Im
Rollstuhl quer durch die Wüste – eine mutige Unternehmung des
Behinderten Yin Xiaoxing
Von Shen
Honglei
Mein Paper piepste, und auf dem kleinen Bildschirm
erschien eine Kurznachricht: „Frau Shen, ich habe die Wüste
wohlbehalten durchquert, seien Sie bitte nicht besorgt!“ Ich
blickte in die Ferne und atmete erleichtert auf.
Zwei Wochen später wurde Yin Xiaoxing
im Rollstuhl durch die Menschenmengen hindurch aus dem Beijinger
Hauptbahnhof hinausgeführt.
Im Wagen gab er mir einen Kassettenrekorder
und sagte: „Das ist das Lied, das ich über die Durchquerung
der Wüste geschrieben habe, ein Freund hat es vertont. Der Titel
lautet Mein Xinjiang.“ Ich drückte auf die Taste, da
erklang ein schöner Gesang im Wagen. Mir kam es vor, als
ob hinter mir kein Behinderter, sondern ein normaler gesunder
Mensch säße, der mit dem aufstrebsamen Geist das
große Vaterland bereiste.
Yin Xiaoxing ist ein Gehbehinderter der Kategorie
eins. In seinen 30 Jahren ist er nie zu Fuß gegangen.
Vor neun Jahren jedoch machte er sich auf den Weg. Im Rollstuhl
überquerte er das schneebedeckte Tanggula-Gebirge, mit einem
Rucksack auf dem Rücken erkletterte er auf den Knien den Hengshan
und den Huashan. Er reiste so kreuz und quer durch das ganze
Land. Diesmal wollte er die Taklimakan-Wüste, auch das „Meer
des Todes“ genannt, durchqueren.
Die Faszination des „Meers des Todes“
Im Juni ist die Taklimakan-Wüste ein Glutofen.
Am nördlichen Rand der Wüste steht ein quadratischer Gedenkstein
mit der Aufschrift: „Zur Wüste 0 km“. Von dort aus sieht die
Wüste wie ein sich kräuselndes Meer aus, das sich ins Unendliche
ausdehnt. Eine asphaltierte Straße führt in die Wüste
hinein.
Die Taklimakan-Wüste ist die zweitgrößte
wandernde Wüste der Welt und bedeckt eine Fläche von 320
000 km2. Bis 1995 gab es dort keine Straßenverbindung.
Gewaltige Sandstürme legen gelegentlich weiße Knochen
von toten Kamelen frei. Viele Wissenschaftler und Abenteuerer
sind in die Wüste hineinmarschiert, aber nicht wieder herausgekommen.
Deshalb wird die Wüste als „Meer des Todes“ bezeichnet.
Gibt es wirklich kein Leben in der Wüste?
Vor sechs Jahren, als Yin Xiaoxing eine 5231 m hohe Stelle im
Tanggula-Gebirge erreichte, war da keine Menschenseele zu sehen.
Dennoch sah er zwischen Felsblöcken einige Grasbüschel,
die sich dem starken Wind entgegenstellten. Yin war überzeugt,
dass es auch in der Wüste grünes Leben gibt. Er wollte es durch
seine Unternehmung entdecken.
Im Jahr 1995 wurde eine 522 km lange Straße
zum Zweck der Erdölförderung quer durch die Wüste
gelegt. Diese Wüstenstraße wollte Yin Xiaoxing bewältigen
und zugleich einen Guiness-Rekord aufstellen. Vor der Abfahrt
verabschiedete sich der Kreisvorsteher von ihm und wünschte
ihm Erfolg. Yin Xiaoxing nahm die Ermutigung sehr zu Herzen,
umso mehr, als er daran zurückdachte, wie er sich zum ersten
Mal auf den Weg gemacht hatte. Zum Abschied erschien damals
nur sein Bruder allein. Inzwischen hat er mit seinen Taten die
Aufmerksamkeit der Gesellschaft auf sich und andere Behinderte
gezogen und mehr Verständnis für ihre Situation erreicht.
Stellvertretend für diese will Yin Xiaoxing beweisen: „Wir schaffen
das auch.“
Trotziger Pappelwald
In China gibt es 60 Mio. Behinderte. Jeder
Behinderter kann wohl ein trauriges Lied über seine Erfahrungen
singen. Yin Xiaoxing wollte jedoch mit seiner Tat den Gesang
des Wagemuts anstimmen.
