Cai
Zhisong
–
ein Bildhauer fliegt mit seiner Kunst
Von Xue
Ning





Cai Zhisong zog sorgfältig das Plastik
weg, das die Statue bedeckte, und betrachtete sie eine Weile.
Dann nahm er ein Messer und arbeitete konzentriert an den Armen
der Statue. Die Arme verloren ihre Kanten und Ecken und wurden
weicher. Er trat gegen den Sockel der Statue, sie drehte sich
vor ihm, er legte sein Kinn in die Hände und versank in
Gedanken.
Die Sterne schimmerten am Himmel. Der 29-jährige
Cai Zhisong hatte schon unzählige Nächte im Studio
der Abteilung für Bildhauerei am Zentralen Institut für bildende
Künste verbracht.
Noch vor dem April 2002 war Cai Zhisong außerhalb
von Fachkreisen unbekannt. Im selben Monat rückte er jedoch
in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er erhielt am Herbstsalon
in Paris den ersten Preis – den Taylor-Preis. Der Herbstsalon
ist ein Kunstfestival, das 1903 vom französischen Künstler
Frantz Jourdain und anderen gegründet wurde. Viele berühmte
Künstler, wie Picasso, Gauguin, Rodin und Renoir, waren Gäste
des Salons. Der Herbstsalon umfasst viele Bereiche: Malerei,
Bildhauerei, Architektur und Fotografie. Der Taylor-Preis wurde
nach Baron Taylor benannt. Der Herbstsalon findet einmal im
Jahr statt und nur ein Künstler erhält den Taylor-Preis.
An diesem Apriltag erhielt zum ersten Mal ein Chinese auf diesem
Festival den Preis.
Der Präsident des Herbstsalons sagte,
dass die französische Kunstwelt mit den Werken von Cai
Zhisong das chinesische Kunstniveau neu bewerten und ihren Horizont
erweitern müsse. Bei der Preisverleihung vor kräftigem
Applaus lachte Cai Zhisong ganz ehrlich, denn er hatte nie daran
gezweifelt, dass er Erfolg haben würde.
Ein harter Weg
Cai Zhisong schien von Natur aus eine Vorliebe
für Malerei zu haben. „Als ich die Mittelschule besuchte, ging
ich am Tag zur Schule und am Abend zum Malkurs.“ Gleich zu Beginn
steigerte sich sein Interesse fast zur Besessenheit, und er
war sehr begabt, so dass er sich ein Jahr später im Kurs
einen Namen machte. Seine Übungsaufgabe hing als Vorbild
während vieler Jahre im Klassenzimmer.
Damals träumte er, in der Abteilung für
Bildhauerei am Zentralen Institut für bildende Künste zu studieren.
Bei der Aufnahmeprüfung fiel er zweimal durch. Um das Schuljahr
ein drittes Mal zu wiederholen, hätte er Schulden machen
müssen, doch das wollte er nicht. Stattdessen schloss er sich
im Zimmer seiner Mutter ein und malte ein ganzes Jahr. Kurz
vor der Aufnahmeprüfung konnte er plötzlich nichts mehr
sehen, es wurde eine Hornhautentzündung diagnostiziert. Er musste
für lange Zeit mit geschlossenen Augen ruhen. Seinen Traum gab
er aber nicht auf.
„Was ich mir vorgenommen habe, daran halte
ich fest.“ Im Sommer 1992 erfüllte er endlich seinen Traum.
Schäbig gekleidet schritt er voller Zuversicht zum Zentralen
Institut für bildende Künste.
Während fünf Jahren am Institut kannte
er kaum Vergnügen. Wenn seine Zimmerkollegen zum Singen, Tanzen
oder einem Rendezvous gingen, ging der arme und schwer unter
Schlaflosigkeit leidende Cai Zhisong ins Unterrichtszimmer,
um dort die Skulpturen und Lehrwerke zu betrachten und studieren.
Er starrte pausenlos die Werke an, von den chinesischen bis
zu den griechischen, von den antiken bis zu den modernen, und
dachte nach. Dann krempelte er die Ärmel hoch, mischte
Lehm, formte Statuen, schaute sie an und überlegte. Von den
Gelenken und den Adern unter der Haut über den künstlerischen
Stil bis zur Verwendung der Materialien entdeckte er viele Geheimnisse.
Er hat viel von dieser Lernmethode profitiert. In jenen unzähligen
Nächten schuf er eine feste Grundlage für seine Bildhauerei.
Im vierten Studienjahr begann Cai Zhisong
eigene Werke zu schaffen. Die Menschengestalten schienen von
Fleisch und Blut zu sein und wurden von seinen Lehrern und Studienkollegen
bewundert. Viele Lehrer meinten, dass sie lange Zeit keine so
guten Werke von ihren Studenten gesehen hätten.
Ende 1999 wollte er der Leidenschaft, die
er lange in sich getragen hatte, einen Ausdruck geben und schuf
die Werkreihe „Heimatland“.
