„Freunde
der Esel“
– mit dem Rucksack durch China
Von Yuan Ye


Eigentlich
sollte man diese Naturliebhaber, die es am Wochenende in
die Berge, hinaus aus der Stadt zieht, „Freunde der Rucksackreisenden“
nennen. Doch weil „Reisen“, aber auch „Reisegefährte“
(lüyou) auf Chinesisch ähnlich klingen wie „Freunde
der Esel“, wurde dies zu ihrem Spitznamen.
Niemand
weiß, wo das Phänomen der Rucksackreisenden seinen
Anfang nahm, und doch geben sich mittlerweile Zehntausende
dieser naturnahen Tätigkeit hin. Auf der Flucht vor
den Beton- und Stahllandschaften der Städte pflegen
sie Individualismus und Unabhängigkeit, heißen
aber Mitreisende willkommen und bieten ihnen ihre Hilfe
an. Rucksackreisende in China sind nicht notwendigerweise
jung oder wohlhabend – viele sind mittellose Studenten,
die mit einem sehr kleinen Budget reisen, andere sind Eltern
mittleren Alters oder gar Rentner. Sie begeben sich an abgelegene
Orte, um monatelang zu wandern, nutzen Urlaubstage für eine
Reise und suchen am Wochenende schöne Orte in der näheren
Umgebung der Stadt auf, immer dazu bereit, neue Pfade zu
erkunden. Was als kleine Gruppe Gleichgesinnter begann,
hat sich ins Internet ausgebreitet, wo sich bereits große
Gemeinden, Clubs und Organisationen gebildet haben.
Eselsfreundschaften
online
Lvye
(lüye ausgesprochen), „Grünes Feld“, ist eine der
größten Online-Gemeinschaften von Rucksackreisenden
in China und zählt über 70 000 Mitglieder. Einige chinesische
Rucksackpioniere gründeten 1998 die Website, um Informationen
weiterzugeben, Freunde kennen zu lernen und Erfahrungen
auszutauschen. Das Vorhaben war nicht gewinnorientiert,
sondern entsprang idealistischen Vorstellungen über das
Rucksackreisen.
Lvye
betreibt zwei Websites, www.lvye.org und www.lvye.info,
auf denen man Hinweise zu Fernreisen, Wandern in stadtnahen
Gebieten und Freizeitaktivitäten findet, aber auch
Reisetagebücher, ein Fotoalbum und Verkaufsinserate für
Ausrüstung. Jeder kann sich eintragen und einen Newsletter
abonnieren, Fotos aufladen oder in Foren mit anderen Nutzern
Informationen und Erfahrungen besprechen. Mittlerweile gibt
es sogar eine Lvye-Theatergruppe, und an Feiertagen veranstalten
die Mitglieder große Partys.
Ein
glückliches Leben
Der
erste Schritt: ein Geburtstagsfest
Ein
Freund, der seit über einem Jahr Mitglied bei Lvye war,
lud mich an einem Freitagabend zu einem Geburtstagsfest
in einer Karaoke-Bar ein. Die Gäste erschienen mit
Geschenken und nannten sich beim Spitznamen, den sie im
Internet benutzen. Der Raum war von Wärme und Gemütlichkeit
erfüllt, als wir Lieder sangen und uns unterhielten.
Der
zweite Schritt: Wandern außerhalb der Stadt
Ich
meldete mich auf Lvye an und nahm an einem Samstag an einer
Wanderung außerhalb der Stadt teil. An jenem Morgen
stand ich um sechs auf, traf um sieben am Treffpunkt ein
und nahm dann mit den 17 anderen Mitreisenden einen Bus
zum Fuß des Xiangshan, des „Duftenden Bergs“, am westlichen
Stadtrand von Beijing. Dort begann unsere siebenstündige
Wanderung.
Unsere
Gruppe legte insgesamt 25 km zurück. Wir plauderten und
lachten unterwegs und halfen einander, schwierige Stellen
zu überwinden. Als wir unser Ziel erreichten, waren sich
alle näher gekommen – und hatten mächtig Hunger.
Wir bestiegen einen Bus zurück in die Stadt und schwelgten
in einem zweistündigen Gelage.
