Ballett
im Dilemma
Von
Yin Xingchuan

Jedes Wochenende herrscht vor
dem Eingang der Tanzhochschule Beijing emsiges Treiben. Auf
beiden Seiten der Straße steht Fahrrad an Fahrrad, Auto
an Auto, so dass der unaufhörliche Verkehr nicht selten
zusammenbricht. Die Leute besuchen hier Tanzkurse. Unter ihnen
sind viele Kinder, die von ihren Eltern hierher gebracht werden.
Aber es kommen auch Tanzliebhaber aus verschiedenen Altersgruppen.
Die
Tanzhochschule Beijing liegt in einer Nebenstraße. Sie
zählt zu den bekanntesten Kunstakademien Chinas. Professionelle
Tänzer werden hier ausbildet, außerdem gibt es viele
Tanzkurse für Hobbytänzer. Immer mehr Leute leben in Wohlstand
und wollen, dass ihre Kinder auch eine musische Ausbildung erhalten.
Daher sind diese Kurse sehr beliebt. Hunderte, ja, Tausende
Kursteilnehmer strömen zusammen mit ihren Begleitern am
Wochenende zur Hochschule – eine eindrucksvolle Szenerie.
Außer den Kursen für chinesische
Volkstänze und moderne westliche Tänze nimmt ein großer
Teil der Besucher an Ballettkursen teil, die meisten von ihnen
sind Kinder, denn ihre Eltern glauben, dass Ballett den Kunstsinn
ihrer Kinder fördert.
In China fand hohe Kunst immer
schon Bewunderer. Doch heute steckt sie in der Klemme. Es gelingt
ihr nicht, einen Markt zu etablieren, vom Ballett ganz zu schweigen,
das als „die vornehmste Kunst unter den vornehmen“ bezeichnet
wird. Zur Zeit gibt es in China etwa 300 Berufsballetttänzer
und fünf Balletttruppen. Ihre Vorstellungen sind vom staatlichen
Kulturfonds abhängig.
China
verfügt über gut ausgebaute Trainingsinstitutionen für Balletttänzer.
Die Tanzhochschulen Beijing und Shanghai sind zwei berühmte
Kunstakademien, wo qualifizierte Tänzer ausgebildet werden.
Ihnen sind Mittelschulen angeschlossen. Daneben gibt es noch
eine Reihe von Kunstakademien und Kunstschulen,die diese Fachrichtung anbieten.
Darüber hinaus gibt es auch
private Kunstschulen und Kurse, bei denen oft Unterricht von
Prominenten aus Künstlerkreisen gegeben wird.
Die Runliang Tanzschule in Beijing
ist eine private Kunstschule für Balletttänzer. Die Gründerin
Zhong Runliang war eine der bekanntesten Balletttänzerinnen
in China. Um die Ballettkunst zu verbreiten, errichtete sie
1997 diese Schule und hat sie nach ihrem eigenen Namen benannt.
Seit ihrer Gründung sind einige Jahre vergangen.
Inzwischen haben die ersten Absolventen die Tanzschule
verlassen. Unter ihnen begannen manche eine künstlerische Laufbahn,
manche sind Tanzlehrer geworden, und andere studieren an in-
und ausländischen Kunstakademien weiter. Einige Schüler
wurden bei internationalen Ballettwettbewerben für Jugendliche
ausgezeichnet.
Bemerkenswert
ist, dass diese Tanzschule nicht vom staatlichen Bildungsfonds
finanziert ist, sondern mit gesellschaftlicher Finanzierung
unterstützt wird. Das zeigt, dass diese Kunstrichtung in der
Gesellschaft bereits an Aufmerksamkeit und Unterstützung gewinnt
und immer mehr junge Leute sich ihr widmen wollen.
Tatsächlich ist der Weg
zum Balletttänzer bzw. zur Balletttänzerin langwierig.
Den großen Zeit- und Geldaufwand können sich nicht
viele chinesische Familien leisten, trotzdem schicken viele
Eltern ihre künstlerisch begabten Kinder in verschiedene Kunstschulen.
Die Anzahl neuer Schüler ist an den staatlichen Kunstfachschulen
in Beijing und Shanghai z. B. durch eine Quote begrenzt, daher
bleibt vielen nur der Gang an private Kunstschulen übrig. Das
ist ein wichtiger Grund für den großen Andrang, den private
Kunstschulen erleben.
Mittlerweile sind private Kunstschulen
in Tänzerkreisen akzeptiert. Viele Fachleute sind der Meinung,
dass Tanz in den allgemeinen Lehrplan an Grund- und Mittelschulen
integriert werden soll, denn Musik und Malen sind schon längst
Teil davon. Private Kunstschulen könnten die dafür nötigen
Lehrkräfte ausbilden.
