Über
die traditionelle chinesische Malerei
Von
Guo Yizong

Die
traditionelle chinesische Malerei ist für ihre lange Geschichte,
ihren charakteristischen Stil und ihre starke Volkstümlichkeit
weltbekannt. Manche glauben, dass sie sich nur durch das verwendete
Material von den anderen Gattungen der Malerei unterscheidet.
Das ist aber nicht der Fall. Der Unterschied liegt nicht nur
in Pinsel und Farben, sondern vielmehr in der Maltechnik,
Theorie und Ästhetik.
Die
traditionelle chinesische Malerei ist nach der Maltechnik
in zwei Gruppen gegliedert: Xieyi (skizzenhafte Tuschmalerei)
und Gongbi (feine Detailmalerei). Man kann sie auch
nach dem dargestellten Motiv unterteilen in Porträt-,
Landschafts-, Blumen- und Vogelmalerei usw.
In
der tausendjährigen Praxis entwickelte sich die chinesische
Malerei zu einer Kunst mit verschiedenen Malstilen und –richtungen,
die nichtsdestoweniger gemeinsame Charakteristiken beibehielten.
Den
Sinn einer Sache darstellen
Die
Malerei Chinas entwickelte sich auf der Grundlage der naturgetreuen
Darstellung. Doch vor mehr als tausend Jahren schon gaben
sich die chinesischen Maler nicht mehr mit der bloß
naturgetreuen Darstellung zufrieden. Gu Kaizhi, ein Maler
der Östlichen Jin-Dynastie (317–420), stellte die „Theorie
der Darstellung des Sinns“ auf, gemäß der die Stimmung
des Dargestellten und das Gefühl des Malers in jeder gegenständlichen
Darstellung zum Ausdruck kommen sollen. So erklärt sich
der dialektische Zusammenhang zwischen Form- und Stimmungsgebung
in der chinesischen Malerei. Im 5. Jh. stellte Xie He die
„sechs Kriterien“ auf, die einen großen Einfluss auf
das Schaffen und Beurteilen der traditionellen Malerei ausübten.
Dem ersten Kriterium zufolge sollen die Bilder voller Stimmung,
Gefühl und Lebhaftigkeit sein. Erst das dritte fordert, dass
die Bilder naturgetreu seien. Bei der chinesischen Malerei
wird nämlich größerer Wert auf die Stimmungsgebung
als auf die Formgebung gelegt. Später entstanden weitere
Theorien, die sich mit der „nicht ganz ähnlichen Stimmungsgebung“,
„dem zwischen Ähnlichkeit und Unähnlichkeit Befindlichen“
u. a. auseinandersetzten. Diese Ansichten über die Formgebung
sind ganz verschieden von denen der westlichen Malerei vor
dem späteren Impressionismus, wo die naturgetreue Darstellung
für das wichtigste gehalten wurde. Für die chinesische Malerei
waren Proportion, Perspektive, Anatomie und Licht nicht ausschlaggebend.
Manche glauben, dass sie unwissenschaftlich und rückständig
sei, weil Schatten- und Helligkeitseffekten keine große
Aufmerksamkeit geschenkt und die übliche Perspektivelehre
nicht angewandt wird. Das ist aber ein Missverständnis.
Denn die chinesische Malerei fußt auf einer ausgereiften
Kunsttheorie, deren Anziehungskraft sich bewährt hat.
Eine Figur, die von einem erfahrenen Maler schöpferisch
gestaltet wird, ist keine „natürliche“ Gestalt, sondern eben
eine dargestellte, die der Maler nach eingehendem Studium
mit großer Kunstfertigkeit geschaffen hat.
„Schweifenden
Denkens das Schöne treffen“ ist eine andere Theorie des
Schöpferischen in der chinesischen Malerei. Man versucht,
die natürliche Schönheit mit dem subjektiven Bewusstsein
bildlich zu verschmelzen, wobei letzteres hervorgehoben wird.
Man kann malen, was man sieht, was man weiß und was
man denkt. Die chinesische Malerei zeichnet sich durch hohe
Essentialität und bewusst übertriebene Formgebung aus.
Beim Malen soll der Künstler aufgrund genauer Beobachtung
alles, was für das Bild unnötig ist, weglassen, das Wesentliche
aber hervorheben. Eine fliegende Figur kann auf verschiedene
Weise dargestellt werden: In der westlichen Malerei hat der
Engel zwei Flügel; in der chinesischen Malerei sitzt die Göttin
nur auf einer Wolke, und in der Wandmalerei von Dunhuang deutet
bloß ein wehendes Band an, dass die Fee durch die Luft
schwebt.
Auf
der Grundlage dieser Theorien haben die Maler einen großen
Spielraum für die Entfaltung ihrer Fähigkeiten. Man geht
von der Wirklichkeit aus, hält sich aber nicht an die
Beschränkungen der Natur; man drückt sein subjektives
Bewusstsein aus, löst sich aber nicht von der Wirklichkeit.