Am ersten Tag legte er 40 km zurück. Am Abend
schlug er ein Zelt am Rande eines Pappelwalds auf. Er schrieb
in sein Tagebuch: „Das Zelt ist etwa 20 m von meinem Rollstuhl
entfernt. Der Einfacheit halber habe ich die Mineralwasserflaschen
eine nach der anderen ins Zelt geworfen. Das letzte, was ich
tun muss, ist, den Rollstuhl von der höhergelegenen Straße
herunter zu holen. Da aber der Straßendamm zu hoch ist,
wollte ich ihn nach unten rollen lassen. Zweimal versucht, ohne
Erfolg. Schließlich musste ich mich auf den Boden setzen,
die Vorderräder mit beiden Händen festhalten und mich
Stück für Stück zurückziehen. So ist er schließlich doch
noch nach unten gekommen.“
Yin Xiaoxing führte unterwegs ein Tagebuch,
das bereits 4 Mio. Schriftzeichen umfasst. Inzwischen hat er
eine Gedichtsammlung mit dem Titel Ein Leben auf Knien
veröffentlicht, und plant, demnächst die Reportagesammlung
Der Mensch am Horizont zu veröffentlichen.
Um vier Uhr mogens wurde er durch die Kälte
geweckt. Der Temperaturunterschied in der Wüste beträgt
50 Grad Cesius. Er nahm eine Taschenlampe und leuchtete in die
Welt hinaus. Im Licht sahen die verdorrten Bäume aus, als
ob sie wieder zum Leben gekommen wären. Yin dachte an ein
Lied der Einheimischen über die Pappel: „Leben, für eintausend
Jahre nicht sterben/ sterben, für eintausend Jahre nicht fallen/
fallen, für eintausend Jahre nicht verfaulen.“ Das ist eine
Beschreibung der heldenhaften Charakterzüge der Pappel, merkte
er sich.
Begegnung mit Yin Xiaoxing in der Wüste
Am dritten Tag seiner Wüstendurchquerung begegnete
ich Yin Xiaoxing. Da lag die Tagestemperatur in der Wüste bei
70 Grad Celsius. Am Tag fahren die Kraftfahrzeuge alle mit Klimaanlage.
Der glühenden Hitze ausgesetzt, arbeitete sich Yin Xiaoxing
Meter für Meter voran. Man kann sich kaum vorstellen, was für
eine harte Probe das für ihn bedeutete.
Als ich mit hoher Geschwindigkeit im Pressewagen
auf der Wüstenstraße fuhr, sah ich viele Kraftfahrzeuge,
die umdrehten, nachdem sie den Rollstuhlfahrer gesehen hatten.
Die Fahrer grüßten ihn und bezeugten ihm ihre Hochachtung.
Für jeden bedeutete die Begegnung mit ihm eine Erschütterung.
Ich habe die anderen Journalisten gefragt,
was sie tun, wenn die Straße eine große Steigung
überwindet. Sie antworteten mir, dass Yin sie angehalten hatte,
ihm unterwegs keine Hilfe zu geben. Er wollte die Wüste allein
durchqueren.
Im Sandsturm in der Wüste
Der Sandsturm in der Wüste ist umheimlich,
die Sonne wird verschleiert, in der Dunkelheit werden die Sandmassen
aufgewirbelt. Yin Xiaoxing und sein Rollstuhl wurden fast zerrissen.
Er hielt sich verzweifelt an einer Verkehrstafel am Straßenrand
fest. Nach einer halben Stunde kam der Begleitwagen. Erst da
wurde er wie eine Tonfigur aus dem Sand ausgegraben. So legte
er mit verbissener Hartnäckigkeit die 522 km auf der Wüstenstraße
Stück für Stück zurück.
Yin Xiaoxing hat die Wüste durchquert und
hinterließ sein Lied Mein Xinjiang in der Taklimakan-Wüste:
Frag die Wüste, frag den Sand,
Ob du die Quelle meines Lebens bist.
…
Sieh die Sterne, Sieh den Mond an,
Das sind die schönen Augen Xinjiangs.
…
Ich will die Freiheit des Fliegens erleben,
Und betrete allein die Oase
in der Wüste.