Inhalt von Februar 2001
Ihre Position: Homepage > China-Bücher >
 
suchen>>

Wie der Gott Samgharama als
Zeuge vor Gericht erschien

Nachdem Bao Gong mit Erfolg das kaiserliche Staatsexamen hinter sich gebracht hatte, was ihm den akademischen Titel Jinshi und damit die Anwartschaft auf einen Beamtenposten eintrug, dauerte es nicht lange, bis er seine Berufung zum Vorsteher des Kreises Dingyuan erhielt. Der Kreis Dingyuan unterstand der Präfektur Fengyang. Da Bao Gong alleinstehend und nicht ins Joch häuslicher Pflichten eingespannt war, packte er auf der Stelle seine Siebensachen und begab sich in Begleitung seines Dieners Bao Xing an die Stätte seines künftigen Wirkens. Schon bald erreichten sie das Kreisgebiet, und noch bevor sie in der Kreisstadt anlangten, wechselte Bao Gong die Kleidung. Er wollte in unauffälliger Zivilkleidung erste Eindrücke sammeln. Noch kannte ihn hier niemand.

       In der Kreisstadt suchten Bao Gong und sein Diener ein Restaurant auf, um etwas zu sich zu nehmen, und während sie dem bescheidenen Gericht zusprachen, wurden sie Zeugen eines merkwürdigen Vorfalls. Ein Mann betrat das Lokal, der eilfertige Kellner hieß ihn willkommen: „Schönen guten Tag, Herr Pi, wir hatten schon mehrere Tage nicht mehr die Ehre Ihres Besuchs.“ Der Herr brummte etwas vonwegen Arbeit und wenig Zeit und nahm an einem der Tische Platz, und der Kellner verschwand in der Küche, um gleich darauf mit zwei Kännchen Schnaps und zwei Tassen zurückzukommen. Er wollte sie dem neuen Gast gerade auf den Tisch stellen, als der sich laut wunderte: „Was soll denn das? Seit wann brauche ich mittags zwei Pullen? Und was soll ich mit zwei Tassen? Soll ich vielleicht beidhändig trinken?“

       Der Kellner stand eine Weile sichtlich verlegen und ratlos da. „Aber hier war doch eben noch ein zweiter Herr“, sagte er schließlich, „der Herr, der Ihnen gefolgt ist. Er sah sehr leidend aus, wieso ist er so schnell verschwunden?“ Alles horchte auf und war peinlich berührt ob der seltsamen Rede des Kellners. Herr Pi jedoch erbleichte, starrte eine kurze Weile schweigend vor sich hin und verließ dann hastig das Lokal. Bao Gong, der den Kellner zur Person des Herrn Pi befragte, erfuhr dann noch, dass es sich bei Pi Xiong, so lautete dessen ganzer Name, um den Chef einer Gilde von Pferdehändlern handelte.

       Nach diesem sonderbaren Begebnis (das in dieser Geschichte keine Rolle mehr spielen wird, aber in der nächsten) schichte Bao Gong, die Mahlzeit beendend, seinen Diener voraus zum Sitz der Kreisregierung, um die Ankunft des neuen Kreisvorstehers zu melden. Als Bao Gong wenig später selbst dort eintraf, harrten seiner vor dem Tor des Amtsgebäudes schon viele Beamte. Es wurden die üblichen Begrüßungsworte gewechselt, und sodann ging Bao Gong in sein Büro, wo er mit seinem Vorgänger verschiedene Formalitäten erledigte und das Amtssiegel und andere Utensilien sowie Insignien seiner Herrschaft im Kreis Dingyuan entgegennahm.

       Unverzüglich machte sich Bao Gong dann an die Arbeit, die zunächst im Studium vieler Akten bestand. Dabei stieß er auch auf die Akte eines gewissen Shen Qing, der im Tempel Samgharama einen Mönch ermordet haben sollte, der dort seit längerem allein gelebt hatte. Da die Niederschrift, die den vermuteten Hergang der Tat schilderte, ihm jedoch ganz und gar nicht schlüssig zu sein schien, ja erhebliche Zweifel in ihm weckte, ob die Tat sich wirklich so zugetragen habe, befahl er, Shen Qing, der im Kerker schmachtete und dort auf das Urteil wartete, sofort in den Gerichtssaal zu bringen. Er wollte den Fall sogleich verhandeln.

