März 2004
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„Freunde der Esel“

– mit dem Rucksack durch China

Von Yuan Ye

Eigentlich sollte man diese Naturliebhaber, die es am Wochenende in die Berge, hinaus aus der Stadt zieht, „Freunde der Rucksackreisenden“ nennen. Doch weil „Reisen“, aber auch „Reisegefährte“ (lüyou) auf Chinesisch ähnlich klingen wie „Freunde der Esel“, wurde dies zu ihrem Spitznamen.

Niemand weiß, wo das Phänomen der Rucksackreisenden seinen Anfang nahm, und doch geben sich mittlerweile Zehntausende dieser naturnahen Tätigkeit hin. Auf der Flucht vor den Beton- und Stahllandschaften der Städte pflegen sie Individualismus und Unabhängigkeit, heißen aber Mitreisende willkommen und bieten ihnen ihre Hilfe an. Rucksackreisende in China sind nicht notwendigerweise jung oder wohlhabend – viele sind mittellose Studenten, die mit einem sehr kleinen Budget reisen, andere sind Eltern mittleren Alters oder gar Rentner. Sie begeben sich an abgelegene Orte, um monatelang zu wandern, nutzen Urlaubstage für eine Reise und suchen am Wochenende schöne Orte in der näheren Umgebung der Stadt auf, immer dazu bereit, neue Pfade zu erkunden. Was als kleine Gruppe Gleichgesinnter begann, hat sich ins Internet ausgebreitet, wo sich bereits große Gemeinden, Clubs und Organisationen gebildet haben.

Eselsfreundschaften online

Lvye (lüye ausgesprochen), „Grünes Feld“, ist eine der größten Online-Gemeinschaften von Rucksackreisenden in China und zählt über 70 000 Mitglieder. Einige chinesische Rucksackpioniere gründeten 1998 die Website, um Informationen weiterzugeben, Freunde kennen zu lernen und Erfahrungen auszutauschen. Das Vorhaben war nicht gewinnorientiert, sondern entsprang idealistischen Vorstellungen über das Rucksackreisen.

Lvye betreibt zwei Websites, www.lvye.org und www.lvye.info, auf denen man Hinweise zu Fernreisen, Wandern in stadtnahen Gebieten und Freizeitaktivitäten findet, aber auch Reisetagebücher, ein Fotoalbum und Verkaufsinserate für Ausrüstung. Jeder kann sich eintragen und einen Newsletter abonnieren, Fotos aufladen oder in Foren mit anderen Nutzern Informationen und Erfahrungen besprechen. Mittlerweile gibt es sogar eine Lvye-Theatergruppe, und an Feiertagen veranstalten die Mitglieder große Partys.

Ein glückliches Leben

Der erste Schritt: ein Geburtstagsfest

Ein Freund, der seit über einem Jahr Mitglied bei Lvye war, lud mich an einem Freitagabend zu einem Geburtstagsfest in einer Karaoke-Bar ein. Die Gäste erschienen mit Geschenken und nannten sich beim Spitznamen, den sie im Internet benutzen. Der Raum war von Wärme und Gemütlichkeit erfüllt, als wir Lieder sangen und uns unterhielten.

Der zweite Schritt: Wandern außerhalb der Stadt

Ich meldete mich auf Lvye an und nahm an einem Samstag an einer Wanderung außerhalb der Stadt teil. An jenem Morgen stand ich um sechs auf, traf um sieben am Treffpunkt ein und nahm dann mit den 17 anderen Mitreisenden einen Bus zum Fuß des Xiangshan, des „Duftenden Bergs“, am westlichen Stadtrand von Beijing. Dort begann unsere siebenstündige Wanderung.

Unsere Gruppe legte insgesamt 25 km zurück. Wir plauderten und lachten unterwegs und halfen einander, schwierige Stellen zu überwinden. Als wir unser Ziel erreichten, waren sich alle näher gekommen – und hatten mächtig Hunger. Wir bestiegen einen Bus zurück in die Stadt und schwelgten in einem zweistündigen Gelage.

