China
wie auf alten Tuschebildern
Dr. Rolf Zimmermann


Haben
Sie eine Vorstellung von einer „typisch chinesischen Landschaft“?
Wenn
man den Malern chinesischer Rollbilder glauben darf, dann ist
das die Gegend um Guilin mit ihren zuckerhutförmigen grünüberzogenen
Karstbergen. Und den schönsten Eindruck davon hat man bei
einer Fahrt mit einem kleinen Boot oder einem etwas größeren
Schiff auf dem Li-Fluss.
Für
Chinesen „übertreffen Guilins Berge und Flüsse alle anderen
Schönheiten der Welt“, und die runden Karsthügel gelten
in blumenreicher Sprache als „schön wie Lotusblüten“ oder
wie „jadegleiche Bambussprossen“. Daher überrascht es nicht,
dass Guilin für Chinesen das Reiseziel Nummer eins ist und dass
auch die meisten ausländischen Touristen auf ihren China-Rundreisen
in Guilin Station machen. Insgesamt zählten die Schiffe
und Boote im Jahr 2002 über acht Millionen Fahrgäste. (Zum
Vergleich: das Schloss Neuschwanstein oder die Insel Mainau
hatten jeweils etwas mehr als eine Million Besucher.)
Schon der Flug
nach Guilin ist eine Sehenswürdigkeit. Vor der Landung schweben
wir über breite Reisterrassen in allen Grüntönen. Dazwischen
verlaufen moderne Autobahnen, und man sieht die Großbaustellen
weiterer Straßen, denn nicht alle Touristen kommen mit
dem Flugzeug. Vor dem Flughafengebäude leuchten uns
Palmen mit roten und gelben Wedeln entgegen, sie sind aus
Metall.
Heute
ist es für eine Bootsfahrt auf dem Li-Fluss zu spät, denn
die Schiffe starten nur morgens zwischen 9 und 10 Uhr. So besuchen
wir zuerst eine der anderen Sehenswürdigkeiten von Guilin,
die Schilfrohrflöten-Höhle. Vorbei an zig Kiosken
und Postkartenverkäufern gelangen wir zum Eingang der
Höhle, wo früher einmal Schilfrohr wuchs, aus dem man Flöten
herstellte. Die Höhle selbst diente für viele Jahrhunderte
der einheimischen Bevölkerung als Fluchtburg in Kriegszeiten.
Heute führen gepflasterte Wege und Treppen hindurch, und die
prächtigen Stalagmiten und Stalaktiten sind in allen Regenbogenfarben
angestrahlt.
Je
nach ihrer Form haben sie malerische Namen wie „Gemüsegarten“,
„Drachenpagode“, „Moskitonetz“, „Wasserfall“, „Löwenkopf“
usw. Der größte Raum in der weit verzweigten Höhle
ist der „Kristallpalast“, in den über tausend Personen passen.
An einem Ende verjüngt er sich zum „Drachenpalast“, der sich
in einem kleinen Teich spiegelt. Für uns Westler hat der Drachenpalast
allerdings mehr Ähnlichkeit mit der Wolkenkratzer-Silhouette
einer Großstadt.
Auch
Guilin ist heute nicht mehr das verschlafene Nest aus der Beschreibung
vieler Reiseführer, sondern eine moderne Großstadt mit
mehr als einer Million Einwohnern. Und durch den Tourismus
ist Guilin keine arme Stadt. Alle Sehenswürdigkeiten werden
gut vermarktet und für fast jeden Park und jedes Stück Landschaft
muss man separaten Eintritt bezahlen.
Das
Wahrzeichen von Guilin ist der Elefantenrüssel-Berg. Er ähnelt
dem Kopf eines Elefanten, der seinen Rüssel tief in den Li-Fluss
eintaucht. In einem flachen Seitenarm des Flusses kann man
sich auf kleinen Booten umherfahren lassen und dabei den Fischern
auf ihren Bambusflößen zusehen.
Am
nächsten Morgen reiht sich unser Bus in die Kolonne der
anderen Busse ein und bringt uns zu einer der beiden Anlegestellen.
Denn jetzt im Herbst ist der Wasserstand des Li-Flusses innerhalb
der Stadt für die Ausflugsschiffe zu niedrig. So fahren wir
bei schönem Wetter knapp 30 Kilometer flussabwärts
nach Zhujiang. Dort ist der Einstiegsplatz für ausländische
Touristen mit entsprechend höheren Fahrpreisen. Bis zur
Endstation in Yangshuo werden wir fast sechzig Kilometer zurücklegen
und über vier Stunden unterwegs sein. Bei höherem Wasserpegel
kann man bereits im Stadtgebiet starten und ist dann etwa sechs
Stunden unterwegs.
„Das
Boot gleitet zwischen Bambushainen dahin, überholt manchmal
einen Kormoranfischer und versetzt den Besucher in ein China,
in dem die Zeit stehen geblieben ist.“ So steht es in einem
zwanzig Jahre alten Reiseführer, und so habe ich den Li-Fluss
damals auch erlebt, allerdings bei schlechtem Wetter. Es gab
zu dieser Zeit nur wenige Schiffe und kaum westliche Touristen.
