Februar 2004
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Zwischen Illusion und Desillusion

Praktische Erfahrungen aus zwanzig Jahren Chinesisch-Unterricht

Von Wolfgang Kubin

Wünschen lässt sich viel. In jungen Jahren neigt man dazu, sich für unvergleichlich zu halten, weil man meint, die Welt als Spielwiese kommender Entfaltungsmöglichkeiten betrachten zu können. Das Alter hat da wenig Chancen, es wird nach dem abgetan, was ihm an Möglichkeiten nicht mehr offensteht. Doch es ist nur eine Frage der Zeit, wann die Jugend zum Alter wird und sich die Frage gefallen lassen muss, was denn aus den großen Projekten von einst geworden sei.

Auch ich hatte in meiner Jugend viele Träume und lebte in einer Zeit, die von einem Traum zum anderen jagte. Niemand stellte sich die Frage, was wünschenswert und was machbar sein sollte. Wir wollen alles, war der Slogan, und zwar sofort. Dies betraf auch den Chinesisch-Unterricht. Und damit bin ich beim Thema. Aus der revolutionären Vergangenheit der sinologischen Seminare haben wir heute nicht mehr viel geerbt. Und das ist gut so. Nur ein Problem scheint verblieben zu sein. Dieses kleidet sich in die alte Frage, ob es denn nicht doch möglich sein sollte, die chinesische Sprache schnell und effektiv zu erlernen. Am besten wie ein Chinese.

Ich möchte hier gleich meine Antwort geben: Das ist nicht möglich. Und ich füge hinzu, das ist auch gut so. Wenn wir nämlich Chinesisch wie die Chinesen erlernen könnten, würden die Chinesen überflüssig. Umgekehrt würden wir unnötig, wenn es ihnen, den Chinesen nämlich, gelänge, Deutsch wie die Angehörigen deutschsprachiger Länder zu beherrschen. Wir leben von den Differenzen. Und so freue ich mich, wenn mir in Briefen bekannter chinesischer Germanisten Verstöße gegen die deutsche Sprache auffallen. Bitte, nicht aus Schadenfreude, sondern aus dem einfachen Grund, dass mir die Fehler eines anderen die Freiheit geben, selber Fehler machen zu dürfen. Perfektion macht krank. Ich möchte das Recht auf Fehler haben. Daher möchte ich Chinesisch nie perfekt beherrschen. Doch bis zu diesem Einverständnis liegt ein langer Weg. Über diesen langen Weg möchte ich Ihnen berichten.

Auf diesem Weg begegnen Sie mir und schließlich auch meinen Studenten. Ich bitte, mit mir beginnen zu dürfen, es ist leichter über sich als über andere kritisch zu reden. Dabei verfolge ich zwei Ziele: Ich möchte Sie zu eben diesem langen Weg ermuntern und Ihnen dadurch nahelegen, das Missverhältnis von Machbarem und Wünschbarem akzeptieren zu wollen. Es ist dies übrigens ein Missverhältnis, für dessen psychologische Bewältigung die Dozenten oder Hochschullehrer der Sinologie selten eine Hilfe sind. Sie leiden nämlich auch an diesem Missverhältnis, wagen jedoch nicht, dieses zuzugeben, aus Angst, sich vor ihren Schülern bloßzustellen. Stattdessen tun sie so, als seien sie in allen Sprachformen des Chinesischen daheim, ob alt oder modern. Erling von Mende, Professor für Sinologie an der FU Berlin, hat mich einmal als Scharlatan bezeichnet. Er hatte damit sicherlich recht, doch denke ich, nicht nur ich bin ein Scharlatan, alle Sinologen sind Scharlatane, weil sie in eine Rolle gezwungen werden, der sie nicht gerecht werden können, der Rolle des Sprachartisten und Wissensgiganten.

Ich habe spät erst mit dem Chinesischen begonnen und lange gebraucht, eine gewisse Sicherheit zu finden, die Sicherheit, die mir heute erlaubt, meine Mängel öffentlich einzugestehen. Das Chinesische ist nämlich so uferlos wie China selbst, wir werden in unseren Fähigkeiten und Erkenntnissen nie an ein Ende gelangen. Und lassen Sie mich hinzufügen, es ist gut so, denn ich will weder alles können noch alles wissen. Ich bin dankbar für alles, was größer ist als ich selbst. In etwa 25 Jahren Beschäftigung mit dem Chinesischen habe ich zunächst gelernt, dass das Studium der chinesischen Sprache ebenso wie die Beschäftigung mit der Sinologie ein lebenslanger Prozess ist. Ein Prozess wohlgemerkt, das heißt, man wird zwar stets seine Fähigkeiten verbessern, aber nie an ein Ende kommen. Dies ist die Dimension der Zeit, welche Schüler und Lehrer viel zu wenig beachten.

