Wie
der Gott Samgharama als
Zeuge vor Gericht erschien
Nachdem
Bao Gong mit Erfolg das kaiserliche Staatsexamen hinter sich
gebracht hatte, was ihm den akademischen Titel Jinshi und damit
die Anwartschaft auf einen Beamtenposten eintrug, dauerte es
nicht lange, bis er seine Berufung zum Vorsteher des Kreises
Dingyuan erhielt. Der Kreis Dingyuan unterstand der Präfektur
Fengyang. Da Bao Gong alleinstehend und nicht ins Joch häuslicher
Pflichten eingespannt war, packte er auf der Stelle seine Siebensachen
und begab sich in Begleitung seines Dieners Bao Xing an die
Stätte seines künftigen Wirkens. Schon bald erreichten sie das
Kreisgebiet, und noch bevor sie in der Kreisstadt anlangten,
wechselte Bao Gong die Kleidung. Er wollte in unauffälliger
Zivilkleidung erste Eindrücke sammeln. Noch kannte ihn hier
niemand.
In der Kreisstadt suchten Bao Gong
und sein Diener ein Restaurant auf, um etwas zu sich zu nehmen,
und während sie dem bescheidenen Gericht zusprachen, wurden
sie Zeugen eines merkwürdigen Vorfalls. Ein Mann betrat das
Lokal, der eilfertige Kellner hieß ihn willkommen: „Schönen
guten Tag, Herr Pi, wir hatten schon mehrere Tage nicht mehr
die Ehre Ihres Besuchs.“ Der Herr brummte etwas vonwegen Arbeit
und wenig Zeit und nahm an einem der Tische Platz, und der Kellner
verschwand in der Küche, um gleich darauf mit zwei Kännchen
Schnaps und zwei Tassen zurückzukommen. Er wollte sie dem neuen
Gast gerade auf den Tisch stellen, als der sich laut wunderte:
„Was soll denn das? Seit wann brauche ich mittags zwei Pullen?
Und was soll ich mit zwei Tassen? Soll ich vielleicht beidhändig
trinken?“
Der Kellner stand eine Weile sichtlich
verlegen und ratlos da. „Aber hier war doch eben noch ein zweiter
Herr“, sagte er schließlich, „der Herr, der Ihnen gefolgt ist.
Er sah sehr leidend aus, wieso ist er so schnell verschwunden?“
Alles horchte auf und war peinlich berührt ob der seltsamen
Rede des Kellners. Herr Pi jedoch erbleichte, starrte eine kurze
Weile schweigend vor sich hin und verließ dann hastig das Lokal.
Bao Gong, der den Kellner zur Person des Herrn Pi befragte,
erfuhr dann noch, dass es sich bei Pi Xiong, so lautete dessen
ganzer Name, um den Chef einer Gilde von Pferdehändlern handelte.
Nach diesem sonderbaren Begebnis (das
in dieser Geschichte keine Rolle mehr spielen wird, aber in
der nächsten) schichte Bao Gong, die Mahlzeit beendend, seinen
Diener voraus zum Sitz der Kreisregierung, um die Ankunft des
neuen Kreisvorstehers zu melden. Als Bao Gong wenig später selbst
dort eintraf, harrten seiner vor dem Tor des Amtsgebäudes schon
viele Beamte. Es wurden die üblichen Begrüßungsworte gewechselt,
und sodann ging Bao Gong in sein Büro, wo er mit seinem Vorgänger
verschiedene Formalitäten erledigte und das Amtssiegel und andere
Utensilien sowie Insignien seiner Herrschaft im Kreis Dingyuan
entgegennahm.
Unverzüglich machte sich Bao Gong dann
an die Arbeit, die zunächst im Studium vieler Akten bestand.
Dabei stieß er auch auf die Akte eines gewissen Shen Qing, der
im Tempel Samgharama einen Mönch ermordet haben sollte, der
dort seit längerem allein gelebt hatte. Da die Niederschrift,
die den vermuteten Hergang der Tat schilderte, ihm jedoch ganz
und gar nicht schlüssig zu sein schien, ja erhebliche Zweifel
in ihm weckte, ob die Tat sich wirklich so zugetragen habe,
befahl er, Shen Qing, der im Kerker schmachtete und dort auf
das Urteil wartete, sofort in den Gerichtssaal zu bringen. Er
wollte den Fall sogleich verhandeln.
