Wu
Jinglian, eine unüberhörare Stimme
Von Xi Wen
Wu Jinglian stand wieder im Brennpunkt des
allgemeinen Interesses. Auf der ersten Tagung des X. Nationalen
Volkskongresses, die vor kurzem in Beijing stattfand, äußerte
er die Ansicht, dass der chinesische Aktienmarkt in diesem
Jahr keine gute Aussichten habe.
Zwar wurde ihm sofort von Experten, Börsenanalysten
und den Leitern der Wertpapierbörsen widersprochen, doch
prompt erlebten die chinesischen Börsen bei der nächsten
Geschäftseröffnung am 10. März einen Einbruch
von mehr als 20 Punkten.
Das war das dritte Mal, dass ein Börsensturz
auf Wu Jinglians Voraussage folgte. Das erste Mal war Mitte
Februar 2001. Damals kritisierte er die aktuelle Situation
auf dem chinesischen Aktienmarkt heftig. Das zweite Mal war
im vorigen Jahr. Er ermahnte die Börsianer trotz des
Höhenflugs der Börse: „Es wird regnen. Vergessen
Sie nicht, einen Schirm mitzunehmen.“ Leider wurde die Voraussage
wahr.
Manche beklagen sich darüber, dass er in
einer unpassenden Situation unpassende Worte geäußert
habe. Manche halten ihn für fachlich unqualifiziert und radikal.
Andere vermuten, dass er Hintergedanken habe oder von anderen
ausgenützt werde. Aber seinen eigenen Standpunkt drückt Wu
mit den folgenden Worten aus: „Die Aufgabe der Ökomonen
ist es, der Gerechtigkeit und dem Schicksal der Menschen in
der Gesellschaft große Aufmerksamkeit zu schenken.“
In Chinas Wirtschaftskreisen wurde Wu als
„Mensch mit einem guten Gewissen“ bezeichnet. Im Jahr 2000
wurde in einer Zeitschrift ein Bericht veröffentlicht,
der Kursmanipulationen ans Tageslicht brachte. In der Folge
bezichtigten zehn Fondsfirmen die Zeitschrift der üblen Nachrede.
Fast alle bekannten Experten schwiegen, aber Wu äußerte
sich öffentlich und unterstützte die Zeitschrift.
Wu warnte die Börsianer vor Spekulationsblasen
auf dem Börsenmarkt und appellierte an die zuständigen
Stellen, die Börsenaufsicht zu verstärken. Er trat
dafür ein, dass Bestimmungen, welche die Entwicklung der Privatbetriebe
einschränken, gänzlich beseitigt und Maßnahmen
für die Förderung privater Kapitalanlagen schneller in
die Tat umgesetzt werden. Was das Börsenfieber betrifft,
sagte Wu: „Das ist unordentlich und zeigt, dass wir den einfachen
Leuten keine guten Möglichkeiten für Vermögensanlagen
geboten haben.“
Manche sagen: „Wus Worte richten sich an
die Führung, doch er steht mitten in den Volksmassen.“ 2001
und 2002 wurde der über 70-Jährige zweimal vom Zentralfernsehen
mit dem Titel „Person des Jahres der chinesischen Wirtschaft“
ausgezeichnet, weil er ein reiner und selbstloser Mensch sei,
der sich um die Angelegenheiten der einfachen Chinesen kümmere
und sich voll der Verantwortung stelle.
Als Ökonome legte Wu Jinglian eine
beinahe prophetische Gabe an den Tag. Ende der 80er und Anfang
der 90er Jahre stellte er eine Theorie über die Marktwirtschaft
auf und verfasste im Jahre 1989 ein Buch mit dem Titel „Über
das Konkurrenz-Marktssystem“. Das Buch wurde in der zweiten
Hälfte des Jahres 1991 herausgegeben. Bei der Inspektionsreise
in den Süden Chinas 1992 hielt Deng Xiaoping, Chefarchitekt
der Reform- und Öffnungspolitik Chinas, eine Rede, die
dieser neuen Theorie Anerkennung zollte. Innerhalb eines Monats
wurden 7000 Exemplare der ersten Ausgabe verkauft. Das Buch
gewann den chinesischen Bücherpreis. 1998 wurde es als „eines
der zehn ökonomischen Werke, die den Wirtschaftsaufbau
Chinas stark beeinflusst haben“ bezeichnet. Auf dem XIV. Parteitag
wurde im Schlussdokument die Marktwirtschaft als Ziel der
Reformen festgehalten. Der Aufbau des sozialistischen Marktsystems
als grundlegendes Ziel der Reform ist heutzutage zu einem
Leitgedanken der chinesischen Wirtschaftsreform geworden.
Und Wu wird als große treibende Kraft für die Förderung
der chinesischen Marktwirtschaft angesehen.
Man kann sich schwer vorstellen,
dass Wu, dieser kleine, schaute Mann, einen so großen
Einfluss auf die chinesische Wirtschaftsentwicklung ausgeübt
hat. Vor der Gründung des Neuen China war Wus
Mutter Inhaberin eines großen Zeitungsverlags. Nach
der Befreiung gab sie freiwillig ihr Vermögen an die
Regierung ab. Nach den entsprechenden Bestimmungen könnte
es Wu zurückerstattet werden. Doch er sagt: „Wir treten für
die Reformen ein. Wenn wir nach persönlichem Gewinn streben,
wie können die Reformen erfolgreich sein?“
Im Alltagsleben ist Wu sehr gewissenhaft.
Er ist immer ordentlich gekleidet und korrekt frisiert. Außerdem
ist er zugänglich und freundlich. Beim Interview berührt
unser Gespräch viele Themen, von Staatsangelegenheiten
über klassische Musik bis zur Malerei. Er spricht auch mit
großem Gefallen über neue Dinge wie Computer und Digitalkameras.
Das ist sehr selten unter den Menschen in seinem Alter.
Wu Jinglian hat zwei Vorlieben: klassische
Musik hören und Bücher lesen. Vor allem gefallen ihm
die Klavier-Sonaten von Mozart. Er sagt: „Die Ökonomen
müssen bei ihrer Arbeit oft über etwas debattieren. In dieser
Situation sind sie sehr angespannt. Die Musik von Mozart kann
sie beruhigen. Das kommt ihrer Arbeit zugute.“
Wu Jinglian
arbeitet jeden Tag bis spät in die Nacht. Als bekannter
Ökonome spielt er eine bedeutende Rolle nicht nur für
die Festlegung der Wirtschaftspolitik, sondern auch für die
Bewirtschaftung der Betriebe und die Gestaltung des Alltagslebens
der einfachen Chinesen. Dazu sagt Wu Jinglian sehr bescheiden:
„Ich habe so viele dringende Geschäfte zu erledigen.
Leider reichen meine Kräfte – nicht die körperlichen
Kräfte, sondern mein Denkvermögen – nicht aus, um
all das zu verwirklichen.“