In welchem Prozessabschnitt befinde ich mich heute? Durch die Arbeitssituation bedingt habe ich bis jüngst das moderne Chinesisch in den Vordergrund und das klassische Chinesisch in den Hintergrund treten lassen müssen. Dabei habe ich die eine Fähigkeit zu Ungunsten der anderen entwickeln müssen. Daher bin ich, was das Klassische angeht, nur in meiner Domäne, der Dichtkunst nämlich, zu Hause. Aber auch hier freue ich mich über jede Übersetzung, selbst wenn diese nur in die chinesische Hochsprache erfolgt ist. Am glücklichsten machen mich japanische Übertragungen, weil sie, für das Auge leicht erfaßbar, die Grammatik aufschlüsseln. Für das moderne Chinesisch bedarf ich einer solchen Hilfe nicht, aber das ist nicht ganz selbstverständlich, denn nach einem Jahr Peking hatte ich mich 1975 in Japan noch fleißig mit Übersetzungen moderner chinesischer Literatur ins Japanische eingedeckt. Denn die moderne chinesische Hochsprache habe ich eigentlich erst sehr lange nach meinem Studium in Bochum und Peking und nach meiner Weiterbildung in Berlin erlernt, nämlich erst in Bonn, als ich dort Professor für Chinesisch wurde. Hier kamen zwei glückliche Umstände zusammen, übereifrige, wissbegierige, begeisterungsfähige Studenten und engagierte Chinesen, sei es in der Gestalt von Lektoren oder in der Gestalt meiner Frau.

Es gibt Tage in Bonn, da spreche ich nicht ein Wort Deutsch, und dennoch belächeln meine beiden Söhne mein Chinesisch. Sie kritisieren meine Töne, mein geringes aktives Vokabular und den oft fehlenden präzisen Ausdruck. Aber was habe ich denn dann in diesem Treibhaus des Chinesischen überhaupt gelernt? Mit den Augen kann ich fast alles lesen, mit den Ohren fast alles verstehen. Meine Schwäche jedoch liegt im sprachlichen und schriftlichen Ausdruck. Ich denke zu deutsch und bin nur bei überwachem Zustand in der Lage, mich vom Fluss der Sprache leiten zu lassen. Und nur wenn ich innerlich ausgeglichen, ja selbstbewusst bin, traue ich mir eine Dolmetschertätigkeit zu, aber auch da, unvorbereitet nur im Bereich der Kultur. Alles andere bedürfte einer gezielten Vorbereitung.

Ich betone den psychischen Faktor hier so sehr, weil Verstehen und Sprechen oft auch etwas mit der Seele des einzelnen zu tun hat. Man darf nämlich im Akt der Übertragung nicht an dem zu zweifeln beginnen, was man eindeutig verstanden hat. Und das Schreiben? Es ist eine Qual. Ich habe nämlich eine Rechtschreibschwäche. Es hat sich als unheilvoll erwiesen, das klassische und moderne Chinesisch gleichzeitig mit dem modernen Japanisch zu erlernen. Mir gehen heute immer noch die unterschiedlichen Kürzel durcheinander, so dass ich mich beim Schreiben wieder und wieder durch die Benutzung des Xinhua Zidian der richtigen Zeichen versichern muss. Es ist da wenig Trost, dass mir chinesische Dichter nicht selten ihre selbstgesetzten Manuskripte mit Verschreibungen in die Hand drücken. Mit anderen übe ich gern Nachsicht, mit mir nie.

Wieviel ich in den nächsten 15 Jahren bis zu meiner Pensionierung noch lernen werde, weiß ich nicht. Ich kann nur von meinem Ehrgeiz sprechen, nämlich einmal, was die moderne Hochsprache angeht, mein Niveau in Schrift und Wort anzuheben, und zum anderen, was das Klassische betrifft, meine Lesefähigkeit von japanischen und chinesischen Hilfestellungen befreien helfen. Letzten Endes werde ich selbst am Tag meiner Emeritierung das Chinesische nicht so erlernt haben, wie ich es mir gern wünschen würde. Diese Erkenntnis hat mehrfache Auswirkungen: auf mich selbst und auf meine Studenten. Und damit komme ich zu den Wegen des Chinesischerwerbs. Ich war nie ein guter Student und suchte sehr bald meine Zuflucht im Auswendiglernen von Texten. So hatte ich Latein, Griechisch, Englisch und Französisch gelernt. Ich sehe das Auswendiglernen heute nach wie vor als die einzige Möglichkeit an, der Unlogik chinesischer Grammatik Herr zu werden und sich einen chinesischen Sprachfluss anzueignen.

