Juni 2004
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Über die traditionelle chinesische Malerei

Von Guo Yizong

Die traditionelle chinesische Malerei ist für ihre lange Geschichte, ihren charakteristischen Stil und ihre starke Volkstümlichkeit weltbekannt. Manche glauben, dass sie sich nur durch das verwendete Material von den anderen Gattungen der Malerei unterscheidet. Das ist aber nicht der Fall. Der Unterschied liegt nicht nur in Pinsel und Farben, sondern vielmehr in der Maltechnik, Theorie und Ästhetik.

Die traditionelle chinesische Malerei ist nach der Maltechnik in zwei Gruppen gegliedert: Xieyi (skizzenhafte Tuschmalerei) und Gongbi (feine Detailmalerei). Man kann sie auch nach dem dargestellten Motiv unterteilen in Porträt-, Landschafts-, Blumen- und Vogelmalerei usw.

In der tausendjährigen Praxis entwickelte sich die chinesische Malerei zu einer Kunst mit verschiedenen Malstilen und –richtungen, die nichtsdestoweniger gemeinsame Charakteristiken beibehielten.

Den Sinn einer Sache darstellen

Die Malerei Chinas entwickelte sich auf der Grundlage der naturgetreuen Darstellung. Doch vor mehr als tausend Jahren schon gaben sich die chinesischen Maler nicht mehr mit der bloß naturgetreuen Darstellung zufrieden. Gu Kaizhi, ein Maler der Östlichen Jin-Dynastie (317–420), stellte die „Theorie der Darstellung des Sinns“ auf, gemäß der die Stimmung des Dargestellten und das Gefühl des Malers in jeder gegenständlichen Darstellung zum Ausdruck kommen sollen. So erklärt sich der dialektische Zusammenhang zwischen Form- und Stimmungsgebung in der chinesischen Malerei. Im 5. Jh. stellte Xie He die „sechs Kriterien“ auf, die einen großen Einfluss auf das Schaffen und Beurteilen der traditionellen Malerei ausübten. Dem ersten Kriterium zufolge sollen die Bilder voller Stimmung, Gefühl und Lebhaftigkeit sein. Erst das dritte fordert, dass die Bilder naturgetreu seien. Bei der chinesischen Malerei wird nämlich größerer Wert auf die Stimmungsgebung als auf die Formgebung gelegt. Später entstanden weitere Theorien, die sich mit der „nicht ganz ähnlichen Stimmungsgebung“, „dem zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit Befindlichen“ u. a. auseinandersetzten. Diese Ansichten über die Formgebung sind ganz verschieden von denen der westlichen Malerei vor dem späteren Impressionismus, wo die naturgetreue Darstellung für das wichtigste gehalten wurde. Für die chinesische Malerei waren Proportion, Perspektive, Anatomie und Licht nicht ausschlaggebend. Manche glauben, dass sie unwissenschaftlich und rückständig sei, weil Schatten- und Helligkeitseffekten keine große Aufmerksamkeit geschenkt und die übliche Perspektivelehre nicht angewandt wird. Das ist aber ein Missverständnis. Denn die chinesische Malerei fußt auf einer ausgereiften Kunsttheorie, deren Anziehungskraft sich bewährt hat. Eine Figur, die von einem erfahrenen Maler schöpferisch gestaltet wird, ist keine „natürliche“ Gestalt, sondern eben eine dargestellte, die der Maler nach eingehendem Studium mit großer Kunstfertigkeit geschaffen hat.

„Schweifenden Denkens das Schöne treffen“ ist eine andere Theorie des Schöpferischen in der chinesischen Malerei. Man versucht, die natürliche Schönheit mit dem subjektiven Bewusstsein bildlich zu verschmelzen, wobei letzteres hervorgehoben wird. Man kann malen, was man sieht, was man weiß und was man denkt. Die chinesische Malerei zeichnet sich durch hohe Essentialität und bewusst übertriebene Formgebung aus. Beim Malen soll der Künstler aufgrund genauer Beobachtung alles, was für das Bild unnötig ist, weglassen, das Wesentliche aber hervorheben. Eine fliegende Figur kann auf verschiedene Weise dargestellt werden: In der westlichen Malerei hat der Engel zwei Flügel; in der chinesischen Malerei sitzt die Göttin nur auf einer Wolke, und in der Wandmalerei von Dunhuang deutet bloß ein wehendes Band an, dass die Fee durch die Luft schwebt.

Auf der Grundlage dieser Theorien haben die Maler einen großen Spielraum für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Man geht von der Wirklichkeit aus, hält sich aber nicht an die Beschränkungen der Natur; man drückt sein subjektives Bewusstsein aus, löst sich aber nicht von der Wirklichkeit. Die Maler streben immer danach, ihre Eindrücke, ihr Ideal und Gefühl auszudrücken. Deshalb wird der Stil jedes Malers von seiner Individualität geprägt.