       Shen Qing, der, als er in den Gerichtssaal geführt wurde, noch an Händen und Füßen gefesselt war, sah auf den ersten Blick nicht so aus, wie man sich einen gemeinen Mörder gewöhnlich vorstellt. Doch das mochte nichts heißen. Bao Gong jedenfalls beobachtete den Angeklagten, der vor Angst schlotterte, genau.

       „Angeklagter Shen Qing“, so begann Bao Gong die Sitzung, „ich bin der neue Kreisvorsteher und möchte von dir genau hören, wie du im Tempel Samgharama diese schändliche Mordtat verübt hast. Ich will die ganze Wahrheit! Die Indizien sprechen gegen dich, also heraus mit der Sprache!“

       Shen Qing schaute auf und blickte dem neuen Kreisvorsteher, der fast gleichaltrig war wie er, offen ins Gesicht. Seine Augen waren voller Furcht, strahlten zugleich jedoch etwas wie Würde aus. Kann sich ein Mörder so verstellen? Shen Qing senkte den Kopf wieder und machte, von häufigem Schluchzen unterbrochen, folgende Angaben:

       „Euer Gnaden, ich heiße Shen Qing, bin 28 Jahre alt und stamme aus diesem Kreis. Ich habe den Mönch nicht getötet. An jenem Tag kam ich von einem Besuch meiner Eltern zurück. Es war schon dunkel und regnete, der Weg war ein einziger Matsch. Da ich sehr furchtsam bin, in der Finsternis habe ich immer Angst, kam mir die Idee, in dem Tempel, an dem ich gerade vorbeikam, die Nacht zu verbringen. Das tat ich auch. Ich legte mich irgendwo hin und schlief gleich ein. Als ich aufwachte, war es noch dunkel und der Regen hatte aufgehört, und so machte ich mich wieder auf den Weg. Es war schon hell geworden, da begegneten mir zwei Amtsboten, die mich anhielten und fragten, woher ich käme und was ich da machte. So erzählte ich ihnen, dass ich die Nacht wegen des Regens im Tempel verbracht hatte und nun auf dem Weg nach Hause sei. Die Amtsboten ließen mich aber nicht los, sie hatten einen großen Blutflecken hinten auf meiner Jacke entdeckt, und ich musste mit ihnen in den Tempel zurückgehen, wo sie nachschauen wollten, ob dort alles in Ordnung sei. Im Tempel fanden wir dann neben der Statue des Gottes Samgharama den toten Mönch liegen. Ich verstand überhaupt nicht, was los war. Die Amtsboten behaupteten, dass ich den Mönch getötet hätte, und brachten mich in den Gerichtshof. Ich kann nur sagen, dass ich unschuldig bin und dass alles, was ich gesagt habe, sich genauso zugetragen hat. Aber keiner will mir glauben.“

       Bao Gong hatten den Angeklagten während dessen Rede, die schließlich in heftiges Weinen überging, nicht aus den Augen gelassen. So kann sich, dachte er, kein Mörder verstellen. Der Mann scheint wirklich unschuldig zu sein. Dennoch befahl er: „Bringt ihn zurück in den Kerker!“ Und zu seinem Diener Bao Xing sagte er: „Bereite alles vor, wir machen uns gleicch auf den Weg zum Tempel Samgharama.“

       Unterwegs in seiner Sänfte überlegte Bao Gong den Fall hin und her: Shen Qing, soviel war klar, saß unschuldig im Kerker. Hätte er nicht seine blutbefleckte Jacke weggeworden, wenn er der Mörder wäre? Und hätte die Jacke in diesem Fall nicht eigentlich vorne mit Blut bespritzt sein müssen? Und wo war die Mordwaffe? Der Mönch war, so stand es in der Akte, ganz offensichtlich mit einer Axt getötet worden, doch nirgendwo hatte sich die Spur eines solchen Tatwerkzeugs gefunden.

       Sowie sie den Tempel erreichten, hieß Bao Gong die Sänftenträger und das übrige Gefolge draußen warten und machte sich zusammen mit Bao Xing an die Inspektion. Drinnen im Tempel sahen sie, dass die Statue des Gottes Samgharama beschädigt war und zwei zu Seiten der Statue befindliche Buddhafiguren umgestürzt dalagen. Der Tempel machte einen insgesamt heruntergekommenen Eindruck. Auf dem Fußboden neben der Statue befand sich eine eingetrocknete Blutlache, und als Bao Gong genauer hinsah, bemerkte er in dem Dämmerlicht, das hier herrschte, etwas, das er aufhob und einsteckte. „Laß uns gehen“, sagte er zu Bao Xing, „hier ist nichts mehr weiter zu finden.“

       Zurück in seinem Amtssitz, legte Bao Gong in der Studierstube eine Teepause ein und entspannte sich mit geschlossenen Augen. Bao Xing, der meinte, sein Herr wäre eingeschlafen, und der die Gelegenheit zu einer eigenen Ruhepause nutzen wollte, hörte sich plötzlich angesprochen:

       „Wer ist heute im Gericht für den Dienst zuständig?“, fragte Bao Gong.