Wie Sie wissen, ist dies eine konfuzianische Methode. Sie wurde uns auch in Bochum von Alfred Hoffmann nahegelegt, und sie funktionierte. Dies ist ein Grund, warum ich von Studenten heute eigentlich nur eines erwarte, Fleiß und Hingabe. Sind diese gegeben, kommt alles andere von selbst, besonders wenn man wie ich Spätentwickler ist.

Bis zu meiner Begegnung mit Alfred Hoffmann habe ich wie viele andere auch mit dem Chinesischen im Hader gelegen. Ich war von Münster gleichsam geflohen, da ich mit dem dort Erworbenen nicht umgehen konnten. Wir waren jedoch ebenso in Bochum mit denselben unlösbaren Problemen konfrontiert wie die heutigen Studierenden des Chinesischen auch. Keine Methode schien uns recht, kein Lehrbuch das richtige zu sein. Die Dozenten konnten machen, was sie wollten, wir hielten unsere Kritik stets für gerechtfertigt, weil wir schließlich frustriert waren und trotzdem etwas lernen wollten. Die damalige Kritik an allem führte zu den absonderlichsten Experimenten, die einen schworen auf die Lehrwerke aus der VR China, die anderen auf die entsprechenden Werke aus den USA, die einen zogen ins Sprachlabor, die anderen ließen sich die Fibeln für Erstklässler aus Taiwan kommen. Ich will nicht sagen, niemand habe etwas gelernt, aber da alles damals eine Frage von Revolution und Reaktion war, lag die Erfolgsquote sicherlich sehr viel niedriger als heute.

Berlin 1977 stellte dann ein noch größeres Experimentierfeld dar, auch aus Gründen, die mit dem Studiengegenstand nichts mehr zu tun hatten. Um der Arbeitsklasse willen wurde der Sprachunterricht nämlich auf morgens 8 Uhr anberaumt, so dass ich als notorischer Frühaufsteher sehr bald der einzige pünktliche Arbeiter war. Viel Chinesisch habe ich damals nicht vermitteln und auch nicht lernen können. Trotzdem war Berlin keine verlorene Zeit, da die Fortsetzung der Irrtümer mir für Bonn einen pragmatischen Weg zwingend erscheinen ließ. Bis in die Nachwehen des 4. Juni 1989 hinein ging dieser neue Weg auf.

Ich hatte jedoch in Bonn mehrfaches Glück. Die Zeit der Richtungskämpfe war vorbei. Es war eine Selbstverständlichkeit, dass die pädagogisch gut aufbereiteten Lehrbücher des einstigen Pekinger Spracheninstitutes, der heutigen Hochschule für die Sprache und Kultur Chinas, benutzt wurden, Lehrwerke, die ich mir in stets neuester Ausgabe schicken ließ. Das betraf insbesondere die Handbücher zur Zeitungslektüre. Mein zweites Glück in Bonn war, auf gute Studenten zu treffen, so gute, dass ich selbst mit meinen Chinesischkenntnissen oft gefordert war. Die allgemeine Begeisterung und der ungezügelte Lerneifer trieben die Studenten nicht nur dicht vors Katheder, sondern auch in ein gesundes Konkurrenzverhalten zu- und miteinander. Es gab immer welche, die über Gebühr vorbereitet waren und sich von der Fülle des Stoffes nicht erschöpfen ließen. So wurden neue Kurse und Kursformen nicht als Zwang, sondern als Glück empfunden, im Grund- wie im Hauptstudium. Ich selbst sah mich oft genötigt, das Doppelte meines Lehrdeputats zu unterrichten, um die Studierenden zufrieden zu stellen. Die neuen Kurse betrafen hauptsächlich das Hauptstudium. Im Grundstudium ließ sich auf Grund der Angebotsdichte in Sachen Sprache lediglich ein praktischer Kurs zur Zeitungslektüre einrichten, in welchem man die bereits erarbeiteten Lektionen umgekehrt abfragte, das heißt, ich fragte wie in der Vorbereitung auf einen Dolmetscherkurs die für die politische und Wirtschaftssprache wichtigen Satzmuster auf Deutsch ab.