Inzwischen
hat sich die Einwohnerzahl von Guilin mehr als verdoppelt. Und
um jährlich acht Millionen Touristen den Li-Fluss erleben
zu lassen, hat man nun 260 Schiffe und 600 Zubringerbusse.
Heute
an einem schönen Herbsttag mit erwarteten Temperaturen
von fast dreißig Grad sind wohl auch alle unterwegs.
Wie in einer LKW-Kolonne auf der Autobahn fahren die Boote dicht
hintereinander flussabwärts. Bei dem niedrigen Wasserstand
ist die Fahrrinne sehr schmal, und Gegenverkehr wäre nicht
möglich. Deswegen fahren alle Boote zu dieser Tageszeit
mit Touristen beladen den Fluss hinunter und erst am Nachmittag
gegen die Strömung leer zurück.
Der
Fluss windet sich durch die Karsthügel, und nach jeder Biegung
ändert sich die Landschaft. Fast alle Mitreisenden sind
auf dem Oberdeck im Freien und bewundern die Szenerie. Überall
laufen Videokameras und es werden mehr Fotos gemacht als an
anderen Tagen einer China-Rundreise. Die nahen Berge sind klar,
die in größerer Entfernung verschwimmen im Dunst.
Aber das ist nun einmal so an einem warmen Tag über einer
Flusslandschaft.
Auf
unserem Schiff sind Touristen zahlreicher Nationen. Man kann
daher Rufe des Erstaunens in unterschiedlichen Sprachen hören
und die Worte von Reiseleitern, die die Namen einzelner Berge
erläutern. Wir kommen am „Fledermausberg“ vorbei, wo man
mit viel gutem Willen auf einer glatten Felswand die Umrisse
von zwei fliegenden Fledermäusen erkennen kann. Der Wangfu-Felsen
gleicht einer Frau, die ihr Baby auf dem Arm trägt, und
dazu gibt es auch eine passende Geschichte. Gegenüber der Mündung
eines kleinen Nebenflusses sieht man den Eingang zur „Kronenhöhle“.
Dann folgt eine gewaltige Felswand mit dem „Neun-Pferde-Gemälde“,
wo wir große Schwierigkeiten haben, die Pferde zu erkennen.
Einfacher ist es, den Namen für den „Fünf-Finger-Berg“ zu verstehen.
Inzwischen
wurde auf offener Flamme auf dem Heck unseres Schiffes gekocht
und gebraten, denn bald ist Mittagszeit. Es gibt die „Vier
Köstlichkeiten des Li-Flusses“, nämlich Gerichte
mit Fisch, Shrimps, Krebsen und Gans. Dazu natürlich Reis und
grünen Tee. Bei uns ist im Pauschalpreis noch ein Glas Bier
eingeschlossen, und gegen separate Bezahlung kann man auch
Reisschnaps mit in der Flasche eingelegter Schlange probieren.
Ein solches Mittagessen kostet (ohne den teuren Schlangenschnaps)
etwa zwei Euro, das ist für uns billig.
Weiter
flussabwärts öffnet sich die Landschaft. Einfache
Bauernhäuser stehen am Ufer und Wasserbüffel baden im
Fluss. An einigen Stellen wird auch gefischt. Die Fischer sitzen
mit Angeln auf ihren Bambusflößen. Diese sind ganz
flach, nur ihre Enden sind hochgebogen, damit nicht jede kleine
Welle überschwappt. Manche haben auch ihren Kormoran dabei.
Mit denen wird allerdings meist nur nachts gefischt.
Die
Kormorane werden als Jungvögel gezähmt und zum Fischfang
mitgenommen. Dabei wird ihnen mit einer Schnur der Hals so verengt,
dass sie keine größeren Fische schlucken können.
Wenn der Kormoran einen großen Fisch fängt, zieht
ihn der Fischer an der Schnur zurück zum Floß und nimmt
den Fisch aus dem Schnabel. Nach mehreren zum Floß gebrachten
großen Fischen bekommt der Kormoran ein paar Fischstücke
zur Belohnung, klein genug, so dass er sie schlucken kann. So
wird dem Vogel beigebracht, seinem Herrn große Fische
abzuliefern, und das macht er dann bis zu fünfzehn Jahre lang.
Am frühen Nachmittag erreichen wir die Anlegestelle
in Yangshuo. Dieser Ort hat sich von einem verschlafenen Dorf
zu einer netten Touristenstadt entwickelt. Kleine luftige Elektrobusse
bringen uns durch die modernen Einkaufsstraßen zum Parkplatz
unseres großen Busses. Entlang zahlreicher Reisfelder
fahren wir zurück nach Guilin. Natürlich gibt es unterwegs noch
ein paar Stopps, um den Reisbauern bei der Ernte zuzusehen und
Fotos von Reisfeldern und den berühmten asiatischen „BMW“ zu
machen, den „Bauern mit Wasserbüffel“.