       „Hu Cheng.“

       „Ruf ihn zu mir!“

       Hu Cheng kam, machte vor dem Kreisvorsteher einen Kotau und wollte gerade zu einer umständlichen Begrüßung ansetzen, als Bao Gong ihn aufstehen hieß und fragte, ob es im Kreis Zimmerleute für anderntags frühmorgens zusammenzurufen. Es gebe dringende Holzarbeiten zu verrichten. Der Gerichtsdiener eilte mit einem „Zu Befehl, Euer Gnaden!“ von hinnen, und Bao Xing fragte seinen Herrn verwundert:

       „Was für Holzarbeiten sind zu erledigen?“

       „Frag nicht so viel“, wies ihn Bao Gong zurecht, „es ist Zeit, das Mahl zu bereiten.“ Und während Bao Xing sich anschickte, den Raum zu verlassen, hörte er noch, wie Bao Gong sagte: „Ich will einen Sarg für den Mörder zimmern lassen.“

       Am nächsten Morgen, Hu Cheng hatte den Auftrag gewissenhaft ausgeführt, warteten alle Zimmerleute des Kreises, es waren ihrer neun, vor dem Tor des Amtssitzes. Bao Gong wies den Gerichtsdiener an, sie in die hintere Halle zu bringen und einige Tische, Pinsel und Tuschsteine bereitzustellen. Als er wenig später selbst in der Halle erschien, begrüßten ihn die Handwerker mit einem ehrerbietigen Kotau.

       „Steht auf!“, sagte Bao Gong, „es gibt Arbeit für euch. Ich möchte euch bitten, für mich einige Blumenständer anzufertigen. Aber ich will eine ganz neue Art von Blumenständern, und deshalb macht ihr jeder erst eine Skizze. Danach wähle ich die beste aus. Natürlich soll keiner umsonst hierhergekommen sein, jeder erhält seinen Lohn.“

       Geschmeichelt von soviel Gunstbezeigung, machten sich die neun eifrig ans Werk. Sie zerbrachen sich die Köpfe und versuchten, mit ihren derben Händen die Pinsel sauber zu führen, und Bao Gong schritt mit lächelnder Miene auf und ab und beobachtete alles mit stiller Freude.

       Endlich waren die Zeichnungen fertig, und einer nach dem anderen überreichte dem Kreisvorsteher seinen Entwurf. Der prüfte die neun Skizzen wieder und wieder, wobei er von einer, die seltsamerweise eine der schlechtesten war, besonders angetan zu sein schien.

       „Wer hat das gezeichnet?“

       „Ich“, antwortete der Zimmermann Wu Liang. Bao Gong schaute nochmals auf das von Wu Liang bekritzelte Blatt und beschied die anderen Handwerker, die jeder ein Geldstück bekamen, nach Hause zu gehen. Nur Wu Liang solle bleiben.

       Nachdem die acht Zimmerleute nach vielen Verbeugungen und Dankesworten gegangen waren, verkündete Bao Gong: „Wir eröffnen nun eine Gerichtsverhandlung.“ Seinen Diener wies er an, Wu Liang in den Gerichtssaal zu bringen, und er selbst streifte sich die Richterrobe über.

       Wenig später saß Bao Gong ehrfurchtgebietend auf dem Richterstuhl, von dem aus schon so manches Urteil über kleine Gauner und schlimme Verbrecher ergangen war. Als nun Wu Liang von Bao Xing in den Saal geführt wurde, hub Bao Gong sofort mit lauter Stimme an, den Zimmermann des Mordes anzuklagen: „Du hast im Tempel des Gottes Samgharama einen Mönch getötet! Gestehe die schändliche Tat und schildere genau, wie es dazu gekommen ist, nur so bleibst du von der Folter verschont. Also sprich!“

