer industriellen Gesellschaft die traditionellen chinesischen Konzepte über Nacht verändert. Westliche Wissenschaften und Technologien haben auch nach und nach chinesische Meinungen beeinflusst. Die Einführung von Gaslicht durch die britische Gasfirma in Shanghai am 8. Oktober 1865 machte es den Leuten möglich, am Abend aus ihren Häusern herauszutreten und öffentliche Unterhaltungsorte zu besuchen wie Teehäuser, Bars und Theater. Der Abend wurde nach und nach eine Zeit der Erholung wie auch des Schlafes, und Shanghai, das Paradies der „Abenteurer“ der 20er und 30er Jahre, passte sich schnell dem Nachtleben an und wurde „die Stadt ohne Nacht“.

Seit der Einführung der Reform- und Öffnungspolitik ist das Leben in China abwechslungsreich und farbig geworden. Umfragen zeigen, dass Leute in Shanghai 50 Prozent ihres täglichen Konsums auf ihr Nachtleben verwenden und die Einwohner von Guangzhou und Shenzhen sogar mehr. Die neuen Verbraucher in Beijing verbringen ihre Freizeit in traditionellen Bars und Lokalen rund um den See Shichahai. Geschäfte, Restaurants und Veranstaltungsorte haben ihre Öffnungszeiten beträchtlich ausgeweitet, um den Bedürfnissen einer jüngeren Kundschaft gerecht zu werden.

Nichtsdestotrotz ist die Qualität des chinesischen Nachtlebens fraglich. Eine kürzliche Internetstudie über das Sommernachtleben in Beijing zeigte, dass die Leute 60 Prozent ihrer Freizeitausgaben für Drinks verwenden. Die gleiche Umfrage zeigte, dass 70 Prozent der Leute das Sommernachtleben in Beijing genießen und 60 Prozent jedes Wochenende bis in die tiefe Nacht hinein feiern. Offensichtlich war auch, dass Unterhaltungslokalitäten generell auf junge Singles ausgerichtet sind und hauptsächlich aus Pubs, Clubs und Karaokebars bestehen. Es ist traurig, dass der Besuch von Kulturzentren und Turnhallen weniger wird. Man fragt sich, ob das ein Wandel zum Besseren ist?

 

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