Ein Künstler muss außer Kunstfertigkeit
auch Ausdauer haben. Um ein Werk zu schaffen, braucht Cai Zhisong
oft einige Monate oder sogar einige Jahre. Bei der Arbeit an
einer Skulptur, die sich am alten chinesischen Stil der Frühlings-
und Herbstperiode (770–476 v.Chr.) und der Periode der Streitenden
Reiche (475–221 v. Chr.) orientierte, stieß er auf große
Schwierigkeiten, es ging nicht voran und er gab schließlich
auf.
Als er ein halbes Jahr später den Entwurf
in einer Ecke seines Studios wieder sah, entschloss er sich,
das Werk trotz der Schwierigkeiten zu beenden.
Cai Zhisong überzog die entblößten
Hände und Füße der Menschengestalt mit Kupferfolie,
zog ihr eine aus Kupferblech geschnittene Kleidung an, flocht
die Haare mit Kupferdrähten und dann den Gürtel. Die harten
und dünnen Kupferdrähte waren wie Nadeln und stachen seine
Finger oft. Um die Farbe der Kleidung zur Geltung zu bringen,
benutzte er Natriumsulfid, um das Kupfer zu ätzen. Der
beißende Geruch brannte in seinem Hals und das Kupferpulver
schmerzte in seinen Augen. Zum Schluss verschönerte er
die Gestalt mit Spachtel, Feile und Messer. Die Gestalt wurde
zart und fein. Ein halbes Jahr Schweiß und Blut kostete
Cai Zhisong das Werk „Heimatland: Sitten“, in dem sich die traditionelle
chinesische Modellierungsmethode mit den in westlichen Ländern
geschätzten modernen Materialien verbindet und das die
Zivilisationen in Ost und West sowie Geschichte und Gegenwart
zur Darstellung bringt. Er fliegt mit seinen Träumen und
Werken.
Künstlerische Faszination
Die visuelle Anziehungskraft des Werkes „Heimatland:
Sitten“ und die seelische Erschütterung, die von ihm ausgeht,
beeindruckten viele Besucher. Seine Schönheit ist einzigartig
und unbestreitbar. Der neben seinem bronzefarbenen Werk stehende
Cai Zhisong blickte gelassen und schien voller Energie zu sein.
Viele Besucher fragten ihn nach dem Beweggrund
hinter seinem Werk. Dazu erklärte er: „In der modernen
Kunst wird nach wie vor eine pluralistische Entwicklung gefördert,
aber die wahre Pluralisierung ist nicht leicht zu erreichen.
Die Kunstformen sind nur scheinbar vielfältig, in Wirklichkeit
tendieren sie zur Einheitlichkeit. Die von der westlichen Zivilisation
angeführte kulturelle Zentralisierung expandiert auf der Grundlage
ihrer wirtschaftlichen Stärke und führt zu einer Vormachtkultur,
während viele regionale Kulturen an den Rand gedrängt,
zu Kulturreservaten, Tourismusattraktionen oder sogar zu Außenseiterkulturen
werden. Aber die Entwicklung der Menschheit und der menschliche
Geist brauchen eine pluralistische Entwicklung. Unsere Welt
kann nicht nur einen Farbton und eine Stimme haben.“ Nach einer
kurzen Pause sagte er weiter: „Was ich tue, ist ein Versuch,
die Entwicklung zur Einheitlichkeit zu brechen.“ Dabei machte
er eine kräftige Geste und fuhr fort: „Als Künstler tragen
wir die Verantwortung, die besten Teile aus der Kulturgeschichte
unserer Länder in ein modernes Geistes Produkt umzusetzen,
sie der Welt zu präsentieren und damit die Besonderheit
der eigenen Nation in der wechselvollen Welt darzustellen. Wenn
eine Nation ihren kulturellen Geist verliert, wird sie schließlich
untergehen. Besonders China, ein Land mit einer festen kulturellen
Grundlage, sollte die Kulturkrise verhindern und gleichzeitig
die Errungenschaften seiner Kultur weiter entwickeln.“
Sehnsucht
In Bezug auf seine Berufstätigkeit und
seine Zukunftspläne sagte er tief ergriffen: „Von klein
auf beneidete ich zwei Berufsarten, die eine war Arzt, die andere
Lehrer. Der Arzt heilt Kranke und der Lehrer erzieht Menschen.
Dies sind zwei edle Berufsarten. Ich bin heute mit meinem Beruf
zufrieden, denn womit ich mich beschäftige, das ist auch
mein Wunsch, deshalb bin ich glücklich.“ Er lachte strahlend:
„Das Werk ,Heimatland: Sitten‘ gehört zu einer Werkreihe.
Ich werde eins nach dem andern schaffen. Gleichzeitig möchte
ich zu den Neuerungen in der Kunsttheorie und -praxis beitragen.“
Cai Zhisong schreitet mit seiner Beharrlichkeit und Unnachgiebigkeit
zu seinem künstlerischen Ideal der Kunst voran.