       Wu Liang erbleichte, wie vom Donner gerührt stand er da, es schnürte sich ihm die Kehle zu. Doch er fasste sich wieder, begann vom ehrbaren Handwerk zu reden, das er betreibe, und dass er immer das Gesetz befolge, dass er noch nie Unrechtes getan habe. „Euer Gnaden“, sagte er, „ich bin die Unschuld in Person, ich weiß nicht, wie ein so schlimmer Verdacht auf mich fallen konnte, es muß hier ein Missverständnis vorliegen, eine Verwechslung. Euer Gnaden werden doch kein falsches Urteil sprechen wollen.“ Er wollte fortfahren zu reden, doch Bao Gong schnitt ihm das Wort ab: „Natürlich habe ich nicht damit gerechnet, dass du deine Schuld eingestehst, aber es verhält sich nun mal so, dass mir Gott Samgharama persönlich von deinem Verbrechen berichtet hat. Und du unterstehst dich nun, die Tat abzustreiten?“

       Als Wu Liang das hörte, sah er die ihm wohlbekannte Statue des Gottes Samgharama vor sich, eine Figur aus Ton. Und die sollte reden können? Nie und nimmer dachte er bei sich, und fuhr fort, seine Unschuld zu beteuern. „Wenn Euer Gnaden sagen, dass der Gott Samgharama mich angeklagt hat, dann möchte ich bitten, den Gott hierher kommen zu lassen, dann mag er als Zeuge aussagen.“ Und bei sich dachte Wu Liang: „Ein stummer Zeuge ist für mich ein guter Zeuge. So werde ich dieser Geschichte doch noch heil herauskommen.“

       Bao Gong aber lächelte nur, denn das, was Wu Liang dachte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Geht“, wies Bao Gong die Amtsboten an, „und bringt sofort den Gott hierher!“ Da ging ein Raunen durch den Saal, wo sich außer den Amtsboten und Gerichtsbeamten noch mehrere Zuhörer eingefunden hatten.

       „Euer Gnaden“, wagte einer der Amtsboten zu entgegnen, „wir sollen in der Tat die Statue des Gottes aus dem Tempel holen?“

       „Das ist es, was ihr sollt“, erwiderte Bao Gong, „und ich will, dass ihr euch beeilt!“

       So liefen die Amtsboten zum Tempel, und während man im Gerichtssaal auf ihre Rückkehr wartete, machte sich unter den Anwesenden teils Ratlosigkeit breit, teils wurde belustigt über die Angelegenheit diskutiert. „Hat man so was schon erlebt? Eine Tonfigur als Zeuge vor Gericht?“ „Das kann ja spannend werden! Der neue Kreisvorsteher scheint ein komischer Kauz zu sein.“ „Jedenfalls ist es eine interessante Gerichtsverhandlung, unterhaltsamer als im Teehaus.“ So gingen die Reden hin und her, während Bao Gong in seiner Studierstube bei einer Tasse Tee die Urteilsverkündung vorbereitete.

       Inzwischen hatte sich die Nachricht von dem Mordprozeß und der merkwürdigen Verhandlungsführung des neuen Kreisvorstehers schon überall in der Kreisstadt verbreitet, und viele Einwohner eilten herbei und versammelten sich vor dem Tor des Amtssitzes. Wer immer sich von seinen häuslichen und geschäftlichen Pflichten freimachen konnte, wollte dabeisein. Würde der neue Kreisvorsteher sich auf seinem Posten halten können, wenn er, was den meisten als unvermeidlich galt, sich mit seinem tönernen Zeugen unterblich blamierte? Wie kann ein Jinshi, der das kaiserliche Staatsexamen mit den besten Resultaten bestanden hat, auf eine solche Idee verfallen und seine ganze Karriere aufs Spiel setzen? Solche Überlegungen beschäftigten, bis die Amtsboten mit der Statue eintraten, die Leute im Saal und draußen vor dem Tor.

       Als dann die Statue des Gottes Samgharama im Gerichtssaal stand und Bao Gong seinen Platz wieder eingenommen hatte, herrschte erwartungsvolles Schweigen. Bao Gong erhob sich, schritt auf die Statue zu, verbeugte sich und begann, flüsternd auf die Tonfigur einzusprechen, gelegentlich eine Pause einlegend, dabei hin und wieder nickend, ganz so, als ob er sich mit der Figur unterhielte. Gebannt verfolgten die meisten Anwesenden diesen Vorgang, nur einige Amtsdiener fanden die Sache unerhört spaßig und hatten Mühe, ein lautes Herauslachen zu unterdrücken. Wu Liang, derr Angeklagte, der vor dem Richterstuhl stand, rechnete sich gute Chancen aus, nach dieser Komödie auf freien Fuß gesetzt zu werden. Sichtlich unwohl in seiner Haut aber fühlte sich Bao Xing, der die Welt nicht mehr verstand nach dem, was sein Herr hier veranstaltete.

