Zur
Entstehung und Entwicklung des Taijiquan
Ein Alchimist und Wunderheiler namens Zhang
Sanfeng – so eine der vielen Legenden – soll vor etwa 800
Jahren einmal einen Traum gehabt haben, in dem ihm der legendäre
Kaiser Xuan Wu das Schattenboxen beibrachte. Am nächsten
Morgen machte er sich aus seiner Heimat, den Wudang-Bergen,
auf und verbreitete diese wunderbare Kampfkunst unter dem
Volke. Damit handelt es sich bei Taijiquan um das Geschenk
einer Gottheit, das von übernatürlichen Wesen in die Welt
gebracht wurde – wer’s glaubt!
Woher kommt Taijiquan nun wirklich? Nach
den verfügbaren historischen Quellen entstand es gegen Ende
der Ming-Dynastie in Chenjiagou in Henan. Diese Gegend hatte
viel unter den Feldzügen der Mandschus zu leiden, andererseits
erhoben sich auch hier die aufständischen Bauern: beides
ein Grund, die Kampfkünste zu fördern. Auf der Suche
nach neuen Wegen der körperlichen Auseinandersetzung
mit und ohne Waffen entstand dabei eine neue Form des Boxens.
Waren bisher immer schnelle Bewegungen und kräftige Schläge
und Stöße bevorzugt worden, machte sich der neue
Stil einige Prinzipien aus der chinesischen Philosophie zu
eigen. „Das Starke und Harte wird durch das Schwache und Weiche
überwunden“, „Anpassung an den Stil des anderen“, um ihn mit
den eigenen Waffen zu schlagen, und „die Wucht von einer Tonne
mit weinigen Unzen überwinden“ sind einige davon. Allgemein
gesagt gibt es sowohl energische als auch sanfte Bewegungen,
schnelle und langsame, wobei eine Bewegung der anderen in
einem nicht abreißenden Fluss von Rhythmus und Harmonie
folgt.
Da Taijiquan ursprünglich aus acht Grundhaltungen
für die Hände und fünf Grundformen für die Körperhaltung
bestand, ist es auch unter dem Namen „13 Formen“ bekannt,
weiterhin auch als „Changquan“ (langes Boxen), da es dem endlosen
Fließen des Yangtse gleicht, der auf Chinesisch Changjiang
heißt. Wir verfügen heute noch über einige Handbücher
über die „13 Formen“ und das „Changquan“, aus denen erhellt,
dass diese Boxkunst große Ähnlichkeit mit der im
Quanjing („Das Buch des Boxkampfs“) beschriebenen Stilrichtung
aufweist. Dieses Kompendium, geschrieben von Qi Jiguang (1528-1587),
einem berühmten General der Ming, berichtet über sechzehn
verschiedene Boxschulen. Es lässt sich daher wohl mit
einigem Recht vermuten, dass das Taijiquan verschiedene Elemente
dieser Schulen zu einer neuen Einheit zusammengefügt hat und
sie weiter entwickelt.
Gegen Ende des 18. Jahrhunderts faßte
ein Meister der Kampfkünste namens Wang Zongyue zusammen,
was dieser neue Stil hervorgebracht hatte, und kam dabei zu
dem Schluss, dass eine enge Beziehung zwischen dieser neuen
Schule und der Philosophie des Yin und Yang
besteht. Yin ist das weibliche, dunkle und negative
Prinzip in der alten chinesischen Philosophie, Yang
sein Gegenteil und seine Ergänzung, es ist männlich,
hell und positiv. Diese Lehre spielt in der Taiji-Philosophie
(des „Uranfangs“ alles Lebendigen) eine große Rolle,
weshalb Wang diesem Boxstil in seinem Buch denn auch den Namen
Taijiquan gab. In der Mitte des 19. Jahrhunderts begann sich
das Taijiquan von Henan aus rasch über das ganze Land zu verbreiten.
Das letzte Jahrhundert sah wiederum große
Veränderungen in der Ausführung des Schattenboxens. Viele
explosive und kraftbetonte Bewegungen verschwanden ebenso
wie das wilde Stampfen mit den Füßen, übrig blieben
entspannte, weiche und beinahe zärtliche Bewegungen,
eher Schäfchenwolken als das Donnerwetter, das der Gegner
vielleicht erwartete. In dieser Gestalt ist Taijiquan nicht
nur Kämpfern und Sportlern zugänglich. Sondern auch
Kindern, Alten und Gebrechlichen. In dieser Zeit rückte der
therapeutische Wert und die gesundheitsfördernde Funktion
von Taijiquan mehr und mehr in den Mittelpunkt des Interesses.
Von den verschiedenen Schulen, die das Taijiquan
selbst hervorbrachte, erwies sich die Yang-Schule bald als
die beliebteste. Ihren Namen trägt sie nach Yang Chengfu
(1883-1936), der diesen Stil ordnete und systematisierte.