Shen Qing, der, als er in den Gerichtssaal
geführt wurde, noch an Händen und Füßen gefesselt war, sah auf
den ersten Blick nicht so aus, wie man sich einen gemeinen Mörder
gewöhnlich vorstellt. Doch das mochte nichts heißen. Bao Gong
jedenfalls beobachtete den Angeklagten, der vor Angst schlotterte,
genau.
„Angeklagter Shen Qing“, so begann
Bao Gong die Sitzung, „ich bin der neue Kreisvorsteher und möchte
von dir genau hören, wie du im Tempel Samgharama diese schändliche
Mordtat verübt hast. Ich will die ganze Wahrheit! Die Indizien
sprechen gegen dich, also heraus mit der Sprache!“
Shen Qing schaute auf und blickte dem
neuen Kreisvorsteher, der fast gleichaltrig war wie er, offen
ins Gesicht. Seine Augen waren voller Furcht, strahlten zugleich
jedoch etwas wie Würde aus. Kann sich ein Mörder so verstellen?
Shen Qing senkte den Kopf wieder und machte, von häufigem Schluchzen
unterbrochen, folgende Angaben:
„Euer Gnaden, ich heiße Shen Qing,
bin 28 Jahre alt und stamme aus diesem Kreis. Ich habe den Mönch
nicht getötet. An jenem Tag kam ich von einem Besuch meiner
Eltern zurück. Es war schon dunkel und regnete, der Weg war
ein einziger Matsch. Da ich sehr furchtsam bin, in der Finsternis
habe ich immer Angst, kam mir die Idee, in dem Tempel, an dem
ich gerade vorbeikam, die Nacht zu verbringen. Das tat ich auch.
Ich legte mich irgendwo hin und schlief gleich ein. Als ich
aufwachte, war es noch dunkel und der Regen hatte aufgehört,
und so machte ich mich wieder auf den Weg. Es war schon hell
geworden, da begegneten mir zwei Amtsboten, die mich anhielten
und fragten, woher ich käme und was ich da machte. So erzählte
ich ihnen, dass ich die Nacht wegen des Regens im Tempel verbracht
hatte und nun auf dem Weg nach Hause sei. Die Amtsboten ließen
mich aber nicht los, sie hatten einen großen Blutflecken hinten
auf meiner Jacke entdeckt, und ich musste mit ihnen in den Tempel
zurückgehen, wo sie nachschauen wollten, ob dort alles in Ordnung
sei. Im Tempel fanden wir dann neben der Statue des Gottes Samgharama
den toten Mönch liegen. Ich verstand überhaupt nicht, was los
war. Die Amtsboten behaupteten, dass ich den Mönch getötet hätte,
und brachten mich in den Gerichtshof. Ich kann nur sagen, dass
ich unschuldig bin und dass alles, was ich gesagt habe, sich
genauso zugetragen hat. Aber keiner will mir glauben.“
Bao Gong hatten den Angeklagten während
dessen Rede, die schließlich in heftiges Weinen überging, nicht
aus den Augen gelassen. So kann sich, dachte er, kein Mörder
verstellen. Der Mann scheint wirklich unschuldig zu sein. Dennoch
befahl er: „Bringt ihn zurück in den Kerker!“ Und zu seinem
Diener Bao Xing sagte er: „Bereite alles vor, wir machen uns
gleicch auf den Weg zum Tempel Samgharama.“
Unterwegs in seiner Sänfte überlegte
Bao Gong den Fall hin und her: Shen Qing, soviel war klar, saß
unschuldig im Kerker. Hätte er nicht seine blutbefleckte Jacke
weggeworden, wenn er der Mörder wäre? Und hätte die Jacke in
diesem Fall nicht eigentlich vorne mit Blut bespritzt sein müssen?
Und wo war die Mordwaffe? Der Mönch war, so stand es in der
Akte, ganz offensichtlich mit einer Axt getötet worden, doch
nirgendwo hatte sich die Spur eines solchen Tatwerkzeugs gefunden.