       Bao Gong indessen, so hatte es den Anschein, war mit seinem Gespräch mit Gott Samgharama zufrieden. Er nickte noch zweimal, verbeugte sich tief vor der Statue und ging zu seinem Platz zurück.

       „Wu Liang“, sprach er sodann mit fester Stimme, „soeben hat mir der Gott gesagt, dass du am Rücken seiner Statue eine Spur hinterlassen hättest, die dich eindeutig des Mordes an dem Mönch überführt. Hast du noch etwas vorzubringen, dann sprich!“

       Laut beklagte sich nur der Zimmermann, dass man ihn, einen braven Mann, einer solchen Tat für fähig hielt, und erneut begann er, wie schon vorher, den ehrbaren Handwerker zu beschwören, der er sei, und dass er gleichsam als die Unschuld in Person vor Gericht stehe. Bao Gong, der ihn eine Weile reden und jammern ließ, war schließlich mit seiner Geduld am Ende und befahl: „Bringt ihn zur Statue!“ Er selbst erhob sich und schritt zu der Figur, sodann bedeutete er den Gerichtsbeamten, auch ihrerseits näher an die Statue heranzutreten, und nun hefteten sich alle Blicke auf deren rückwärtige Seite. Deutlich zu sehen war dort der blutige Abdruck einer linken Hand, und zwar einer Hand mit sechs Fingern.

       Wu Liang, zu Tode erschrocken und vom einen Moment zum andern kreideweiß geworden, starrte auf das dunkelrote Abbild der sechsfingerigen Hand auf dem braunen Ton der Gottesfigur. Es war seine linke Hand, die nach der Mordtat diese Spur hier hinterlassen hatte, seine Hand, die mit ihren sechs Fingern ihm eine gewisse Berühmtheit im Kreis eingetragen hatte.

       Die Bluthand auf der Statue des Gottes Samgharama hatte im Gerichtssaal mittlerweile ein tumultartiges Treiben ausgelöst. Alles drängte zu der Figur, um den Abdruck der Hand von nahem zu sehen, alles redete und diskutierte. Und die Gerichtsbeamten riefen immer wieder: „Ein Hoch auf unseren Kreisvorsteher!“ Bao Gong schließlich machte, indem er kräftig auf den Tisch schlug, dem lärmenden Durcheinander ein Ende, und als wieder Ruhe im Saal eingekehrt war, wandte er sich an den Angeklagten:

       „Wu Liang, die Zeit des Leugnens ist vorbei. Du bist des Mordes überführt, und du kennst die auf Mord stehende Strafe. Aber du kannst dir deine letzten Tage erleichtern, wenn du nun die volle Wahrheit sagst. Wie ist es zu der Tat gekommen? Warum hast du den Mönch getötet?“

       Atemloses Schweigen herrschte im Gerichtssaal und alle Blicke waren auf den Angeklagten gerichtet. Wu Liang, der nun nichts mehr zu verlieren hatte, mit einem vollen Geständnis aber immerhin der Folter entgehen konnte, schilderte mit tonlosen Worten den Hergang der Tat:

       Der Mönch und er seien schon längere Zeit gute Bekannte gewesen, und sie hätten sich oft getroffen, um miteinander einen zu trinken. Auch an jenem Abend sei er zum Tempel gegangen. Der Mönch habe ihn eingeladen, sei aber bei seinem Eintreffen schon ziemlich betrunken gewesen. „Wir haben dann noch einen Krug zusammen geleert und kamen ins Reden über die Zukunft und wie man am besten gut fürs Alter vorsorgen kann. Da habe ich ihm vorgeschlagen, doch einen jüngeren Mitbruder aufzunehmen. Er lebte ja allein in dem Tempel, und ich sagte ihm, auf die Dauer sei das nicht gut. Wenn er einen jüngeren Mitbruder hätte, könnte der ihm später im Alter beistehen, und außerdem könnte er ihm beim Sammeln von Almosen helfen.“

