


Zum
Tanzen geboren
Von
Inesa Pleskacheuskay


In
der Londoner Premiere von Bravo China! sah ich sie das erste Mal. Sie tanzte
Die Seele des Pfaues, und es schien mir, als tanze vor mir keine
Künstlerin, sondern ein Vogel, ein anmutiger Pfau mit elegantem kleinem Kopf und
stolzem Gang. Vier Jahre später traf ich Yang Liping, die wohl berühmteste
Volkstänzerin Chinas, persönlich. Sie gehört der nationalen Minderheit
der Bai an, die in der südlichen Provinz Yunnan lebt.
Yang
Liping ist eine lebende Legende. Heute 46, hatte sie keine formale Ausbildung,
aber ihr Talent zum Tanzen war seit der Kindheit unübersehbar. Mit 12 wurde sie
eingeladen, dem professionellen Ensemble für Gesang und Tanz beizutreten.
„Ich
stamme aus der Volksgruppe der Bai, und wir alle sind zum Singen und Tanzen geboren.
Wir tanzen zur Erntezeit, wir tanzen auf Hochzeitsfeiern, und wir tanzen auf Beerdigungen.
Tanzen ist Teil unseres täglichen Lebens. Es ist ganz und gar natürlich,
und kann nicht erlernt werden.“
1986 wurde Yang Liping
über Nacht zur Sensation mit dem Tanz, der mich so beeindruckt hat, Die
Seele des Pfaues. Wie oft hat sie ihn seitdem aufgeführt? Sie hat aufgehört,
zu zählen. Aber sie versucht, jeder Aufführung etwas Neues – eine leichte
Bewegung oder eine Drehung des Kopfes – hinzuzufügen und damit jede von den übrigen
zu unterscheiden.
Woher nimmt sie ihre Inspiration?
„Körperbewegungen
können aus der bäuerlichen Arbeit stammen, wie dem Umsetzen von Reissetzlingen,
oder dem Drehen eines Mühlsteins; sie folgen auch allem in der Natur: Wolken,
einem Baum, schwimmenden Fischen.“
Von
einem Augenblick auf den nächsten kann Yang Liping sich in einen Baum verwandeln,
in einen Fisch, oder sogar in ein nächtliches Licht. Ihr Mondlicht-Tanz
zeigt sie als Silhouette gegen den Mond und beginnt mit dem Flug von Vögeln.
Ich konnte es kaum glauben, als ich sah, wie sie einen ganzen Schwarm Vögel
im Flug, einen emporwachsenden Baum, einen Fisch, der in einen Teich springt,
mit ihren bloßen Händen erschuf. Die zierliche Bai-Tänzerin setzt
auch ihre eigene Interpretation Ewiger Weiblichkeit spielerisch um.
„Die
Frau ist flüchtig, ebenso wie der Mond; sie erscheint wirklich, doch ist dies
nur Illusion – sie ist ungreifbar.“
Yang Lipings wichtigstes
Ziel ist es, die Traditionen ihrer eigenen und anderer nationaler Minderheiten
in Yunnan zu erhalten. Auf dem Weg in die Modernität verlieren Länder
und Menschen allzu oft ihre Eigenart. Wie sie sagt, stirbt das immaterielle Erbe
oft als erstes. Deshalb verbrachte sie die vergangenen drei Jahre als künstlerische
Leiterin, Chefchoreographin und Solistin der Galashow Dynamisches Yunnan,
eines Schaufensters für Lieder, Tänze und Traditionen der Bai.
Um
die Aufführung so lebensnah wie möglich zu gestalten, hat sie 60 Bauern dazu
eingeladen, ihrem Team von Berufstänzern beizutreten.
„Alles,
was auf der Bühne geschieht, entstammt dem richtigen Leben. Praktisch jede Bewegung
ist aus ganz alltäglichen Verrichtungen entstanden. Die meisten Kostüme,
Musikinstrumente und zeremoniellen Requisiten sind echt, selbst die Gebetssteine
aus Tibet. Deshalb spielt der Künstler deren Gewicht nicht vor, er wird tatsächlich
gebeugt von der Last dieser Steine.“
Yang Liping ist fest
davon überzeugt, dass ein Berufstänzer niemals die unverfälschte Dynamik
dieser Bauern entfalten könne, sie gibt ein unbestreitbares Beispiel mit
dem fünfjährigen A Bu, einem Jungen aus der Volksgruppe der Wa. Er ist der
jüngste Darsteller der Show, und zeigt ein eindrucksvolles Trommelsolo. Sein junges
Alter verbietet es ihm, Gastauftritte zu geben, weshalb seine Rolle in Kunming,
der Provinzhauptstadt von Yunnan, neu besetzt werden musste. „Alle Jungen kamen
in Begleitung ihrer Eltern“, sagt Yang Liping, „eine der Mütter wartete an der
Tür auf ihren Sohn, und hielt dabei einen Hamburger und ein Getränk von McDonalds.