Sowie sie den Tempel erreichten, hieß
Bao Gong die Sänftenträger und das übrige Gefolge draußen warten
und machte sich zusammen mit Bao Xing an die Inspektion. Drinnen
im Tempel sahen sie, dass die Statue des Gottes Samgharama beschädigt
war und zwei zu Seiten der Statue befindliche Buddhafiguren
umgestürzt dalagen. Der Tempel machte einen insgesamt heruntergekommenen
Eindruck. Auf dem Fußboden neben der Statue befand sich eine
eingetrocknete Blutlache, und als Bao Gong genauer hinsah, bemerkte
er in dem Dämmerlicht, das hier herrschte, etwas, das er aufhob
und einsteckte. „Laß uns gehen“, sagte er zu Bao Xing, „hier
ist nichts mehr weiter zu finden.“
Zurück in seinem Amtssitz, legte Bao
Gong in der Studierstube eine Teepause ein und entspannte sich
mit geschlossenen Augen. Bao Xing, der meinte, sein Herr wäre
eingeschlafen, und der die Gelegenheit zu einer eigenen Ruhepause
nutzen wollte, hörte sich plötzlich angesprochen:
„Wer ist heute im Gericht für den Dienst
zuständig?“, fragte Bao Gong.
„Hu Cheng.“
„Ruf ihn zu mir!“
Hu Cheng kam, machte vor dem Kreisvorsteher
einen Kotau und wollte gerade zu einer umständlichen Begrüßung
ansetzen, als Bao Gong ihn aufstehen hieß und fragte, ob es
im Kreis Zimmerleute für anderntags frühmorgens zusammenzurufen.
Es gebe dringende Holzarbeiten zu verrichten. Der Gerichtsdiener
eilte mit einem „Zu Befehl, Euer Gnaden!“ von hinnen, und Bao
Xing fragte seinen Herrn verwundert:
„Was für Holzarbeiten sind zu erledigen?“
„Frag nicht so viel“, wies ihn Bao
Gong zurecht, „es ist Zeit, das Mahl zu bereiten.“ Und während
Bao Xing sich anschickte, den Raum zu verlassen, hörte er noch,
wie Bao Gong sagte: „Ich will einen Sarg für den Mörder zimmern
lassen.“
Am nächsten Morgen, Hu Cheng hatte
den Auftrag gewissenhaft ausgeführt, warteten alle Zimmerleute
des Kreises, es waren ihrer neun, vor dem Tor des Amtssitzes.
Bao Gong wies den Gerichtsdiener an, sie in die hintere Halle
zu bringen und einige Tische, Pinsel und Tuschsteine bereitzustellen.
Als er wenig später selbst in der Halle erschien, begrüßten
ihn die Handwerker mit einem ehrerbietigen Kotau.
„Steht auf!“, sagte Bao Gong, „es gibt
Arbeit für euch. Ich möchte euch bitten, für mich einige Blumenständer
anzufertigen. Aber ich will eine ganz neue Art von Blumenständern,
und deshalb macht ihr jeder erst eine Skizze. Danach wähle ich
die beste aus. Natürlich soll keiner umsonst hierhergekommen
sein, jeder erhält seinen Lohn.“
Geschmeichelt von soviel Gunstbezeigung,
machten sich die neun eifrig ans Werk. Sie zerbrachen sich die
Köpfe und versuchten, mit ihren derben Händen die Pinsel sauber
zu führen, und Bao Gong schritt mit lächelnder Miene auf und
ab und beobachtete alles mit stiller Freude.
Endlich waren die Zeichnungen fertig,
und einer nach dem anderen überreichte dem Kreisvorsteher seinen
Entwurf. Der prüfte die neun Skizzen wieder und wieder, wobei
er von einer, die seltsamerweise eine der schlechtesten war,
besonders angetan zu sein schien.
„Wer hat das gezeichnet?“
„Ich“, antwortete der Zimmermann Wu
Liang. Bao Gong schaute nochmals auf das von Wu Liang bekritzelte
Blatt und beschied die anderen Handwerker, die jeder ein Geldstück
bekamen, nach Hause zu gehen. Nur Wu Liang solle bleiben.
Nachdem die acht Zimmerleute nach vielen
Verbeugungen und Dankesworten gegangen waren, verkündete Bao
Gong: „Wir eröffnen nun eine Gerichtsverhandlung.“ Seinen Diener
wies er an, Wu Liang in den Gerichtssaal zu bringen, und er
selbst streifte sich die Richterrobe über.
Wenig später saß Bao Gong ehrfurchtgebietend
auf dem Richterstuhl, von dem aus schon so manches Urteil über
kleine Gauner und schlimme Verbrecher ergangen war. Als nun
Wu Liang von Bao Xing in den Saal geführt wurde, hub Bao Gong
sofort mit lauter Stimme an, den Zimmermann des Mordes anzuklagen:
„Du hast im Tempel des Gottes Samgharama einen Mönch getötet!