In den letzten Jahren haben
Ballettvorstellungen in Großstädten wie Beijing und
Shanghai ein festes Publikum gewonnen, und die Spielsaison ist
etabliert. Weltberühmte Balletttruppen treten ab und zu in China
auf und fast alle wichtige Ballette werden auf chinesischen
Bühnen aufgeführt.
Chinesische Balletttänzer
haben stets versucht, das Ballett zu erneuern, indem sie nationale
künstlerische Elemente in ihre Darstellung einfügen. In China
wurde Ballett erst in den 50er Jahren eingeführt. Damals kannten
nur wenige Chinesen diese westliche Tanzkunst. Dennoch schufen
sie einige chinesische Ballettstücke wie „Das Rote Frauenbataillon“
und „Das Mädchen mit den weißen Haaren“, die jetzt
zum Standardrepertoire gehören und sich einen Namen auf
der Weltbühne gemacht haben.
Letztes Jahr wurde eine weitere antike chinesische
Liebesgeschichte, die „Schmetterlingsgeschichte“, von
der Balletttruppe Guangzhou bearbeitet. Für die Musik wurden
Violinen, ein Chor, antike chinesische Musikinstrumente und
die lokale Yue-Oper harmonisch miteinander verbunden. Anstatt
traditioneller Ballettkleider wurde antike chinesische Tracht
für das Kostüm verwendet, und der Tanz wurde mit chinesischem
Fächertanz und Breitärmeltanz bereichert. So wurde
der orientalische Reiz traditioneller chinesischer Tanzkunst
mit der Anmut, mit der Abstraktheit und Metaphorik des klassischen
Balletts harmonisch verschmolzen.
Ende des letzten Jahres ging die Balletttruppe
Guangzhou auf Tournee in die USA. Außer klassischen Ballettstücken
wurde auch die „Schmetterlingsgeschichte“ aufgeführt. Die Zuschauerzahl
betrug fast 10 000. In den Berichten US-amerikanischer Zeitungen
wurden die Kunstfertigkeit und die Geschicklichkeit der Tänzer
gelobt. Zhang Dandan, Leiterin der Balletttruppe, sagte, das
ausländische Publikum sei mit dem Inhalt der „Schmetterlingsgeschichte“
kaum vertraut gewesen, doch sie brachten dem chinesischen Ballett
Bewunderung entgegen.
Trotz einer festen Anzahl von
Zuschauern und qualifizierten Balletttänzern bleibt das
chinesische Ballett einsam. Professionelle Balletttruppen befinden
sich im Dilemma. Einerseits ist das Publikumspotential noch
nicht ausgeschöpft, andererseits kämpfen die Balletttruppen
ums Überleben.
China hat nun fünf professionelle
Balletttruppen. Sie sind in Beijing, Shanghai, Tianjin, Shenyang
und Guangzhou.
Verglichen mit ausländischen
Balletttruppen sind die chinesischen nur dünn besetzt, oft nur
mit einem Dutzend Tänzerinnen und Tänzern. Die Kosten
der Proben und Darbietungen reichen von einigen Millionen bis
zu über 10 Millionen Yuan im Jahr. An Einnahmen kassiert die
Beijinger Balletttruppe höchstens fünf Millionen Yuan,
die nicht einmal die regulären Kosten decken. Der restliche
Teil stammt vom Staat und aus gesellschaftlichen Spenden. Unter
diesen Umständen sind die chinesischen Balletttruppen nicht
in der Lage, neue Mitglieder zu rekrutieren oder Neuerungen
durchzusetzen.
Die Zentrale Balletttruppe ist
die größte in China und genießt internationales
Ansehen. Mitte der 90er Jahre betrug ihr Durchschnittsalter
fast 40 Jahre und sie wurde als die „älteste Balletttruppe
der Welt“ belächelt. Erst mit staatlichen Subventionen
konnten schließlich neue Balletttänzer gewonnen werden.
Wie schon erwähnt, hat
Ballett in China keine lange Tradition. Deshalb bedarf es gründlicher
Überlegungen, um erstklassige Darbietungen zu ermöglichen
und damit mehr Zuschauer zu gewinnen. Die Balletttruppe Guangzhou
gilt als innovativ. Ihre Leiterin meint, vorrangiges Ziel müsse
es sein, die Popularität des Balletts zu steigern. Die
Eintrittskarten zu ihren Vorstellungen kosten gerade 20 bis
80 Yuan. Zhang Dandan erklärt, zwar solle Ballett nicht
allzu billig sein, aber gegenwärtig gehe die Verbreiterung
des Publikums vor.
Mit der Öffentlichkeitsarbeit
beschäftigen sich nun die Balletttruppen selber, die staatlichen
Kulturbehörden und viele Künstlerinnen wie Zhong Runliang.
Doch ihre Bemühungen können die Bedürfnisse der Zuschauer
und der Balletttruppen bei weitem nicht befriedigen. Um den
chinesischen Ballettmarkt zu erschließen, bedarf es durchdachter
Pläne und eines größeren finanziellen Aufwands.