Sie zeichnet sich durch natürliche und gestreckte Posituren,
langsame und gleichmäßige Bewegungen, einen stetigen
Fluss des Bewegungsablaufes und einen wogendschwingenden Gesamtablauf
aus. Sie trägt auch den Namen Da Jia („Große
Rahmen“).
Die Schule mit der längsten Geschichte
ist die Chen-Schule. Außer langsamen Bewegungen, die
stets so aussehen wie ein Kampf unter Wasser, zeigt sie auch
Sprünge, Hüpfer und plötzliche Ausbrüche konzentrierter
Kraft. Sie trägt auch den Namen Lao Jia („Alter
Rahmen“).
Ein weiterer Stil namens Zhong Jia
(„Mittlerer Rahmen“) oder Wu-Stil ist verwandt mit der Yang-Schule.
Wie in der Chen-Schule bewegen sich die Ausführenden langsam
im Kreis, wobei sie eher gemäßigte Haltungen einnehmen.
Ihre leichten Bewegungen sind dafür aber um so enger verworben.
Ein weiterer Wu-Stil wurde von Hao Weizhen
popularisiert, wehalb man ihn auch unter dem Namen Hao-Stil
kennt. Auch er leitet sich aus dem Yang-Stil her. Seine Abläufe
sind eng miteinander verbunden und bestehen zum großen
Teil aus schnellen Bewegungen mit kurzer Reichweite. Meist
werden dabei die Arme geöffnet und wieder geschlossen,
und womöglich heißt dieser Stil deshalb „kleiner
Rahmen“ (Xiao Jia).
Vom Hao-Stil stammt die Sun-Schule ab. Sun
Lutang (1861-1932), ihr Gründer, war ein Schüler Haos und
entwickelte dessen Ideen in eine andere Richtung weiter: Behende
und flink muss der Adept seine Hände und vor allem seine
Füße einsetzen, was der Schule den Alternativnamen Huobu
Jia („Rahmen des beschwingten Schrittes“) gab.
Diese fünf Schulen bilden den Hauptrahmen
für das gesamte Taijiquan-System, zu jeder gibt es noch Unterarten.
Bei aller Verschiedenheit haben sie jedoch auch viele Gemeinsamkeiten:
1.
Der
Körper befindet sich in einer natürlichen, ausgestreckten
und entspannten Lage, bei der das Schwergewicht auf Geschmeidigkeit
gelegt wird. Bei allen Übungen bleibt der Rumpf gerade,
wird nur leicht bewegt und die ganze Zeit über aufrecht gehalten.
Alte Texte haben das so geschrieben: „Jeder Schritt so ruhig
wie das Schleichen einer Katze“. Die Bewegungen fließen
leicht und offen wie Wolken am Himmelszelt dahin, sind dabei
aber gut ausbalanciert, stetig und fest. Bei diesem gleichnamigen
und fließenden Bewegungsablauf sind die Muskeln weder
angespannt noch schlaff. Geatmet wird tief und gleichmäßig,
im Einklang mit den ausgeführten Bewegungen. Wenn wir hier
von leicht und natürlich reden, heißt das natürlich
nicht, dass man seine Übungen nachlässig, sorglos
oder leblos ausführt. Es kommt darauf an, Kraft und Milde
zu vereinen, seine Stärke angemessen und sanft zum Ausdruck
zu bringen. Über- und Untertreibungen sind nicht erlaubt!
2.
Der
Geist ist ruhig und zugleich aufmerksam, das Bewußtsein
steuert den Körper. Es ist im Taijiquan äußerst
wichtig, dass man seine Bewegungen vom Bewußtsein leiten
lässt und dass in der Bewegung Stille ist, dass eine
Einheit von Bewegung zustandekommt. Es kommt also darauf an,
gleichzeitig den Körper, den Willen und die Atemtechnik
zu trainieren. Als empfehlenswert gilt ein hohes Maß
an Konzentration, denn nur so kann der „Schattenboxen“ sich
der Perfektion seiner Bewegungen sicher sein und nur so haben
sie tatsächlich die physiotherapeutischen Funktionen,
die das Taijiquan berühmt gemacht haben.
3.
Alle
Bewegungen sind während der ganzen Übung miteinander
verwoben. Das Taijiquan erfordert, dass Hände, Augen,
Körper, Rumpf und Glieder als Einheit auftreten, mit
den Beinen als fester Grundlage und der Taille als Achse.
Obwohl alle Bewegungen sanft und langsam sind, befindet sich
doch jeder Teil des Körpers in Bewegung. Ein Schüler
des Taijiquan darf sich niemals wie eine Marionette bewegen!
Sobald man sich nur auf einen Teil des Körpers – die
Hände zumeist – konzentriert und andere Teile vernachlässigt,
ist es aus mit dem Fluss und der Schönheit. Die Teile,
die das größte Gewicht tragen, sind ja in der Tat
die Taille und die Beine; die meisten Bewegungen werden außerdem
in vielen Teilen der Übung aus einer halb hockenden Position
aus eingeleitet.
Aus „China
im Aufbau“, Nr. 9, 1982