Der dritte Schritt: gratis Ski fahren

Ich lernte Mini auf lvye.org kennen. Als sie mir über SMS mitteilte, dass ein Skiausflug stattfinde, der nur 50 Yuan für Bus und Eintritt koste, sagte ich sofort zu. Wir fuhren zu zehnt hin. Da ich aus dem Süden des Landes stamme, war es das erste Mal, dass ich auf Skis stand. Obwohl ich unzählige Male hinfiel, wurde es ein äußerst vergnüglicher Tag.

Ein Tag Wandern in Xinjiang

In seinem Reisetagebuch zitiert Yuan Feng, der zurzeit an der Beijing Foreign Studies University Englisch und Journalismus studiert, den italienischen Ethnologen und Abenteurer Fosco Mariani: „Das einzig wahre Reisen ist dort, wo unbekannte Tafeln den Weg weisen und wo die neuen Welten, die du erblickst, Seiten deines Selbst zum Vorschein bringen, von denen du nicht einmal wusstest, dass es sie gibt.“

Im letzten Sommer unternahm Yuan Feng im Autonomen Gebiet Xinjiang allein eine fast 40-tägige Reise über 8000 km. Er bewegte sich zu Fuß oder per Anhalter und knipste über 3000 Bilder – und das Ganze kostete ihn nicht mehr als 5000 Yuan (ca. 700 US-Dollar). Wenn er sich nicht seinem Studium widmet, arbeitet er Teilzeit, um Geld für eine lange Reise in Tibet zu sparen, die er diesen Sommer unternehmen will.

Nachfolgend sind Auszüge aus fünf Einträgen seines Reisetagebuchs abgedruckt, in denen er über das Reisen in Hemu, Xinjiang, berichtet.

2. Tag, 15. August

Über 10 Std. gewandert (35–38 km)

Übernachtung in einer Hütte, 7 km von Hemu entfernt

Als erstes drang das Gurgeln des Wassers an mein Ohr, als ich erwachte. Ich kroch aus dem Zelt und starrte ganz gebannt auf das reine Blau des Himmels, das leuchtend grüne Gras und den smaragden Bach. Dann weckte ich meinen Reisegefährten im Zelt nebenan und wir genossen einen gemütlichen Morgen.

Um 12.30 Uhr gingen wir los. Kaum waren wir in Bewegung, spürte ich die Last meines 37 kg schweren Gepäcks: Neben meinem Schlafsack, einem Zelt, Proviant und 4,5 Liter Wasser trug ich auch zwei Spiegelreflexkameras, fünf Objektive und ein Stativ.

Eineinhalb Stunden später traf das Tal, dem wir folgten, im rechten Winkel auf den rasch dahin fließenden Hemu-Fluss. Hier spannte sich eine Stahlbrücke über das Wasser. Wir trafen einige Straßenarbeiter, die uns sagten, das Dorf Hemu sei noch mindestens 38 km entfernt, worauf wir eine Viertelstunde Rast einlegten, bevor wir weitergingen.

Wir stiegen auf grüne Hügel und durchwanderten kleine Täler, und während der ganzen Zeit hörten wir nichts als das Knirschen unserer Schuhe auf dem Kies und das metallische Klappern unserer Gehstöcke. Die Blasen an meinen Füßen schmerzten mit jedem Schritt mehr.

„Rhythmus ist alles, Rhythmus und Tempo“, sagte ich mir immer wieder und atmete tief durch.

Ich schwitzte unter dem Gewicht meines überladenen Rucksacks. Anfangs legten wir jede Stunde eine kurze Rast ein und tranken etwas. Mit der Zeit musste ich in immer kürzeren Abständen pausieren – alle 50 Minuten, alle 45, alle 40 ...

Während die Last unaufhörlich an unseren Kräften zehrte, erhielten wir Aufmunterung von Touristen, die in einem Jeep vorbeifuhren. Sie winkten, riefen uns zu und hupten.

Um 17.20 machten wir vor der Hütte eines Kasachen Halt, der uns Tee und Milch anbot. Zwei Stunden später erreichten wir ein großes Lager aus grünen Militärzelten, das Straßenarbeitern als Unterkunft diente. Ich spürte allmählich Hunger, und so nahmen wir unsere zweite Mahlzeit des Tages ein. Wir unterhielten uns während des Essens mit einigen der Arbeiter, die alle aus der Provinz Henan stammten.

