September 2004
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Zum Tanzen geboren

Von Inesa Pleskacheuskay

In der Londoner Premiere von Bravo China! sah ich sie das erste Mal. Sie tanzte Die Seele des Pfaues, und es schien mir, als tanze vor mir keine Künstlerin, sondern ein Vogel, ein anmutiger Pfau mit elegantem kleinem Kopf und stolzem Gang. Vier Jahre später traf ich Yang Liping, die wohl berühmteste Volkstänzerin Chinas, persönlich. Sie gehört der nationalen Minderheit der Bai an, die in der südlichen Provinz Yunnan lebt.

Yang Liping ist eine lebende Legende. Heute 46, hatte sie keine formale Ausbildung, aber ihr Talent zum Tanzen war seit der Kindheit unübersehbar. Mit 12 wurde sie eingeladen, dem professionellen Ensemble für Gesang und Tanz beizutreten.

„Ich stamme aus der Volksgruppe der Bai, und wir alle sind zum Singen und Tanzen geboren. Wir tanzen zur Erntezeit, wir tanzen auf Hochzeitsfeiern, und wir tanzen auf Beerdigungen. Tanzen ist Teil unseres täglichen Lebens. Es ist ganz und gar natürlich, und kann nicht erlernt werden.“

1986 wurde Yang Liping über Nacht zur Sensation mit dem Tanz, der mich so beeindruckt hat, Die Seele des Pfaues. Wie oft hat sie ihn seitdem aufgeführt? Sie hat aufgehört, zu zählen. Aber sie versucht, jeder Aufführung etwas Neues – eine leichte Bewegung oder eine Drehung des Kopfes – hinzuzufügen und damit jede von den übrigen zu unterscheiden.

Woher nimmt sie ihre Inspiration?

„Körperbewegungen können aus der bäuerlichen Arbeit stammen, wie dem Umsetzen von Reissetzlingen, oder dem Drehen eines Mühlsteins; sie folgen auch allem in der Natur: Wolken, einem Baum, schwimmenden Fischen.“

Von einem Augenblick auf den nächsten kann Yang Liping sich in einen Baum verwandeln, in einen Fisch, oder sogar in ein nächtliches Licht. Ihr Mondlicht-Tanz zeigt sie als Silhouette gegen den Mond und beginnt mit dem Flug von Vögeln. Ich konnte es kaum glauben, als ich sah, wie sie einen ganzen Schwarm Vögel im Flug, einen emporwachsenden Baum, einen Fisch, der in einen Teich springt, mit ihren bloßen Händen erschuf. Die zierliche Bai-Tänzerin setzt auch ihre eigene Interpretation Ewiger Weiblichkeit spielerisch um.

„Die Frau ist flüchtig, ebenso wie der Mond; sie erscheint wirklich, doch ist dies nur Illusion – sie ist ungreifbar.“

Yang Lipings wichtigstes Ziel ist es, die Traditionen ihrer eigenen und anderer nationaler Minderheiten in Yunnan zu erhalten. Auf dem Weg in die Modernität verlieren Länder und Menschen allzu oft ihre Eigenart. Wie sie sagt, stirbt das immaterielle Erbe oft als erstes. Deshalb verbrachte sie die vergangenen drei Jahre als künstlerische Leiterin, Chefchoreographin und Solistin der Galashow Dynamisches Yunnan, eines Schaufensters für Lieder, Tänze und Traditionen der Bai.

Um die Aufführung so lebensnah wie möglich zu gestalten, hat sie 60 Bauern dazu eingeladen, ihrem Team von Berufstänzern beizutreten.

„Alles, was auf der Bühne geschieht, entstammt dem richtigen Leben. Praktisch jede Bewegung ist aus ganz alltäglichen Verrichtungen entstanden. Die meisten Kostüme, Musikinstrumente und zeremoniellen Requisiten sind echt, selbst die Gebetssteine aus Tibet. Deshalb spielt der Künstler deren Gewicht nicht vor, er wird tatsächlich gebeugt von der Last dieser Steine.“

Yang Liping ist fest davon überzeugt, dass ein Berufstänzer niemals die unverfälschte Dynamik dieser Bauern entfalten könne, sie gibt ein unbestreitbares Beispiel mit dem fünfjährigen A Bu, einem Jungen aus der Volksgruppe der Wa. Er ist der jüngste Darsteller der Show, und zeigt ein eindrucksvolles Trommelsolo. Sein junges Alter verbietet es ihm, Gastauftritte zu geben, weshalb seine Rolle in Kunming, der Provinzhauptstadt von Yunnan, neu besetzt werden musste. „Alle Jungen kamen in Begleitung ihrer Eltern“, sagt Yang Liping, „eine der Mütter wartete an der Tür auf ihren Sohn, und hielt dabei einen Hamburger und ein Getränk von McDonalds. Ich ließ die Jungen die Trommel schlagen, aber keiner konnte so überzeugend spielen wie A Bu. Ich glaube nicht, dass ein Kind, das mit McDonalds großgeworden ist, jemals seinen Platz einnehmen könnte. Also mussten wir ihn zurückbekommen – der Show würde ohne ihn wirklich etwas fehlen.“

