August 2002
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Sonderberichte

Presse Schau

Im Rollstuhl quer durch die Wüste – eine mutige Unternehmung des Behinderten Yin Xiaoxing

Von Shen Honglei

Mein Paper piepste, und auf dem kleinen Bildschirm erschien eine Kurznachricht: „Frau Shen, ich habe die Wüste wohlbehalten durchquert, seien Sie bitte nicht besorgt!“ Ich blickte in die Ferne und atmete erleichtert auf.

Zwei Wochen später wurde Yin Xiaoxing im Rollstuhl durch die Menschenmengen hindurch aus dem Beijinger Hauptbahnhof hinausgeführt.

Im Wagen gab er mir einen Kassettenrekorder und sagte: „Das ist das Lied, das ich über die Durchquerung der Wüste geschrieben habe, ein Freund hat es vertont. Der Titel lautet Mein Xinjiang.“ Ich drückte auf die Taste, da erklang ein schöner Gesang im Wagen. Mir kam es vor, als ob hinter mir kein Behinderter, sondern ein normaler gesunder Mensch säße, der mit dem aufstrebsamen Geist das große Vaterland bereiste.

Yin Xiaoxing ist ein Gehbehinderter der Kategorie eins. In seinen 30 Jahren ist er nie zu Fuß gegangen. Vor neun Jahren jedoch machte er sich auf den Weg. Im Rollstuhl überquerte er das schneebedeckte Tanggula-Gebirge, mit einem Rucksack auf dem Rücken erkletterte er auf den Knien den Hengshan und den Huashan. Er reiste so kreuz und quer durch das ganze Land. Diesmal wollte er die Taklimakan-Wüste, auch das „Meer des Todes“ genannt, durchqueren.

Die Faszination des „Meers des Todes“

Im Juni ist die Taklimakan-Wüste ein Glutofen. Am nördlichen Rand der Wüste steht ein quadratischer Gedenkstein mit der Aufschrift: „Zur Wüste 0 km“. Von dort aus sieht die Wüste wie ein sich kräuselndes Meer aus, das sich ins Unendliche ausdehnt. Eine asphaltierte Straße führt in die Wüste hinein.

Die Taklimakan-Wüste ist die zweitgrößte wandernde Wüste der Welt und bedeckt eine Fläche von 320 000 km2. Bis 1995 gab es dort keine Straßenverbindung. Gewaltige Sandstürme legen gelegentlich weiße Knochen von toten Kamelen frei. Viele Wissenschaftler und Abenteuerer sind in die Wüste hineinmarschiert, aber nicht wieder herausgekommen. Deshalb wird die Wüste als „Meer des Todes“ bezeichnet.

Gibt es wirklich kein Leben in der Wüste? Vor sechs Jahren, als Yin Xiaoxing eine 5231 m hohe Stelle im Tanggula-Gebirge erreichte, war da keine Menschenseele zu sehen. Dennoch sah er zwischen Felsblöcken einige Grasbüschel, die sich dem starken Wind entgegenstellten. Yin war überzeugt, dass es auch in der Wüste grünes Leben gibt. Er wollte es durch seine Unternehmung entdecken.

Im Jahr 1995 wurde eine 522 km lange Straße zum Zweck der Erdölförderung quer durch die Wüste gelegt. Diese Wüstenstraße wollte Yin Xiaoxing bewältigen und zugleich einen Guiness-Rekord aufstellen. Vor der Abfahrt verabschiedete sich der Kreisvorsteher von ihm und wünschte ihm Erfolg. Yin Xiaoxing nahm die Ermutigung sehr zu Herzen, umso mehr, als er daran zurückdachte, wie er sich zum ersten Mal auf den Weg gemacht hatte. Zum Abschied erschien damals nur sein Bruder allein. Inzwischen hat er mit seinen Taten die Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich und andere Behinderte gezogen und mehr Verständnis für ihre Situation erreicht. Stellvertretend für diese will Yin Xiaoxing beweisen: „Wir schaffen das auch.“ 

Trotziger Pappelwald

In China gibt es 60 Mio. Behinderte. Jeder Behinderter kann wohl ein trauriges Lied über seine Erfahrungen singen. Yin Xiaoxing wollte jedoch mit seiner Tat den Gesang des Wagemuts anstimmen.

