Februar 2004
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Zur Entstehung und Entwicklung des Taijiquan

Ein Alchimist und Wunderheiler namens Zhang Sanfeng – so eine der vielen Legenden – soll vor etwa 800 Jahren einmal einen Traum gehabt haben, in dem ihm der legendäre Kaiser Xuan Wu das Schattenboxen beibrachte. Am nächsten Morgen machte er sich aus seiner Heimat, den Wudang-Bergen, auf und verbreitete diese wunderbare Kampfkunst unter dem Volke. Damit handelt es sich bei Taijiquan um das Geschenk einer Gottheit, das von übernatürlichen Wesen in die Welt gebracht wurde – wer’s glaubt!

Woher kommt Taijiquan nun wirklich? Nach den verfügbaren historischen Quellen entstand es gegen Ende der Ming-Dynastie in Chenjiagou in Henan. Diese Gegend hatte viel unter den Feldzügen der Mandschus zu leiden, andererseits erhoben sich auch hier die aufständischen Bauern: beides ein Grund, die Kampfkünste zu fördern. Auf der Suche nach neuen Wegen der körperlichen Auseinandersetzung mit und ohne Waffen entstand dabei eine neue Form des Boxens. Waren bisher immer schnelle Bewegungen und kräftige Schläge und Stöße bevorzugt worden, machte sich der neue Stil einige Prinzipien aus der chinesischen Philosophie zu eigen. „Das Starke und Harte wird durch das Schwache und Weiche überwunden“, „Anpassung an den Stil des anderen“, um ihn mit den eigenen Waffen zu schlagen, und „die Wucht von einer Tonne mit weinigen Unzen überwinden“ sind einige davon. Allgemein gesagt gibt es sowohl energische als auch sanfte Bewegungen, schnelle und langsame, wobei eine Bewegung der anderen in einem nicht abreißenden Fluss von Rhythmus und Harmonie folgt.

Da Taijiquan ursprünglich aus acht Grundhaltungen für die Hände und fünf Grundformen für die Körperhaltung bestand, ist es auch unter dem Namen „13 Formen“ bekannt, weiterhin auch als „Changquan“ (langes Boxen), da es dem endlosen Fließen des Yangtse gleicht, der auf Chinesisch Changjiang heißt. Wir verfügen heute noch über einige Handbücher über die „13 Formen“ und das „Changquan“, aus denen erhellt, dass diese Boxkunst große Ähnlichkeit mit der im Quanjing („Das Buch des Boxkampfs“) beschriebenen Stilrichtung aufweist. Dieses Kompendium, geschrieben von Qi Jiguang (1528-1587), einem berühmten General der Ming, berichtet über sechzehn verschiedene Boxschulen. Es lässt sich daher wohl mit einigem Recht vermuten, dass das Taijiquan verschiedene Elemente dieser Schulen zu einer neuen Einheit zusammengefügt hat und sie weiter entwickelt.

Gegen Ende des 18. Jahrhunderts faßte ein Meister der Kampfkünste namens Wang Zongyue zusammen, was dieser neue Stil hervorgebracht hatte, und kam dabei zu dem Schluss, dass eine enge Beziehung zwischen dieser neuen Schule und der Philosophie des Yin und Yang besteht. Yin ist das weibliche, dunkle und negative Prinzip in der alten chinesischen Philosophie, Yang sein Gegenteil und seine Ergänzung, es ist männlich, hell und positiv. Diese Lehre spielt in der Taiji-Philosophie (des „Uranfangs“ alles Lebendigen) eine große Rolle, weshalb Wang diesem Boxstil in seinem Buch denn auch den Namen Taijiquan gab. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich das Taijiquan von Henan aus rasch über das ganze Land zu verbreiten.

Das letzte Jahrhundert sah wiederum große Veränderungen in der Ausführung des Schattenboxens. Viele explosive und kraftbetonte Bewegungen verschwanden ebenso wie das wilde Stampfen mit den Füßen, übrig blieben entspannte, weiche und beinahe zärtliche Bewegungen, eher Schäfchenwolken als das Donnerwetter, das der Gegner vielleicht erwartete. In dieser Gestalt ist Taijiquan nicht nur Kämpfern und Sportlern zugänglich. Sondern auch Kindern, Alten und Gebrechlichen. In dieser Zeit rückte der therapeutische Wert und die gesundheitsfördernde Funktion von Taijiquan mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses.

Von den verschiedenen Schulen, die das Taijiquan selbst hervorbrachte, erwies sich die Yang-Schule bald als die beliebteste. Ihren Namen trägt sie nach Yang Chengfu (1883-1936), der diesen Stil ordnete und systematisierte. Sie zeichnet sich durch natürliche und gestreckte Posituren, langsame und gleichmäßige Bewegungen, einen stetigen Fluss des Bewegungsablaufes und einen wogendschwingenden Gesamtablauf aus. Sie trägt auch den Namen Da Jia („Große Rahmen“).

