November 2004
Ihre Position: Homepage >

Der Baiyun-Tempel und der Daoismus

Von Li Yangzheng

Seit März dieses Jahres steht der neurenovierte daoistische Tempel der Weißen Wolken (chinesisch: Baiyun Guan) in Beijing den Pilgern und Touristen offen.

Der Daoismus ist eine in China entstandene Philosophie und Religion. Der religiöse Daoismus wurde im 2. Jahrhundert nach Christus von Zhang Daoling begründet. Später wurden Zhang und die auf ihn folgenden Führer des religiös organisierten Daoismus von ihren Anhängern als „Himmelsmeister“ verehrt.

Laozi (Lao-tse), der Begründer der daoistischen Philosophie, wird von den Daoisten als Gottheit und „Hocherhabener alter Herrscher“ verherrlicht. Sie sehen im „Tao-te-king“, in dem, der Legende nach, Laozi seine Lehre in 5000 Worten aufgeschrieben haben soll, ihren klassischen daoistischen Kanon. Daoisten glauben an die Existenz des allumfassenden und immerwährenden „Dao“ (Weg, Einsicht), das alles einschließlich des Himmels und der Erde entstehen lässt und sich in allem manifestiert. Sie streben durch mystische Meditation und andere Praktiken, wie Diätetik, Gymnastik, Alchemie usw., nach Verlängerung des Lebens und schließlich danach, eins zu werden mit dem „Dao“, d. h. nach Unsterblichkeit des Leibes.

Von der Östlichen Han- bis zur Tang-Dynastie gaben sich die chinesischen Kaiser immer als Laozis Nachkommen zu erkennen und huldigten ihm in ihren Palästen. In Wirklichkeit nutzten sie bloß die Gottesherrschaft aus, um ihre eigene Herrschaft zu festigen. Im Jahre 722 ließ der Tang-Kaiser Xuanzong in allen größeren Städten je einen Tempel zu Ehren Laozis erbauen. Als der Tempel in Youzhou, dem heutigen Beijing, fertig gebaut war, nannte ihn der Kaiser Xuanzong Tianchang Guan (Tempel des Weiten Himmels) und stiftete ihm eine Laozi-Statue aus Stein. Nach Aufzeichnungen auf einer Steintafel wurde der großangelegte Tianchang Guan in über 400 Jahren, während der Tang-, Song-, Liao- und Jin-Zeit, mehrmals renoviert. Obwohl der Tempel während der Jin-Zeit (1115–1234) zweimal in Brand geriet, wurde er wieder aufgebaut. In der Yuan-Zeit (1279–1368) wurde er in Changchun Gong (Palast des Ewigen Frühlings) umbenannt und erlebte seine Blütezeit. Der Ming-Kaiser Chengzu (1360–1423) ließ den Tempel umbauen und gab ihm einen neuen Namen, Baiyun Guan, der bis heute beibehalten wurde.

Zur Yuan-Zeit wurde der bekannte Mönch Qiu Changchun zum Abt des Changchun Gong ernannt. Damals gab es im Daoismus zwei Sekten: die Zhengyi (Gradheit und Einheit) im Süden und der Quanzhen (Bewahrung des Wahrhaften) im Norden. Die Zhengyi-Sekte legte besonderen Wert auf fromme Andachten. Die Quanzhen-Sekte betonte individuelle Meditation, formelle Ordinationsverfahren und klösterliche Strenge. Der Gründer der Quanzhen-Sekte, Wang Chongyang, hatte sieben Jünger, von denen Qiu Changchuns Name einen guten Klang hatte.

Qiu Changchun hieß eigentlich Qiu Chuji und stammte aus Qixia in der Provinz Shandong. Er verließ sein Elternhaus, als er noch jung war, und wurde Anhänger der Quanzhen-Sekte. Nachdem Wang Chongyang gestorben war, meditierte Qiu in den Longmen-Bergen und gründete später die Longmen-Sekte, eine Subsekte der Quanzhen-Sekte. Als er 1219 im Haotian Guan (Tempel des Unendlichen Himmels) in Laizhou verweilte, berief ihn Tschingis Khan, der erste Kaiser der Yuan-Dynastie, an seinen Hof. Im darauffolgenden Jahr machte Qiu sich mit seinen 18 Jüngern auf den Weg nach Norden. Bei seinen Zusammenkünften mit Tschingis Khan schilderte Qiu seine Philosophie der Herrschaftpolitik und seine Stärkungsmethode zur Erlangung ewigen Lebens. Seine Vorschläge gefielen Tschingis Khan. Er nannte ihn „Unsterblicher Qiu“ und bat ihn und seine Jünger, die Leitung des Changchun Gong in Beijing zu übernehmen. Dort nahmen sie unzählige Schüler auf und verbreiteten die Lehre der Longmen-Sekte. Bald darauf waren seine Anhänger im ganzen Lande zu finden. Auf diese Weise wurde der Changchun Gong zu einem daoistischen Zentrum in Nordchina und verdiente sich den Namen „Erster Tempel der Quanzhen-Sekte“. Im Sommer des Jahres 1227 starb Qiu im Tempel und wurde auch dort beerdigt.