Ich ließ die Jungen die Trommel schlagen, aber keiner konnte so überzeugend
spielen wie A Bu. Ich glaube nicht, dass ein Kind, das mit McDonalds großgeworden
ist, jemals seinen Platz einnehmen könnte. Also mussten wir ihn zurückbekommen
– der Show würde ohne ihn wirklich etwas fehlen.“
Bauern
kamen aus verschiedenen Gründen in die Show, erklärt Yang Liping: „Die jüngere
Generation in den Bergdörfern war bereits modernen kulturellen Einflüssen
ausgesetzt. Heute ziehen sie Jeans und Nike-Schuhe ihren farbenfrohen traditionellen
Gewändern vor. Trotzdem führen sie ein einfaches und ehrliches Leben, wie
bereits Generationen vor ihnen. Warum reisen sie mit der Show? Einige kamen, um
die Welt ausserhalb ihrer Dörfer zu sehen, und einige nur zum Spaß.
Eines der Mädchen, A Xiu, kam, um Geld zu verdienen und damit ihre Familie
beim Kauf von Rindern zu unterstützen. Sie muss 400 Yuan verdienen, was ein guter
Grund ist, unserer Truppe beizutreten.“
Authentizität
hat ihren Preis. Yang Liping hat drei Jahre auf Reisen in die entlegensten Winkel
von Yunnan verbracht, um Material für die Aufführung zu sammeln. Sie legte 200
000 km zurück und verkaufte ihr Haus, um die Show zu finanzieren. „Den Verkauf
eines Hauses nehme ich nicht so wichtig. Ich habe ein paar Häuser in Dali
und Beijing, und eines davon zu verkaufen, hieße nicht, dass ich keinen
Platz zum Wohnen hätte. Es ist eine Investition. Ich investiere, um zu tanzen.
Das ist es, was ich liebe.“
Um die Shows zu finanzieren,
hat Yang auch Fernsehspots gedreht. Einige davon – vor allem einer für eine berühmte
Spirituosenmarke – wurden häufig kritisiert. Sie erklärt: „Auf diese
Weise gewinne ich Geld für das Tanzen. Ich finde nicht, dass daran Falsches ist.
Ich bin ein pragmatischer Mensch, und wir leben in einer kommerziellen Welt. Ich
verhandle mit Sponsoren, und tue, was ich kann, um ihre Unterstützung für die
Show zu erreichen. Ich bin unabhängig und versuche, ein glückliches Leben
zu führen. Aber ich werde nicht und würde niemals auftreten, ohne in der Stimmung
dazu zu sein.“
In China erregte die Aufführung von Dynamisches
Yunnan einiges Aufsehen. Aus der Sicht eines chinesischen Publikums sind ihre
neuen Lieder und Tänze wegen der enthaltenen Darstellungen von Sinnlichkeit
umstritten, obgleich sie aus europäischer Sichtweise ziemlich unschuldig
sind. Menschen der Provinz Yunnan sind echte Kinder der Natur, was auch in der
Aufführung zum Ausdruck kommt. In manchen Shows werden die Paarungen von Libellen
und Schmetterlingen imitiert, und Zuschauer waren geschockt von amourösen
Pas de deux zwischen jungen Menschen verschiedenen Geschlechts, nach welchen,
nur natürlich, die Geburt eines Kindes nachgestellt wurde. Die chinesischen Medien
haben Yang Liping wegen derartiger Übertretungen scharf kritisiert. Ihre
Antwort: „Dies macht einen wesentlichen Teil im Leben der Menschen aus.“ brachte
die Kritiker zum Schweigen.
Kann man ihren Erfolg ihrem
persönlichen Charme zuschreiben? Als Antwort offenbart sie: „Tanzen ist nicht
einfach nur mein Beruf. Die Bai nennen jemanden wie mich Bimo, die Hexe mit der
Gabe des Tanzes. Als ich sehr, sehr jung war, erzählte mir meine Großmutter,
dass Singen und Tanzen unsere Art zu leben und uns auszudrücken seien. Die Bimo
spricht mit den Göttern, und vermittelt zwischen Himmel und Erde. Meine Großmutter
ist selbst ein Beispiel dafür. Als mein Großvater starb, sang sie drei Tage
und drei Nächte lang, von seinem Leben und ihrer Liebe, und um seinen Tod
zu beklagen.“
Yang Liping sagt, Tanzen liege ihr im Blut.
Der Tag, an dem sie sich von öffentlichen Auftritten zurückzieht, wird irgendwann
einmal kommen, aber das bedeutet nicht, dass sie zu tanzen aufhören würde.
„Selbst wenn ich eines Tages aufhören muss, auf der Bühne zu tanzen, werde
ich auch weiterhin Tag für Tag tanzen, wo auch immer ich bin.“
Inesa
Pleskacheuskaya ist Leiterin des Beijinger Büros der staatlichen weißrussischen
Zeitung Belarus Today und des staatlichen TV-Senders ONT.