Gestehe die schändliche Tat und schildere genau, wie es dazu
gekommen ist, nur so bleibst du von der Folter verschont. Also
sprich!“
Wu Liang erbleichte, wie vom Donner
gerührt stand er da, es schnürte sich ihm die Kehle zu. Doch
er fasste sich wieder, begann vom ehrbaren Handwerk zu reden,
das er betreibe, und dass er immer das Gesetz befolge, dass
er noch nie Unrechtes getan habe. „Euer Gnaden“, sagte er, „ich
bin die Unschuld in Person, ich weiß nicht, wie ein so schlimmer
Verdacht auf mich fallen konnte, es muß hier ein Missverständnis
vorliegen, eine Verwechslung. Euer Gnaden werden doch kein falsches
Urteil sprechen wollen.“ Er wollte fortfahren zu reden, doch
Bao Gong schnitt ihm das Wort ab: „Natürlich habe ich nicht
damit gerechnet, dass du deine Schuld eingestehst, aber es verhält
sich nun mal so, dass mir Gott Samgharama persönlich von deinem
Verbrechen berichtet hat. Und du unterstehst dich nun, die Tat
abzustreiten?“
Als Wu Liang das hörte, sah er die
ihm wohlbekannte Statue des Gottes Samgharama vor sich, eine
Figur aus Ton. Und die sollte reden können? Nie und nimmer dachte
er bei sich, und fuhr fort, seine Unschuld zu beteuern. „Wenn
Euer Gnaden sagen, dass der Gott Samgharama mich angeklagt hat,
dann möchte ich bitten, den Gott hierher kommen zu lassen, dann
mag er als Zeuge aussagen.“ Und bei sich dachte Wu Liang: „Ein
stummer Zeuge ist für mich ein guter Zeuge. So werde ich dieser
Geschichte doch noch heil herauskommen.“
Bao Gong aber lächelte nur, denn das,
was Wu Liang dachte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Geht“,
wies Bao Gong die Amtsboten an, „und bringt sofort den Gott
hierher!“ Da ging ein Raunen durch den Saal, wo sich außer den
Amtsboten und Gerichtsbeamten noch mehrere Zuhörer eingefunden
hatten.
„Euer Gnaden“, wagte einer der Amtsboten
zu entgegnen, „wir sollen in der Tat die Statue des Gottes aus
dem Tempel holen?“
„Das ist es, was ihr sollt“, erwiderte
Bao Gong, „und ich will, dass ihr euch beeilt!“
So liefen die Amtsboten zum Tempel,
und während man im Gerichtssaal auf ihre Rückkehr wartete, machte
sich unter den Anwesenden teils Ratlosigkeit breit, teils wurde
belustigt über die Angelegenheit diskutiert. „Hat man so was
schon erlebt? Eine Tonfigur als Zeuge vor Gericht?“ „Das kann
ja spannend werden! Der neue Kreisvorsteher scheint ein komischer
Kauz zu sein.“ „Jedenfalls ist es eine interessante Gerichtsverhandlung,
unterhaltsamer als im Teehaus.“ So gingen die Reden hin und
her, während Bao Gong in seiner Studierstube bei einer Tasse
Tee die Urteilsverkündung vorbereitete.
Inzwischen hatte sich die Nachricht
von dem Mordprozeß und der merkwürdigen Verhandlungsführung
des neuen Kreisvorstehers schon überall in der Kreisstadt verbreitet,
und viele Einwohner eilten herbei und versammelten sich vor
dem Tor des Amtssitzes. Wer immer sich von seinen häuslichen
und geschäftlichen Pflichten freimachen konnte, wollte dabeisein.
Würde der neue Kreisvorsteher sich auf seinem Posten halten
können, wenn er, was den meisten als unvermeidlich galt, sich
mit seinem tönernen Zeugen unterblich blamierte? Wie kann ein
Jinshi, der das kaiserliche Staatsexamen mit den besten Resultaten
bestanden hat, auf eine solche Idee verfallen und seine ganze
Karriere aufs Spiel setzen? Solche Überlegungen beschäftigten,
bis die Amtsboten mit der Statue eintraten, die Leute im Saal
und draußen vor dem Tor.