Der
dritte Schritt: gratis Ski fahren
Ich
lernte Mini auf lvye.org kennen. Als sie mir über SMS mitteilte,
dass ein Skiausflug stattfinde, der nur 50 Yuan für Bus
und Eintritt koste, sagte ich sofort zu. Wir fuhren zu zehnt
hin. Da ich aus dem Süden des Landes stamme, war es das
erste Mal, dass ich auf Skis stand. Obwohl ich unzählige
Male hinfiel, wurde es ein äußerst vergnüglicher
Tag.
Ein
Tag Wandern in Xinjiang
In
seinem Reisetagebuch zitiert Yuan Feng, der zurzeit an der
Beijing Foreign Studies University Englisch und Journalismus
studiert, den italienischen Ethnologen und Abenteurer Fosco
Mariani: „Das einzig wahre Reisen ist dort, wo unbekannte
Tafeln den Weg weisen und wo die neuen Welten, die du erblickst,
Seiten deines Selbst zum Vorschein bringen, von denen du
nicht einmal wusstest, dass es sie gibt.“
Im
letzten Sommer unternahm Yuan Feng im Autonomen Gebiet Xinjiang
allein eine fast 40-tägige Reise über 8000 km. Er bewegte
sich zu Fuß oder per Anhalter und knipste über 3000
Bilder – und das Ganze kostete ihn nicht mehr als 5000 Yuan
(ca. 700 US-Dollar). Wenn er sich nicht seinem Studium widmet,
arbeitet er Teilzeit, um Geld für eine lange Reise in Tibet
zu sparen, die er diesen Sommer unternehmen will.
Nachfolgend
sind Auszüge aus fünf Einträgen seines Reisetagebuchs
abgedruckt, in denen er über das Reisen in Hemu, Xinjiang,
berichtet.
2.
Tag, 15. August
Über
10 Std. gewandert (35–38 km)
Übernachtung
in einer Hütte, 7 km von Hemu entfernt
Als
erstes drang das Gurgeln des Wassers an mein Ohr, als ich
erwachte. Ich kroch aus dem Zelt und starrte ganz gebannt
auf das reine Blau des Himmels, das leuchtend grüne Gras
und den smaragden Bach. Dann weckte ich meinen Reisegefährten
im Zelt nebenan und wir genossen einen gemütlichen Morgen.
Um
12.30 Uhr gingen wir los. Kaum waren wir in Bewegung, spürte
ich die Last meines 37 kg schweren Gepäcks: Neben meinem
Schlafsack, einem Zelt, Proviant und 4,5 Liter Wasser trug
ich auch zwei Spiegelreflexkameras, fünf Objektive und ein
Stativ.
Eineinhalb
Stunden später traf das Tal, dem wir folgten, im rechten
Winkel auf den rasch dahin fließenden Hemu-Fluss.
Hier spannte sich eine Stahlbrücke über das Wasser. Wir
trafen einige Straßenarbeiter, die uns sagten, das
Dorf Hemu sei noch mindestens 38 km entfernt, worauf wir
eine Viertelstunde Rast einlegten, bevor wir weitergingen.
Wir
stiegen auf grüne Hügel und durchwanderten kleine Täler,
und während der ganzen Zeit hörten wir nichts
als das Knirschen unserer Schuhe auf dem Kies und das metallische
Klappern unserer Gehstöcke. Die Blasen an meinen Füßen
schmerzten mit jedem Schritt mehr.
„Rhythmus
ist alles, Rhythmus und Tempo“, sagte ich mir immer wieder
und atmete tief durch.
Ich
schwitzte unter dem Gewicht meines überladenen Rucksacks.
Anfangs legten wir jede Stunde eine kurze Rast ein und tranken
etwas. Mit der Zeit musste ich in immer kürzeren Abständen
pausieren – alle 50 Minuten, alle 45, alle 40 ...
Während
die Last unaufhörlich an unseren Kräften zehrte,
erhielten wir Aufmunterung von Touristen, die in einem Jeep
vorbeifuhren. Sie winkten, riefen uns zu und hupten.
Um
17.20 machten wir vor der Hütte eines Kasachen Halt, der
uns Tee und Milch anbot. Zwei Stunden später erreichten
wir ein großes Lager aus grünen Militärzelten,
das Straßenarbeitern als Unterkunft diente. Ich spürte
allmählich Hunger, und so nahmen wir unsere zweite
Mahlzeit des Tages ein. Wir unterhielten uns während
des Essens mit einigen der Arbeiter, die alle aus der Provinz
Henan stammten.