Bauern kamen aus verschiedenen Gründen in die Show, erklärt Yang Liping: „Die jüngere Generation in den Bergdörfern war bereits modernen kulturellen Einflüssen ausgesetzt. Heute ziehen sie Jeans und Nike-Schuhe ihren farbenfrohen traditionellen Gewändern vor. Trotzdem führen sie ein einfaches und ehrliches Leben, wie bereits Generationen vor ihnen. Warum reisen sie mit der Show? Einige kamen, um die Welt ausserhalb ihrer Dörfer zu sehen, und einige nur zum Spaß. Eines der Mädchen, A Xiu, kam, um Geld zu verdienen und damit ihre Familie beim Kauf von Rindern zu unterstützen. Sie muss 400 Yuan verdienen, was ein guter Grund ist, unserer Truppe beizutreten.“

Authentizität hat ihren Preis. Yang Liping hat drei Jahre auf Reisen in die entlegensten Winkel von Yunnan verbracht, um Material für die Aufführung zu sammeln. Sie legte 200 000 km zurück und verkaufte ihr Haus, um die Show zu finanzieren. „Den Verkauf eines Hauses nehme ich nicht so wichtig. Ich habe ein paar Häuser in Dali und Beijing, und eines davon zu verkaufen, hieße nicht, dass ich keinen Platz zum Wohnen hätte. Es ist eine Investition. Ich investiere, um zu tanzen. Das ist es, was ich liebe.“

Um die Shows zu finanzieren, hat Yang auch Fernsehspots gedreht. Einige davon – vor allem einer für eine berühmte Spirituosenmarke – wurden häufig kritisiert. Sie erklärt: „Auf diese Weise gewinne ich Geld für das Tanzen. Ich finde nicht, dass daran Falsches ist. Ich bin ein pragmatischer Mensch, und wir leben in einer kommerziellen Welt. Ich verhandle mit Sponsoren, und tue, was ich kann, um ihre Unterstützung für die Show zu erreichen. Ich bin unabhängig und versuche, ein glückliches Leben zu führen. Aber ich werde nicht und würde niemals auftreten, ohne in der Stimmung dazu zu sein.“

In China erregte die Aufführung von Dynamisches Yunnan einiges Aufsehen. Aus der Sicht eines chinesischen Publikums sind ihre neuen Lieder und Tänze wegen der enthaltenen Darstellungen von Sinnlichkeit umstritten, obgleich sie aus europäischer Sichtweise ziemlich unschuldig sind. Menschen der Provinz Yunnan sind echte Kinder der Natur, was auch in der Aufführung zum Ausdruck kommt. In manchen Shows werden die Paarungen von Libellen und Schmetterlingen imitiert, und Zuschauer waren geschockt von amourösen Pas de deux zwischen jungen Menschen verschiedenen Geschlechts, nach welchen, nur natürlich, die Geburt eines Kindes nachgestellt wurde. Die chinesischen Medien haben Yang Liping wegen derartiger Übertretungen scharf kritisiert. Ihre Antwort: „Dies macht einen wesentlichen Teil im Leben der Menschen aus.“ brachte die Kritiker zum Schweigen.

Kann man ihren Erfolg ihrem persönlichen Charme zuschreiben? Als Antwort offenbart sie: „Tanzen ist nicht einfach nur mein Beruf. Die Bai nennen jemanden wie mich Bimo, die Hexe mit der Gabe des Tanzes. Als ich sehr, sehr jung war, erzählte mir meine Großmutter, dass Singen und Tanzen unsere Art zu leben und uns auszudrücken seien. Die Bimo spricht mit den Göttern, und vermittelt zwischen Himmel und Erde. Meine Großmutter ist selbst ein Beispiel dafür. Als mein Großvater starb, sang sie drei Tage und drei Nächte lang, von seinem Leben und ihrer Liebe, und um seinen Tod zu beklagen.“

Yang Liping sagt, Tanzen liege ihr im Blut. Der Tag, an dem sie sich von öffentlichen Auftritten zurückzieht, wird irgendwann einmal kommen, aber das bedeutet nicht, dass sie zu tanzen aufhören würde. „Selbst wenn ich eines Tages aufhören muss, auf der Bühne zu tanzen, werde ich auch weiterhin Tag für Tag tanzen, wo auch immer ich bin.“

Inesa Pleskacheuskaya ist Leiterin des Beijinger Büros der staatlichen weißrussischen Zeitung Belarus Today und des staatlichen TV-Senders ONT.

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