Als dann die Statue des Gottes Samgharama
im Gerichtssaal stand und Bao Gong seinen Platz wieder eingenommen
hatte, herrschte erwartungsvolles Schweigen. Bao Gong erhob
sich, schritt auf die Statue zu, verbeugte sich und begann,
flüsternd auf die Tonfigur einzusprechen, gelegentlich eine
Pause einlegend, dabei hin und wieder nickend, ganz so, als
ob er sich mit der Figur unterhielte. Gebannt verfolgten die
meisten Anwesenden diesen Vorgang, nur einige Amtsdiener fanden
die Sache unerhört spaßig und hatten Mühe, ein lautes Herauslachen
zu unterdrücken. Wu Liang, derr Angeklagte, der vor dem Richterstuhl
stand, rechnete sich gute Chancen aus, nach dieser Komödie auf
freien Fuß gesetzt zu werden. Sichtlich unwohl in seiner Haut
aber fühlte sich Bao Xing, der die Welt nicht mehr verstand
nach dem, was sein Herr hier veranstaltete.
Bao Gong indessen, so hatte es den
Anschein, war mit seinem Gespräch mit Gott Samgharama zufrieden.
Er nickte noch zweimal, verbeugte sich tief vor der Statue und
ging zu seinem Platz zurück.
„Wu Liang“, sprach er sodann mit fester
Stimme, „soeben hat mir der Gott gesagt, dass du am Rücken seiner
Statue eine Spur hinterlassen hättest, die dich eindeutig des
Mordes an dem Mönch überführt. Hast du noch etwas vorzubringen,
dann sprich!“
Laut beklagte sich nur der Zimmermann,
dass man ihn, einen braven Mann, einer solchen Tat für fähig
hielt, und erneut begann er, wie schon vorher, den ehrbaren
Handwerker zu beschwören, der er sei, und dass er gleichsam
als die Unschuld in Person vor Gericht stehe. Bao Gong, der
ihn eine Weile reden und jammern ließ, war schließlich mit seiner
Geduld am Ende und befahl: „Bringt ihn zur Statue!“ Er selbst
erhob sich und schritt zu der Figur, sodann bedeutete er den
Gerichtsbeamten, auch ihrerseits näher an die Statue heranzutreten,
und nun hefteten sich alle Blicke auf deren rückwärtige Seite.
Deutlich zu sehen war dort der blutige Abdruck einer linken
Hand, und zwar einer Hand mit sechs Fingern.
Wu Liang, zu Tode erschrocken und vom
einen Moment zum andern kreideweiß geworden, starrte auf das
dunkelrote Abbild der sechsfingerigen Hand auf dem braunen Ton
der Gottesfigur. Es war seine linke Hand, die nach der Mordtat
diese Spur hier hinterlassen hatte, seine Hand, die mit ihren
sechs Fingern ihm eine gewisse Berühmtheit im Kreis eingetragen
hatte.
Die Bluthand auf der Statue des Gottes
Samgharama hatte im Gerichtssaal mittlerweile ein tumultartiges
Treiben ausgelöst. Alles drängte zu der Figur, um den Abdruck
der Hand von nahem zu sehen, alles redete und diskutierte. Und
die Gerichtsbeamten riefen immer wieder: „Ein Hoch auf unseren
Kreisvorsteher!“ Bao Gong schließlich machte, indem er kräftig
auf den Tisch schlug, dem lärmenden Durcheinander ein Ende,
und als wieder Ruhe im Saal eingekehrt war, wandte er sich an
den Angeklagten:
„Wu Liang, die Zeit des Leugnens ist
vorbei. Du bist des Mordes überführt, und du kennst die auf
Mord stehende Strafe. Aber du kannst dir deine letzten Tage
erleichtern, wenn du nun die volle Wahrheit sagst. Wie ist es
zu der Tat gekommen? Warum hast du den Mönch getötet?“
Atemloses Schweigen herrschte im Gerichtssaal
und alle Blicke waren auf den Angeklagten gerichtet. Wu Liang,
der nun nichts mehr zu verlieren hatte, mit einem vollen Geständnis
aber immerhin der Folter entgehen konnte, schilderte mit tonlosen
Worten den Hergang der Tat:
Der Mönch und er seien schon längere
Zeit gute Bekannte gewesen, und sie hätten sich oft getroffen,
um miteinander einen zu trinken. Auch an jenem Abend sei er
zum Tempel gegangen. Der Mönch habe ihn eingeladen, sei aber
bei seinem Eintreffen schon ziemlich betrunken gewesen. „Wir
haben dann noch einen Krug zusammen geleert und kamen ins Reden
über die Zukunft und wie man am besten gut fürs Alter vorsorgen
kann. Da habe ich ihm vorgeschlagen, doch einen jüngeren Mitbruder
aufzunehmen. Er lebte ja allein in dem Tempel, und ich sagte
ihm, auf die Dauer sei das nicht gut. Wenn er einen jüngeren
Mitbruder hätte, könnte der ihm später im Alter beistehen, und
außerdem könnte er ihm beim Sammeln von Almosen helfen.“
Wu Liang machte eine Pause, er bat,
sich niedersetzen zu dürfen, weil ihm schwach sei, und führ
dann, als ihm die Bitte gewährt worden war, fort:
„Der Mönch meinte zu meinem Vorschlag,
es sei heutzutage nicht einfach, einen jungen Mitbruder zu finden,
der bereit sei, in einen einsamen Tempel zu ziehen. Und die
finanzielle Seite, also die Vermehrung der Almosen, brauche
ihn nicht mehr zu interessieren, weil er schon genug Geld habe.