Einer
der Straßenarbeiter wies uns darauf hin, dass wir
uns mindestens drei Kilometer sparen könnten, wenn
wir eine Abkürzung über den vor uns liegenden Hügel nehmen
würden, anstatt der Straße zu folgen.
„Großartig!“,
schoss es aus uns heraus.
Dies
war wahrscheinlich die anstrengendste Partie dieses beschwerlichen
Tages: Mein Rucksack zerrte an meinen Schultern nach unten,
während wir uns durch das unwegsame Gelände auf
dem Hügel kämpften. Meine einzigen Gedanken galten
dem nächsten Schritt und meinem Gleichgewicht. Meine
Waden verkrampften sich, der Rucksack wurde immer schwerer,
und mein Herz schlug immer schneller. Wortlos krochen wir
bergauf – zum Sprechen fehlte uns die Kraft.
Da
ich zusätzlich zum Rucksack meine gesamte Fotoausrüstung
zu tragen hatte, lieh mir mein Freund seine Gehstöcke.
Wie sich herausstellte, war dies nicht nur eine Erleichterung,
sondern ein wahrer Glücksfall, ansonsten hätte ich
weit schlimmere Verletzungen davongetragen, als sich unter
meinem rechten Fuß plötzlich ein Stein löste.
Einem dornigen Busch auf dem Hügel hatte ich es außerdem
zu verdanken, dass meine Jeans nun modisch aufgerissen war.
Als
wir die Hügelkuppe erreichten und einen Pfad entdeckten,
der hinunterführte, musste ich lächeln. Salziger Schweiß
tropfte in meinen Mund. Mir gefiel der steile Aufstieg und
ich genoss den Rhythmus, den meine Beine, mein Herz und
meine Lunge schlugen. Die Anstrengung ersparte uns mindestens
eine Stunde, und der einzige Preis dafür war neben dem Schmerz
in meinem rechten Fußgelenk die zerschlissene Hose.
Es
war 21.50. Mit dem Einbruch der Dunkelheit fielen die Temperaturen.
Wir waren am Ende unserer Kräfte, hinkten langsam dahin
unter der Last unserer Rucksäcke. Die wahren Probleme
setzten erst ein, als die Sonne unterging und wir keinen
Ort zum Übernachten fanden. Es gab im dicht bewachsenen
Birkengehölz im hügeligen Gelände, durch das wir
uns seit der Abkürzung über den Hügel vorarbeiteten, keinen
Platz, um die Zelte aufzustellen. Uns blieb nichts anderes
übrig, als weiter durch die Nacht zu gehen, bis wir ein
Nachtlager fanden. Mir wurde vor Müdigkeit schwindlig. „Du
darfst nicht aufgeben“, sagte ich mir. „Nicht hier, noch
nicht.“ Vorsichtig setzten wir einen Fuß vor den anderen.
Die Bäume knarrten im Wind, und ihre krummen Äste
hingen bedrohlich über dem Pfad.
Ich
knipste meine Stirnlampe an. Bald tanzte ein Mückenschwarm
im Licht. Das Rascheln einer Feldmaus, die in einem Busch
Deckung suchte, klang lauter als sonst und wirkte bedrohlich.
Ein einsames Heulen in der Ferne wurde vom Warnschrei eines
Vogels in unserer Nähe beantwortet.
Ich
griff in meiner Hosentasche nach meinem Schweizer Armeemesser
und umklammerte es fest. Ich trieb mich dazu an, schneller
zu gehen, und vergaß dabei fast meine schmerzenden
Stellen an den Füßen, die, so fürchtete ich, sich
bald in Blasen verwandeln würden.
Gegen
23.30 wurden wir für unsere Anstrengungen endlich belohnt.
In der Ferne machten wir ein Licht aus und hörten Hunde
bellen. Ohne zu klopfen, traten wir durch die offene Tür
ins Haus ein und blickten in das kantige Gesicht eines Mannes,
der neben dem Ofen saß und schrieb. Er war ein Han-Chinese,
gute 30 Jahre alt, und betrieb mit seiner kasachischen Frau
ein Bienenhaus.
Sie
boten uns heißen Tee an und wir unterhielten uns lange.
So nahm unser langer Tag ein gutes Ende, und wir konnten
den unerwarteten Luxus genießen, in einem Bett zu
schlafen.