Einer der Straßenarbeiter wies uns darauf hin, dass wir uns mindestens drei Kilometer sparen könnten, wenn wir eine Abkürzung über den vor uns liegenden Hügel nehmen würden, anstatt der Straße zu folgen.

„Großartig!“, schoss es aus uns heraus.

Dies war wahrscheinlich die anstrengendste Partie dieses beschwerlichen Tages: Mein Rucksack zerrte an meinen Schultern nach unten, während wir uns durch das unwegsame Gelände auf dem Hügel kämpften. Meine einzigen Gedanken galten dem nächsten Schritt und meinem Gleichgewicht. Meine Waden verkrampften sich, der Rucksack wurde immer schwerer, und mein Herz schlug immer schneller. Wortlos krochen wir bergauf – zum Sprechen fehlte uns die Kraft.

Da ich zusätzlich zum Rucksack meine gesamte Fotoausrüstung zu tragen hatte, lieh mir mein Freund seine Gehstöcke. Wie sich herausstellte, war dies nicht nur eine Erleichterung, sondern ein wahrer Glücksfall, ansonsten hätte ich weit schlimmere Verletzungen davongetragen, als sich unter meinem rechten Fuß plötzlich ein Stein löste. Einem dornigen Busch auf dem Hügel hatte ich es außerdem zu verdanken, dass meine Jeans nun modisch aufgerissen war.

Als wir die Hügelkuppe erreichten und einen Pfad entdeckten, der hinunterführte, musste ich lächeln. Salziger Schweiß tropfte in meinen Mund. Mir gefiel der steile Aufstieg und ich genoss den Rhythmus, den meine Beine, mein Herz und meine Lunge schlugen. Die Anstrengung ersparte uns mindestens eine Stunde, und der einzige Preis dafür war neben dem Schmerz in meinem rechten Fußgelenk die zerschlissene Hose.

Es war 21.50. Mit dem Einbruch der Dunkelheit fielen die Temperaturen. Wir waren am Ende unserer Kräfte, hinkten langsam dahin unter der Last unserer Rucksäcke. Die wahren Probleme setzten erst ein, als die Sonne unterging und wir keinen Ort zum Übernachten fanden. Es gab im dicht bewachsenen Birkengehölz im hügeligen Gelände, durch das wir uns seit der Abkürzung über den Hügel vorarbeiteten, keinen Platz, um die Zelte aufzustellen. Uns blieb nichts anderes übrig, als weiter durch die Nacht zu gehen, bis wir ein Nachtlager fanden. Mir wurde vor Müdigkeit schwindlig. „Du darfst nicht aufgeben“, sagte ich mir. „Nicht hier, noch nicht.“ Vorsichtig setzten wir einen Fuß vor den anderen. Die Bäume knarrten im Wind, und ihre krummen Äste hingen bedrohlich über dem Pfad.

Ich knipste meine Stirnlampe an. Bald tanzte ein Mückenschwarm im Licht. Das Rascheln einer Feldmaus, die in einem Busch Deckung suchte, klang lauter als sonst und wirkte bedrohlich. Ein einsames Heulen in der Ferne wurde vom Warnschrei eines Vogels in unserer Nähe beantwortet.

Ich griff in meiner Hosentasche nach meinem Schweizer Armeemesser und umklammerte es fest. Ich trieb mich dazu an, schneller zu gehen, und vergaß dabei fast meine schmerzenden Stellen an den Füßen, die, so fürchtete ich, sich bald in Blasen verwandeln würden.

Gegen 23.30 wurden wir für unsere Anstrengungen endlich belohnt. In der Ferne machten wir ein Licht aus und hörten Hunde bellen. Ohne zu klopfen, traten wir durch die offene Tür ins Haus ein und blickten in das kantige Gesicht eines Mannes, der neben dem Ofen saß und schrieb. Er war ein Han-Chinese, gute 30 Jahre alt, und betrieb mit seiner kasachischen Frau ein Bienenhaus.

Sie boten uns heißen Tee an und wir unterhielten uns lange. So nahm unser langer Tag ein gutes Ende, und wir konnten den unerwarteten Luxus genießen, in einem Bett zu schlafen.

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