Er redete dann von über 20 Tael Silber, die er besitze.“
„Und da hast du“, unterbrach ihn Bao
Gong, „den Plan gefasst, das Geld an dich zu bringen und deinen
Zechkumpanen zu ermorden!“
„Nein, Euer Gnaden, erst später“, sagte
Wu Liang, und schilderte dann weiter den Verlauf jenes verhängnisvollen
Abends: wie er dem Mönch geraten hatte, das Geld nur ja gut
zu verstecken, damit es nicht gestohlen würde; dass der Mönch
geantwortet hatte, er habe ein todsicheres Versteck gefunden,
dass der genialste Dieb nicht entdecken werde; und dass der
inzwischen stark betrunkene Mönch ihm schließlich das Versteck
verraten hatte: im Kopf der Statue des Gottes Samgharama.
Wieder machte Wu Liang eine Pause,
hastig atmend wischte er sich die Schweißperlen von der Stirn,
um dann die Sache schnell zu Ende zu bringen:
„Erst jetzt, Euer Gnaden, hatte die
Geldgier von mir Besitz ergriffen. Ich war ja noch nüchtern,
aber ihn hatte die Trunkenheit leichtsinnig gemacht. Ich tat
so, als würde ich ihm nicht glauben, und da wollte er mir beweisen,
dass sein Schatz wirklich im Kopf der Statue steckte. Er richtete
sich schwankend auf und wollte auf meine Schulteer steigen,
um an den Kopf der Figur zu kommen. Er war aber so betrunken,
dass er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.“
„Und dann hast du mit deiner Axt auf
ihn eingeschlagen?“, fragte Bao Gong.
„ich habe die Axt immer bei mir, weil
ich unterwegs oft kleinere Arbeiten erledige. Aber noch nie
hatte ich meine Axt gegen einen Menschen erhoben. Ein böser
Geist mußte in mich gefahren sein. Glauben Sie mir, Euer Gnaden,
ich habe mich noch gegen ihn gewehrt, gegen den bösen Geist,
denn meine Hände zitterten, als ich mit der Axt über dem Mönch
stand. Der kam dann auch, als er meine Absicht erkannte, schnell
wieder zur Besinnung und wollte mir die Axt entwinden, was ihm
aber leider nicht gelungen ist.“
Wu Liang hatte, wie er in wenigen Worten
zu Ende führte, den Mönch mit mehreren Hieben getötet, war dann
auf den Altar gestiegen, worauf sich die Gottesstatue befand,
und hatte aus deren Kopf das Silber herausgenommen.
Nach diesem Geständnis holte Bao Gong
aus einer Tasche seiner Robe heraus, was er im Tempel neben
der Statue gefunden hatte. Es war eine Richtschnur, wie sie
Zimmerleute gebrachen. „Gestern“, sagte Bao Gong, „habe ich
an dieser Gottesstatue im Tempel den blutigen Abdruck einer
sechsfingrigen hand entdeckt, und damit war klar, dass Shen
Qing für die Mordtat nicht in Frage kam, denn er hat keine Hand
mit sechs Fingern. Dann fand ich dort diese Richtschnur, und
so wusste ich, dass der Mörder ein Zimmermann sein musste. Ist
das hier“, fragte er Wu Liang, „deine Richtschnur?“ Sie sei
ihm, erwiderte der überführte Täter, aus seiner Werkzeugtasche
gefallen, als er die Axt herausgeholt hatte.
Wu Liang musste
nun das Geständnisprotokoll unterschreiben, worauf man ihn in
den Kerker zurückbrachte, wo er bis zu seiner Hinrichtung verblieb.
Shen Qing aber erhielt als Entschädigung für die erlittene Zeit
in der Haft zehn Tael Silbeer. Und die Statue des Gottes Samgharama
wurde an ihren Platz in den Tempel zurückgebracht.