Die Veränderungen im Hauptstudium sahen einen Videokurs, Konversationskurse zu Themen aus den Bereichen Politik, Wirtschaft und Kultur sowie eine Vorlesung auf chinesisch vor. Für die Examenskandidaten wurden eigens schriftliche wie mündliche Kurse zur Vorbereitung auf Examen eingerichtet. Man konnte also unter examensähnlichen Bedingungen dreistündige Übersetzungsklausuren Chinesisch-Deutsch, Deutsch-Chinesisch in den jeweiligen Fachsprachen bzw. Aufsätze nach Wahl schreiben. Da die mündliche Fachprüfung im Examen nur auf Chinesisch erfolgte und mit einer Stegreifübersetzung begann, wurden eigens Kurse für den fachsprachlichen Selbstausdruck und für die unvorbereitete Übersetzung eingerichtet.

Die Leistungen im Examen waren im Großen und Ganzen vorzeigbar, doch was man nicht vergessen darf: sie waren durch einen monatelangen Drill vorbereitet, sie waren das Ergebnis aus studentischem Fleiß und lehrerseitigem Ehrgeiz. Für einen Übersetzer bzw. Dolmetscher ist Drill unabdingbar, auch für die Herausbildung eines Selbstbewußtseins. Viele Studierende der Sinologie bzw. des Faches Chinesisch leiden an Unterschätzung oder gar an Minderwertigkeitsgefühlen. Ein guter Lehrer erkennt dies und versucht es im Unterricht auch durch Drill abzubauen. Er wird dann in der Lage sein, seine Schüler in einen Beruf zu entlassen.

Doch es ist nun an der Zeit, besser in der Vergangenheit zu reden. Seit wenigen Jahren höre ich nämlich von Abgängern meist Klagen, sie fänden keine Arbeit, sie seien durch die Universität nicht auf das Berufsleben vorbereitet worden usw. Die Klagen sind nicht ganz unberechtigt, doch meist versuche ich mich, ihrer zu erwehren. Warum? Nach 1989 und nicht nur nach dem 4. Juni 1989 ist eine ganz andere Studentengeneration auf den Plan getreten. Alle Hochschullehrer, ganz gleich in welchem Fach, bedauern das wachsende Desinteresse der Studierenden in Hörsaal und Sprechstunde. Der Grund ist ganz einfach.

Alles ist im Wandel begriffen, und niemand kann mehr mit Sicherheit sagen, er wird einmals als Lehrer, als Arzt, als Jurist oder als Sinologe arbeiten. Die Universität kann nicht auf einen Beruf vorbereiten, sondern nur Optionen anbieten. Die eigentliche Bildung beginnt erst nach dem Examen. Dies setzt aber voraus, dass jemand weiß, was er will. Viele wissen aber selbst nach dem Examen nicht einmal, was sie eigentlich mit ihrem Leben anfangen wollen. Es ist nicht meine Aufgabe, dies hier zu vertiefen. Ich möchte auf mein Thema zurückkommen. Die Ausbildungssituation in der Sinologie bzw. im Fach Chinesisch war nie so gut wie heute: kleine Klassen, relativ viele Lehrer, leere Seminarbibliotheken. Und dennoch sind die Leistungen viel schlechter als früher, inzwischen schleppt man Studenten mit, die in der Vergangenheit angesichts der strebsamen Kommilitionen das Weite gesucht hätten. Mancher Kurs wird vorzeitig beendet, weil niemand mehr hinreichend vorbereitet ist, manch ein Kurs wird gar abgesagt, weil niemand mehr das notwendige Niveau hat.

Heute kann man nur noch sagen, wer kein Chinesisch lernt, ob modern oder klassisch, ist selber schuld. Es sind nicht die unperfekten Lehrbücher, es sind nicht die überarbeiteten Dozenten, es sind nicht die Massen-Universitäten, die das Erreichen selbstgesteckter Ziele nicht möglich machen, es sind die Studenten selbst, die, weil sie keine Träume und keine Forderungen mehr haben, in der Uferlosigkeit des Chinesischen versinken.

Wer weiß, was er will, steht morgens um 6 Uhr auf und lernt jeden Morgen eine Stunde lang sein Lehrbuch oder seinen Lieblingsklassiker auswendig. Er hört dann irgendwann auf, deutsch zu denken und deutsche Satzmuster im Chinesischen zu bilden. Ihm gehen dann die chinesischen Sätze so mühelos über die Lippen wie meinen beiden Jüngsten, wenn sie in dieser Jahreszeit sagen: „Bu dai shoutao leng.“ Auf deutsch würden wir sagen: Wenn man keine Handschuhe trägt, ist einem kalt. Wie umständlich. Ohne Handschuhe ist einem kalt. Immer noch umständlich. Und wer wäre nicht geneigt, ins Chinesische übertragend so zu sprechen: „Ruguo ni bu dai shoutao, ni hui juede feichang leng.“ Nur: wer spricht so, das ist Buchchinesisch, gesprochen von jemandem, der deutsch denkt. Die Kunst des Chinesischen liegt in der Aufgabe des Deutschen, und diese Kunst erwirbt man nur durch jahrelanges Auswendiglernen.