Die Maler streben immer danach, ihre Eindrücke, ihr Ideal
und Gefühl auszudrücken. Deshalb wird der Stil jedes Malers
von seiner Individualität geprägt.
Perspektive
ohne Brennpunkt
Im
Gegensatz zur westlichen Malerei, bei der die Perspektive
auf einen Brennpunkt zielt, unterliegt die chinesische Malerei
in der Komposition nicht den Beschränkungen von Zeit
und Raum. Der zehntausend Li lange Yangtse kann in einem Bild
dargestellt werden. In der Landschaftsmalerei kann man die
Szenen vor und hinter dem Berg, inner- und außerhalb
eines Hauses, je nachdem wie es die bildliche Aussage verlangt,
wiedergeben. Sehr oft wird die Landschaft aus der Vogelperspektive
dargestellt. Senkrechter Bildverlauf kennzeichnet die Hängerolle,
horizontaler die Querrolle. Erfolgt die Bewegung sowohl vertikal
wie horizontal, können szenenreiche Bildreihen entstehen.
Die Bildrolle „Nachtgelage bei Han Xizai“ von Gu Hongzhong,
einem Maler der Fünf Dynastien (907–960), schildert z. B.
mehrere Ereignisse. Die Hauptfigur Han Xizai erscheint fünf
Male in dieser Bildrolle.
Warum
halten sich die chinesischen Maler nicht streng an die Perspektive?
Sie meinen, dass der künstlerische Ausdruck dadurch beschränkt
würde. Besonders bei der Landschaftsmalerei kann man – wenn
man sich streng an die Perspektivlehre hält – Szenen
aus verschiedenen Abständen nicht in einem Bild wiedergeben.
Deshalb bedienen die chinesischen Maler sich der Methode des
wandernden Gesichtspunktes. Sie kommt direkt aus der alltäglichen
Erfahrung. Beim Bergsteigen wandert der Gesichtspunkt des
Bergsteigers mit ihm mit – und genau so wird auch gemalt.
So können in einem Bild neben Felsen, Schluchten und
Gipfeln auch Wohnhäuser mit Höfen, Menschen und
Pferdewagen gesetzt werden, wodurch der Betrachter förmlich
in das Bild hineingezogen wird.
Der
Strich: ein scharfes Instrument
Die
Kalligraphie wird gerne als „Kunst des Striches“ bezeichnet.
Auch die chinesische Malerei ist ohne den Strich nicht denkbar.
Es werden sogar spezielle Pinsel für bestimmte Stricharten
angefertigt. Chinesische Maler verstehen es, durch ihre Pinselführung
auf dem Reispapier verschiedenste Punkte und Striche zu setzen.
Der Strich ist nicht nur eine Linie zur Umrissgestaltung und
ein Mittel der Formgebung, sondern auch ein Symbol für das
Gefühl des Malers, oder besser gesagt, ein Protokoll seiner
Gefühlsbewegungen.
Wie
in der chinesischen Kalligraphie werden auch in der Malerei
die Pinselstriche „geschrieben“. Beim „Schreiben“ legt man
großen Wert auf die Schönheit der Pinselstriche,
natürlich auch auf die Schönheit der dargestellten Figur.
Aus dem Zusammenspiel der verschiedenen Pinselstriche – eckig
oder rund, schwer oder leicht, hart oder weich, dick oder
schmal, trocken oder feucht – entsteht die typisch chinesische
Malmelodik und –rhythmik. Man unterscheidet Haken, Hauen,
Punktieren, Färben und Wischen. Der Pinsel soll nicht
schlaff, sondern kräftig und locker, nicht stockend,
sondern fließend und schwungvoll geführt werden.
Verbindung
verschiedener Künste
Ein
weiteres Charakteristikum ist, dass die chinesische Malerei
sich oft mit der Dichtkunst, der Kalligraphie und Siegelschneidekunst
zu einem Gesamtbild verbindet. Viele berühmte Maler waren
gleichzeitig Dichter und Kalligraphen. Poesie als nichtbildliche
Malerei, und Malerei als Bild gewordenes Gedicht. Deshalb
gilt für die chinesische Malerei seit langem: „Das Gedicht
muss anschaulich sein, und das Bild poetisch.“ Eine chinesische
Malerei ist stets mit einer Kalligraphie und Siegeln des Malers
versehen, die das Bild ergänzen, ästhetisch abrunden
und die inhaltliche Aussage erläutern. Dem Betrachter
bietet sich ein Gesamtkunstwerk.
Dank
ihrer stark ausgeprägten Eigenart nimmt die traditionelle
chinesische Malerei einen bedeutenden Platz in der Weltkunst
ein. Sie wird mit der Entwicklung des Kulturaustausches zwischen
Ost und West ausländische Einflüsse aufnehmen und so
ihre charakteristische Stilsprache bereichern und weiterentwickeln.
Aus
„China im Aufbau“, Nr. 3, 1983