Am ersten Tag legte er 40 km zurück. Am Abend schlug er ein Zelt am Rande eines Pappelwalds auf. Er schrieb in sein Tagebuch: „Das Zelt ist etwa 20 m von meinem Rollstuhl entfernt. Der Einfacheit halber habe ich die Mineralwasserflaschen eine nach der anderen ins Zelt geworfen. Das letzte, was ich tun muss, ist, den Rollstuhl von der höhergelegenen Straße herunter zu holen. Da aber der Straßendamm zu hoch ist, wollte ich ihn nach unten rollen lassen. Zweimal versucht, ohne Erfolg. Schließlich musste ich mich auf den Boden setzen, die Vorderräder mit beiden Händen festhalten und mich Stück für Stück zurückziehen. So ist er schließlich doch noch nach unten gekommen.“

Yin Xiaoxing führte unterwegs ein Tagebuch, das bereits 4 Mio. Schriftzeichen umfasst. Inzwischen hat er eine Gedichtsammlung mit dem Titel Ein Leben auf Knien veröffentlicht, und plant, demnächst die Reportagesammlung Der Mensch am Horizont zu veröffentlichen.

Um vier Uhr mogens wurde er durch die Kälte geweckt. Der Temperaturunterschied in der Wüste beträgt 50 Grad Cesius. Er nahm eine Taschenlampe und leuchtete in die Welt hinaus. Im Licht sahen die verdorrten Bäume aus, als ob sie wieder zum Leben gekommen wären. Yin dachte an ein Lied der Einheimischen über die Pappel: „Leben, für eintausend Jahre nicht sterben/ sterben, für eintausend Jahre nicht fallen/ fallen, für eintausend Jahre nicht verfaulen.“ Das ist eine Beschreibung der heldenhaften Charakterzüge der Pappel, merkte er sich.

Begegnung mit Yin Xiaoxing in der Wüste

Am dritten Tag seiner Wüstendurchquerung begegnete ich Yin Xiaoxing. Da lag die Tagestemperatur in der Wüste bei 70 Grad Celsius. Am Tag fahren die Kraftfahrzeuge alle mit Klimaanlage. Der glühenden Hitze ausgesetzt, arbeitete sich Yin Xiaoxing Meter für Meter voran. Man kann sich kaum vorstellen, was für eine harte Probe das für ihn bedeutete.

Als ich mit hoher Geschwindigkeit im Pressewagen auf der Wüstenstraße fuhr, sah ich viele Kraftfahrzeuge, die umdrehten, nachdem sie den Rollstuhlfahrer gesehen hatten. Die Fahrer grüßten ihn und bezeugten ihm ihre Hochachtung. Für jeden bedeutete die Begegnung mit ihm eine Erschütterung.

Ich habe die anderen Journalisten gefragt, was sie tun, wenn die Straße eine große Steigung überwindet. Sie antworteten mir, dass Yin sie angehalten hatte, ihm unterwegs keine Hilfe zu geben. Er wollte die Wüste allein durchqueren.

Im Sandsturm in der Wüste

Der Sandsturm in der Wüste ist umheimlich, die Sonne wird verschleiert, in der Dunkelheit werden die Sandmassen aufgewirbelt. Yin Xiaoxing und sein Rollstuhl wurden fast zerrissen. Er hielt sich verzweifelt an einer Verkehrstafel am Straßenrand fest. Nach einer halben Stunde kam der Begleitwagen. Erst da wurde er wie eine Tonfigur aus dem Sand ausgegraben. So legte er mit verbissener Hartnäckigkeit die 522 km auf der Wüstenstraße Stück für Stück zurück.

Yin Xiaoxing hat die Wüste durchquert und hinterließ sein Lied Mein Xinjiang in der Taklimakan-Wüste:

Frag die Wüste, frag den Sand,

Ob du die Quelle meines Lebens bist.

Sieh die Sterne, Sieh den Mond an,

Das sind die schönen Augen Xinjiangs.

Ich will die Freiheit des Fliegens erleben,

Und betrete allein die Oase in der Wüste.

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