Jahrelanges Auswediglernen bedeutet aber auch jahrelange Geduld mit sich und anderen. Es ist dies eine gute Schule auch für den Beruf. Man muss nicht nur auf die Beherrschung des Chinesischen warten können, sondern auch auf den Beruf. Viele Studierende macht diese meine Aussage aggressiv, und ich bin dafür schon viel beschimpft worden. Es weiß nur niemand, dass es zu meiner Zeit oftmals noch nicht mal die Chance zu einer Bewerbung gab, und: dass ich nie Professor werden wollte. Ende der 70er Jahre habe ich mich zwei- oder dreimal bewerben können. Einmal hatte ich Glück. In den 80er Jahren konnte ich mich etwa sechsmal bewerben. Hier hatte ich wieder einmal Glück. Hätte ich die beiden Male dies Glück nicht gehabt, wäre ich heute Reiseleiter für Asien oder Lehrer für Deutsch und Religion. Mein österreichisches Lebensprinzip „Wurschteln“ hat mich für etwas anderes ausersehen. Aber die anderen beiden Berufe hätten mir sicherlich ebensoviel Spaß gemacht.

Wenn ich heute manchmal auf Grund von Anfragen in die Situation komme, meinen Examenstudenten Arbeit zu vermitteln, treffe ich oft auf ein Zögern: Dem einen ist es zu wenig Geld, der anderen nicht bequem genug. Mann und Frau geben sich nicht selten wählerisch, was ich in meiner Jugend gern hätte sein wollen oder mögen.

Inzwischen scheinen mir auch aus anderem Anlaß die Klagen der arbeitslosen Sinologen etwas Irreales angenommen zu haben. Jeden Winter beginnen in Deutschland 20 000 Menschen Germanistik zu studieren. In Bonn sind 4000, in München oder Berlin gar 5–8000 Studenten für dieses Fach eingeschrieben, in ganz Deutschland gar 100 000. Aber einen Arbeitskräftebedarf auf dem Arbeitsmarkt, wie es so schön heißt, gibt es für sie nicht. Doch warum studieren dann so viele Menschen Germanistik? Weil Germanistik ein großartiges Fach ist? Ich weiß es nicht.

Worauf will ich hinaus? Manchmal tut man Dinge, die sich nicht erklären lassen. Wichtig ist nur, dass man sie gut tut, denn gute Leute gibt es nur sehr selten. Die Zukunft lässt sich nicht schematisch festlegen, daher ist „Wurschteln“ kein schlechtes Prinzip. Wege mögen sich dabei von selbst ergeben. Das mag fromm klingen, aber es ist die Erfahrung meines Lebens. Und das möchte ich nicht deswegen Lügen strafen, weil ich fürchten muss, von Ihnen der Weltfremdheit geziehen zu werden.

Ich möchte mit einem Bild schließen, über das ich Sie nachzudenken bitte: Als ich im September zu einer Konferenz nach Peking flog, traf ich auf dem Flughafen Frankfurt einen ehemaligen Schüler. Er bestieg die erste Klasse, ich die Touristenklasse. Selbst Business-Klasse steht bei Einladungen für mich und meinesgleichen nicht einmal zur Debatte. Später erfuhr ich, dass dieser promovierte Sinologiestudent von einst immer nur erster Klasse fliege, er sei schließlich der Generalvertreter einer großen deutschen Autofirma für ganz China. In seiner Pekinger Garage ständen ein Jaguar und drei schwere Motorräder. Doch er verstünde seinen Reichtum nicht zu genießen, ihm sei das Leben fad.

Mit diesem Bild möchte ich Ihnen manches sagen. Erfolge mit Chinesisch sind möglich, aber sie bedürfen vieler Dinge: der Zeit, des Fleißes, der Geduld, und: man muss den großen Erfolgen auch gewachsen sein. Kleine und kleinere Erfolge, um die es Ihnen und mir sicherlich eher geht, haben daher vielleicht auch ihren Wert. Ihre Mitkonkurrenten gehen nicht in die 100 000, eigentlich haben Sie derzeit nur einen einzigen Mitbewerber: sich selbst.

Wolfgang Kubin, geb. 1945. 1973 Promotion an der Ruhr-Universität Bochum, 1981 Habilitation an der FU Berlin. Seit 1985 Professer für Chinesisch an der Universität Bonn und seit 1989 für Sinologie.

(Orientierungen 1/1999)

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