Perspektive ohne Brennpunkt

Im Gegensatz zur westlichen Malerei, bei der die Perspektive auf einen Brennpunkt zielt, unterliegt die chinesische Malerei in der Komposition nicht den Beschränkungen von Zeit und Raum. Der zehntausend Li lange Yangtse kann in einem Bild dargestellt werden. In der Landschaftsmalerei kann man die Szenen vor und hinter dem Berg, inner- und außerhalb eines Hauses, je nachdem wie es die bildliche Aussage verlangt, wiedergeben. Sehr oft wird die Landschaft aus der Vogelperspektive dargestellt. Senkrechter Bildverlauf kennzeichnet die Hängerolle, horizontaler die Querrolle. Erfolgt die Bewegung sowohl vertikal wie horizontal, können szenenreiche Bildreihen entstehen. Die Bildrolle „Nachtgelage bei Han Xizai“ von Gu Hongzhong, einem Maler der Fünf Dynastien (907–960), schildert z. B. mehrere Ereignisse. Die Hauptfigur Han Xizai erscheint fünf Male in dieser Bildrolle.

Warum halten sich die chinesischen Maler nicht streng an die Perspektive? Sie meinen, dass der künstlerische Ausdruck dadurch beschränkt würde. Besonders bei der Landschaftsmalerei kann man – wenn man sich streng an die Perspektivlehre hält – Szenen aus verschiedenen Abständen nicht in einem Bild wiedergeben. Deshalb bedienen die chinesischen Maler sich der Methode des wandernden Gesichtspunktes. Sie kommt direkt aus der alltäglichen Erfahrung. Beim Bergsteigen wandert der Gesichtspunkt des Bergsteigers mit ihm mit – und genau so wird auch gemalt. So können in einem Bild neben Felsen, Schluchten und Gipfeln auch Wohnhäuser mit Höfen, Menschen und Pferdewagen gesetzt werden, wodurch der Betrachter förmlich in das Bild hineingezogen wird.

Der Strich: ein scharfes Instrument

Die Kalligraphie wird gerne als „Kunst des Striches“ bezeichnet. Auch die chinesische Malerei ist ohne den Strich nicht denkbar. Es werden sogar spezielle Pinsel für bestimmte Stricharten angefertigt. Chinesische Maler verstehen es, durch ihre Pinselführung auf dem Reispapier verschiedenste Punkte und Striche zu setzen. Der Strich ist nicht nur eine Linie zur Umrissgestaltung und ein Mittel der Formgebung, sondern auch ein Symbol für das Gefühl des Malers, oder besser gesagt, ein Protokoll seiner Gefühlsbewegungen.

Wie in der chinesischen Kalligraphie werden auch in der Malerei die Pinselstriche „geschrieben“. Beim „Schreiben“ legt man großen Wert auf die Schönheit der Pinselstriche, natürlich auch auf die Schönheit der dargestellten Figur. Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Pinselstriche – eckig oder rund, schwer oder leicht, hart oder weich, dick oder schmal, trocken oder feucht – entsteht die typisch chinesische Malmelodik und –rhythmik. Man unterscheidet Haken, Hauen, Punktieren, Färben und Wischen. Der Pinsel soll nicht schlaff, sondern kräftig und locker, nicht stockend, sondern fließend und schwungvoll geführt werden.

Verbindung verschiedener Künste

Ein weiteres Charakteristikum ist, dass die chinesische Malerei sich oft mit der Dichtkunst, der Kalligraphie und Siegelschneidekunst zu einem Gesamtbild verbindet. Viele berühmte Maler waren gleichzeitig Dichter und Kalligraphen. Poesie als nichtbildliche Malerei, und Malerei als Bild gewordenes Gedicht. Deshalb gilt für die chinesische Malerei seit langem: „Das Gedicht muss anschaulich sein, und das Bild poetisch.“ Eine chinesische Malerei ist stets mit einer Kalligraphie und Siegeln des Malers versehen, die das Bild ergänzen, ästhetisch abrunden und die inhaltliche Aussage erläutern. Dem Betrachter bietet sich ein Gesamtkunstwerk.

Dank ihrer stark ausgeprägten Eigenart nimmt die traditionelle chinesische Malerei einen bedeutenden Platz in der Weltkunst ein. Sie wird mit der Entwicklung des Kulturaustausches zwischen Ost und West ausländische Einflüsse aufnehmen und so ihre charakteristische Stilsprache bereichern und weiterentwickeln.

Aus „China im Aufbau“, Nr. 3, 1983

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