       Wu Liang machte eine Pause, er bat, sich niedersetzen zu dürfen, weil ihm schwach sei, und führ dann, als ihm die Bitte gewährt worden war, fort:

       „Der Mönch meinte zu meinem Vorschlag, es sei heutzutage nicht einfach, einen jungen Mitbruder zu finden, der bereit sei, in einen einsamen Tempel zu ziehen. Und die finanzielle Seite, also die Vermehrung der Almosen, brauche ihn nicht mehr zu interessieren, weil er schon genug Geld habe. Er redete dann von über 20 Tael Silber, die er besitze.“

       „Und da hast du“, unterbrach ihn Bao Gong, „den Plan gefasst, das Geld an dich zu bringen und deinen Zechkumpanen zu ermorden!“

       „Nein, Euer Gnaden, erst später“, sagte Wu Liang, und schilderte dann weiter den Verlauf jenes verhängnisvollen Abends: wie er dem Mönch geraten hatte, das Geld nur ja gut zu verstecken, damit es nicht gestohlen würde; dass der Mönch geantwortet hatte, er habe ein todsicheres Versteck gefunden, dass der genialste Dieb nicht entdecken werde; und dass der inzwischen stark betrunkene Mönch ihm schließlich das Versteck verraten hatte: im Kopf der Statue des Gottes Samgharama.

       Wieder machte Wu Liang eine Pause, hastig atmend wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn, um dann die Sache schnell zu Ende zu bringen:

       „Erst jetzt, Euer Gnaden, hatte die Geldgier von mir Besitz ergriffen. Ich war ja noch nüchtern, aber ihn hatte die Trunkenheit leichtsinnig gemacht. Ich tat so, als würde ich ihm nicht glauben, und da wollte er mir beweisen, dass sein Schatz wirklich im Kopf der Statue steckte. Er richtete sich schwankend auf und wollte auf meine Schulteer steigen, um an den Kopf der Figur zu kommen. Er war aber so betrunken, dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“

       „Und dann hast du mit deiner Axt auf ihn eingeschlagen?“, fragte Bao Gong.

       „ich habe die Axt immer bei mir, weil ich unterwegs oft kleinere Arbeiten erledige. Aber noch nie hatte ich meine Axt gegen einen Menschen erhoben. Ein böser Geist mußte in mich gefahren sein. Glauben Sie mir, Euer Gnaden, ich habe mich noch gegen ihn gewehrt, gegen den bösen Geist, denn meine Hände zitterten, als ich mit der Axt über dem Mönch stand. Der kam dann auch, als er meine Absicht erkannte, schnell wieder zur Besinnung und wollte mir die Axt entwinden, was ihm aber leider nicht gelungen ist.“

       Wu Liang hatte, wie er in wenigen Worten zu Ende führte, den Mönch mit mehreren Hieben getötet, war dann auf den Altar gestiegen, worauf sich die Gottesstatue befand, und hatte aus deren Kopf das Silber herausgenommen.

       Nach diesem Geständnis holte Bao Gong aus einer Tasche seiner Robe heraus, was er im Tempel neben der Statue gefunden hatte. Es war eine Richtschnur, wie sie Zimmerleute gebrachen. „Gestern“, sagte Bao Gong, „habe ich an dieser Gottesstatue im Tempel den blutigen Abdruck einer sechsfingrigen hand entdeckt, und damit war klar, dass Shen Qing für die Mordtat nicht in Frage kam, denn er hat keine Hand mit sechs Fingern. Dann fand ich dort diese Richtschnur, und so wusste ich, dass der Mörder ein Zimmermann sein musste. Ist das hier“, fragte er Wu Liang, „deine Richtschnur?“ Sie sei ihm, erwiderte der überführte Täter, aus seiner Werkzeugtasche gefallen, als er die Axt herausgeholt hatte.

       Wu Liang musste nun das Geständnisprotokoll unterschreiben, worauf man ihn in den Kerker zurückbrachte, wo er bis zu seiner Hinrichtung verblieb. Shen Qing aber erhielt als Entschädigung für die erlittene Zeit in der Haft zehn Tael Silbeer. Und die Statue des Gottes Samgharama wurde an ihren Platz in den Tempel zurückgebracht.           

-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-+-
Zurück

Adresse: Baiwanzhuang Dajie 24, Beijing, VR China
Postleitzahl: 100037
Fax: 010-68328338
Website: http://www.chinatoday.com.cn
E-mail: chinatoday@263.net
Copyright (c) China Today, All Rights Reserved.