Die
Yungang-Grotten
Von Wen Tianshen


In diesem
Frühjahr, als die Blumen schon in voller Blüte standen, fuhren
wir von Datong, Provinz Shanxi, ins nahe gelegene Yungang,
um die dort befindlichen berühmten buddhistischen Felsengrotten
zu besichtigen. Schon beim Näherkommen fielen uns die
vielen Höhlen verschiedener Größe ins Auge.
Sie erstrecken sich auf einer Länge von einem Kilometer
den verworfenen Südhang des Wuzhoushan entlang. In den 53
wichtigsten Höhlen befinden sich insgesamt etwa 51 000
lebendig gestaltete Buddha- und Bodhisattwa-Statuen, Plastiken
fliegender Feen und Reliefs, die religiöse Geschichten
darstellen. Täglich kommen viele chinesische und ausländische
Touristen hierher.
Die
Yungang-Grotten entstanden vor 1500 Jahren zur Zeit der Nördlichen
Wei-Dynastie (385–534). Damals war Pingcheng (heute: Datong)
die Hauptstadt dieser Dynastie. Der Buddhismus hatte sich
schon in China verbreitet. Mehrere zehntausend Handwerker
verschiedener Nationalitäten kamen auf Befehl des Kaisers
zum Wuzhoushan, um die Grotten aus dem Fels zu meißeln.
Selbst bei schneidener Kälte und sengender Hitze mußten
sie arbeiten. Ihr gigantisches Werk und ihre bildhauerische
Kunstfertigkeit sind Ausdruck des Genies unserer Ahnen. Mit
ihren Skulpturen, die zu den besten ihrer Art in China zählen,
stellen die Yungang-Grotten eine in der ganzen Welt berühmte
„Schatzkammer der Steinschneidekunst“ dar.
Mir wurde
gesagt, daß ein Teil der wertvollen Plastiken noch Risse
gehabt hatte, als der französische Staatspräsident
Georges Pompidou in Begleitung des verstorbenen Premiers Zhou
Enlai hierher zur Besichtigung gekommen war. Jetzt sind die
Ausbesserungsarbeiten bereits abgeschlossen. Einer neuen Technologie
ist es zu verdanken, daß die beschädigten Steinfiguren
nun vollkommen frei von Rissen sind.
Als
ich die fünfte Höhle betrat, sah ich eine 17 m hohe und
15,3 m breite sitzende Buddha-Statue: Ihre Füße sind
4,6 m lang und ihre Mittelfinger länger als der größte
Korbballspieler – 2,3 m groß. Eine weitere 13 m hohe
Buddha-Statue, die im Freien steht, ist so imposant, daß
viele chinesische und ausländische Touristen sie photographieren.
Die großen Augen, die hohe Nase, die dünnen Lippen,
das volle Gesicht sowie die breiten und kräftigen Schultern
charakterisieren diese Buddha-Statue als ein hervorragendes
Werk der Bildhauer im Altertum. Überdies ist erwähnenswert,
daß etwa tausend bloß zwei cm hohe Buddha-Figürchen
in die Kutte einer großen Buddha-Statue eingelassen
sind. Diese winzigen Statuetten, deren Gesichter von der langjährigen
Verwitterung schon ziemlich angegriffen sind, sind alle verschieden
voneinander gestaltet. Dort, wohin ein Tourist mit dem Finger
zeigte, sah ich eine Himmelskrieger-Statue mit fünf Köpfen
und sechs Armen in reitender Haltung auf einer Pfauenfigur.
An seinem lebhaften Ausdruck lassen sich Kraft, Mut und Treue
ablesen.
Die
Schakjamuni-Höhle, die bedeutendste Höhle in Yungang,
ist 16 m hoch. Die meisten Skulpturen und Reliefs, die in
zwei Reihen übereinander in die Wände der Grotte gemeißelt
sind, sind im typischen Stil der religiösen Kunst ihrer
Zeit ausgeführt. Unterhalb der Nischen, in denen Buddha- und
Bodhisattwa-Statuen stehen, befinden sich Reliefs über die
Jugend Schakjamunis. Dargestellt ist, wie er seine frühen
Jahre im Palast des Vaters verbrachte und dann eines Nachts
auf einem Pferde reitend seine Heimat verließ, um in
der Fremde Erlösung zu suchen.
Mir fiel
auf, daß einigen Buddha-Statuen die Köpfe fehlten
und manche Nischen sogar gänzlich leer waren. Korrupte
chinesische Beamte und Imperialisten hatten hier einst, so
wurde mir erzählt, geplündert.
Die imposante
„Schatzkammer der Steinschneidekunst“ in Yungang liefert wertvolle
Unterlagen für das Studium der Politik, Wirtschaft, Kunst
und Religion in alten Zeiten. Ein Maler aus Shanghai, den
ich in Yungang traf, war von den prächtigen Buddha-Statuen
und Reliefs von fliegenden Feen und verschiedenartigen Pavillons
so fasziniert, daß er sie voller Eifer nachmalte. Er
zeigte mir, daß Buddha-Statuen, die einander völlig
zu gleichen scheinen, in Wirklichkeit doch verschieden sind.
Besonders erwähnenswert sind die in die Wände eingelassenen
Steinfiguren von sechs Schönheiten und einer fliegenden
Frauen-Musikkapelle. Manche Gestalten halten eine Querflöte
in der Hand, andere blasen eine Längsflöte, wieder
andere spielen auf der Pipa (einem lautenähnlichen Zupfinstrument
mit vier Saiten). Auch sie sind wunderschöne Zeugnisse
hoher Kunst. Die Reliefs sind nicht nur für Maler und Archäologen,
die die darstellende Kunst des Buddhismus erforschen, sehr
wertvoll, sondern stellen auch eine bedeutende Quelle für
das Studium der Musik in alten Zeiten dar.
Die in
Steine geschnittenen Inschriften sind heute wichtige Texte
zum Studium der Geschichte der Bildhauerkunst in Yungang.
Die Steinsäulen, achteckig oder in Form einer fünfstufigen
Pagode, und die Steindächer tragen ebenfalls sehr zur
Erforschung der Geschichte der chinesischen Architektur bei.
Das Yunganger
Denkmalamt setzte nicht nur Schutzmaßnahmen gegen Feuchtigkeit,
Wind und Regen, sondern ließ auch gepflasterte Wege
anlegen. Außerdem wurden Kiefern und Zypressen angepflanzt
sowie Pavillons, Balustraden und Wandelgänge gebaut.
Aus „China im Aufbau“, Nr. 9,
1982