Der jetzige Baukomplex stammt aus der Ming- und Qing-Zeit. Vor dem Tor steht ein buntbemalter hölzerner Torbogen mit sieben dekorativen Dächern, flankiert von einem Löwenpaar aus Stein und Kiefern. Hinter dem Tor stehen über 50 Hallen in drei Teilen. Der Tempel nimmt eine Fläche von zwei Hektar ein und ist von einer 1000 m langen Mauer umgeben. Die Hallen sehen majestätisch aus, und die ganze Anlage strömt Schönheit und Stille aus. Die Götterstatuen und die herabhängenden Fahnen in den Hallen im mittleren Teil der Anlage stammen aus der Ming- und Qing-Zeit. Die steinerne Ziermauer hinter dem Tor ist mit einem kleinen eingemeißelten Affen dekoriert. Man sagt, wer den Steinaffen streichelt, steht unter dem Schutz der Götter.

Hinter dem Tempel liegt der wunderschöne Yunji-Garten. Der Garten ist auch bekannt als Insel der Unsterblichen. In der Mitte des Gartens befindet sich ein Ordinationsplattform, die von Pavillons und bizarren Felsen umgeben ist. Hinter dem Garten erblickt man das Yunji-Haus mit seinen frontalen Wandelgängen. Besucher verweilen gerne hier, um an der frischen Luft und im Schatten der riesigen Bäume die idyllische Stille zu genießen.

Vom Ende der Ming-Zeit an war der Tempel vor und nach dem Frühlingsfest ein Pilgerfahrtziel. Besonders am 19. des ersten Monats, dem Geburtstag Qiu Changchuns, herrschte hier reges Leben. Nach einer Sage erscheint Qiu an diesem Tag in der Gestalt eines Beamten, einer Hofdame, eines Bettlers oder eines Mönchs unter den Pilgern und Besuchern. Wer ihm begegne, der sei gesegnet, von Krankheit geheilt und könne ein langes Leben erwarten. An diesem Tag war auch der Platz vor dem Tempel voller Menschen. Händler schlugen ihre Stände auf, Akrobaten zeigten ihre Künste. Leider wurde der Tempelmarkt bereits in den 40er Jahren eingestellt.

Im Baiyun-Tempel befindet sich auch eine alte Bibliothek, in der viele daoistische Klassiker, Rollbilder, Steintafeln und –abreibungen aufbewahrt werden. Unter den Schriften ist die mingzeitliche Auflage der 5503-bändigen „Daoistischen Werke der Regierungszeit des Kaisers Zhengtong“, die der Ming-Kaiser Yingzong dem Tempel im Jahre 1448 geschenkt hatte. Um diese kostbaren Schriften zu erhalten, brachten die Mönche sie vom 1. bis zum 7. Tag des sechsten Monats jedes Jahres an die Sonne, um so Feuchtigkeit und Bücherwürmer zu vertreiben. Zu dieser Gelegenheit kamen viele Literaten, Gelehrte und Mönche hierher, um diese klassischen Werke zu bewundern und zu lesen.

Die Laozi-Steinstatue, die der Tang-Kaiser Xuanzong gestiftet hatte, befindet sich immer noch im Tempel. Sie ist eine Kuriosität der antiken Steinschnitzerei. Diese Statue wurde mehrmals vergraben, um sie vor Kriegsfeuer zu schützen. Vor kurzem wurde sie wieder zutage gefördert und strahlt nun unbeschädigt in altem Glanz.

Die Steintafeln des „Songxue-Tao-te-king“, die sich im Ahnentempel befinden, enthalten insgesamt etwa 5800 chinesische Schriftzeichen, die nach der Handschrift des großen Kalligraphen der Yuan-Zeit, Zhao Mengfu, eingraviert wurden. Leider sind die Originale verloren gegangen. Die ausgestellten Steintafeln sind Reproduktionen aus den Regierungsjahren des Kaisers Daoguang (1821-1851), die Zhaos kräftige Kalligraphie wiedergeben.

Der Tempel der Weißen Wolken dient heute als Sitz der Chinesischen Gesellschaft der Daoisten und als Forschungszentrum für den Daoismus. Zur Zeit leben im Tempel über 30 Mönche, von denen der älteste über 80 und der jüngste knapp 20 Jahre alt ist. Außer das Morgen- und Abendgebet zu verrichten, studieren sie daoistische klassische Werke. Zu jedem Festtag findet hier eine feierliche daoistische Zeremonie statt. Bei Tagesanbruch stehen sie auf und säubern die Hallen und Höfe. Nachdem sie ihre Mützen und Roben angelegt haben, verrichten sie ihr Morgengebet.

Die Mönche leben hauptsächlich von Spenden der Gläubigen und erhalten außerdem Unterstützung von der Volksregierung. Die Chinesische Gesellschaft der Daoisten hat hier eine Lehranstalt eröffnet. Knapp 100 Mönche haben bereits ihr Studium abgeschlossen. Jetzt ist der 3. Kurs in Vorbereitung.

Aus „China im Aufbau“, Nr. 7, 1984

 

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+--+-+-+-+--+-+-+--+-
Zurück