Die Schule mit der längsten Geschichte ist die Chen-Schule. Außer langsamen Bewegungen, die stets so aussehen wie ein Kampf unter Wasser, zeigt sie auch Sprünge, Hüpfer und plötzliche Ausbrüche konzentrierter Kraft. Sie trägt auch den Namen Lao Jia („Alter Rahmen“).

Ein weiterer Stil namens Zhong Jia („Mittlerer Rahmen“) oder Wu-Stil ist verwandt mit der Yang-Schule. Wie in der Chen-Schule bewegen sich die Ausführenden langsam im Kreis, wobei sie eher gemäßigte Haltungen einnehmen. Ihre leichten Bewegungen sind dafür aber um so enger verworben.

Ein weiterer Wu-Stil wurde von Hao Weizhen popularisiert, wehalb man ihn auch unter dem Namen Hao-Stil kennt. Auch er leitet sich aus dem Yang-Stil her. Seine Abläufe sind eng miteinander verbunden und bestehen zum großen Teil aus schnellen Bewegungen mit kurzer Reichweite. Meist werden dabei die Arme geöffnet und wieder geschlossen, und womöglich heißt dieser Stil deshalb „kleiner Rahmen“ (Xiao Jia).

Vom Hao-Stil stammt die Sun-Schule ab. Sun Lutang (1861-1932), ihr Gründer, war ein Schüler Haos und entwickelte dessen Ideen in eine andere Richtung weiter: Behende und flink muss der Adept seine Hände und vor allem seine Füße einsetzen, was der Schule den Alternativnamen Huobu Jia („Rahmen des beschwingten Schrittes“) gab.

Diese fünf Schulen bilden den Hauptrahmen für das gesamte Taijiquan-System, zu jeder gibt es noch Unterarten. Bei aller Verschiedenheit haben sie jedoch auch viele Gemeinsamkeiten:

1.      Der Körper befindet sich in einer natürlichen, ausgestreckten und entspannten Lage, bei der das Schwergewicht auf Geschmeidigkeit gelegt wird. Bei allen Übungen bleibt der Rumpf gerade, wird nur leicht bewegt und die ganze Zeit über aufrecht gehalten. Alte Texte haben das so geschrieben: „Jeder Schritt so ruhig wie das Schleichen einer Katze“. Die Bewegungen fließen leicht und offen wie Wolken am Himmelszelt dahin, sind dabei aber gut ausbalanciert, stetig und fest. Bei diesem gleichnamigen und fließenden Bewegungsablauf sind die Muskeln weder angespannt noch schlaff. Geatmet wird tief und gleichmäßig, im Einklang mit den ausgeführten Bewegungen. Wenn wir hier von leicht und natürlich reden, heißt das natürlich nicht, dass man seine Übungen nachlässig, sorglos oder leblos ausführt. Es kommt darauf an, Kraft und Milde zu vereinen, seine Stärke angemessen und sanft zum Ausdruck zu bringen. Über- und Untertreibungen sind nicht erlaubt!

2.      Der Geist ist ruhig und zugleich aufmerksam, das Bewußtsein steuert den Körper. Es ist im Taijiquan äußerst wichtig, dass man seine Bewegungen vom Bewußtsein leiten lässt und dass in der Bewegung Stille ist, dass eine Einheit von Bewegung zustandekommt. Es kommt also darauf an, gleichzeitig den Körper, den Willen und die Atemtechnik zu trainieren. Als empfehlenswert gilt ein hohes Maß an Konzentration, denn nur so kann der „Schattenboxen“ sich der Perfektion seiner Bewegungen sicher sein und nur so haben sie tatsächlich die physiotherapeutischen Funktionen, die das Taijiquan berühmt gemacht haben.

3.      Alle Bewegungen sind während der ganzen Übung miteinander verwoben. Das Taijiquan erfordert, dass Hände, Augen, Körper, Rumpf und Glieder als Einheit auftreten, mit den Beinen als fester Grundlage und der Taille als Achse. Obwohl alle Bewegungen sanft und langsam sind, befindet sich doch jeder Teil des Körpers in Bewegung. Ein Schüler des Taijiquan darf sich niemals wie eine Marionette bewegen! Sobald man sich nur auf einen Teil des Körpers – die Hände zumeist – konzentriert und andere Teile vernachlässigt, ist es aus mit dem Fluss und der Schönheit. Die Teile, die das größte Gewicht tragen, sind ja in der Tat die Taille und die Beine; die meisten Bewegungen werden außerdem in vielen Teilen der Übung aus einer halb hockenden Position aus eingeleitet.

Aus „China im Aufbau“, Nr. 9, 1982

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