Self-Made-Milliardär
mit 32
Von
Qiu Jianghong
Die Brille
und der sanfte Ausdruck in seinem Gesicht lassen ihn aussehen
wie den jungen Bill Gates. Ding Lei, der 32-jährige Gründer
von Netease, wüsste nicht, dass er mit dem amerikanischen Dollar-Milliardär
verwandt ist. Er steht auch nicht auf der Forbes-Liste der reichsten
Menschen der Welt. Aber Ding ist, mit einem Vermögen von
7,5 Mrd. RMB, immerhin der reichste Mann auf dem chinesischen
Festland.
Wie brachte
er es in so jungen Jahren zu so viel?
Lebhafte Neugier
Ding Lei
schloss 1993 sein Studium im Fach Mikrowellen-Kommunikation
an der University of Electronic Science and Technology in Chengdu
ab. Professor Feng, Rektor des Guoteng-Instituts für Software
an der Universität und einst Dings Lehrer, sagt über ihn:
„Ding Lei war nicht der beste Schüler in seiner Klasse, war
aber wissbegierig und hatte breite Interessen.“
Professor
Feng erinnert sich an Ding am ehesten wegen seiner Energie und
Begeisterungsfähigkeit. Ding habe seine Zeit sorgfältig
auf alle Veranstaltungen aufgeteilt und sich nicht nur auf sein
Hauptfach konzentriert.
Während
seines Studiums kam Ding in Berührung mit dem Konzept von Compuserve,
dem ersten Online-Dienst auf dem Vorläufer des heutigen
Internets. Ihm war gleich klar, dass die Idee ein riesiges Potential
hatte, doch er verstand nicht alle Einzelheiten und er wusste
auch nicht genau, wie sie funktionieren sollte. Aber mit dem
Anlaufen des Internets nahm alles Gestalt an.
Als das
Internet im Westen seine ersten Schritte tat, war es in China
selbst für Computerwissenschaftler noch eine unbekannte Größe.
Doch Ding war sich sicher, etwas Vorteilhaftes entdeckt zu haben,
und sammelte alle erhältlichen Informationen darüber. Nach
seinem Studienabschluss arbeitete er zwei Jahre in einem Telekommunikationsamt,
wo er sich mit den Grundlagen der TCP/IP-Technologie vertraut
machte. Gleichzeitig erweiterte er seine Internetkenntnisse
in der Gewissheit, dass es zu einem riesigen Markt anwachsen
würde.
„Ich gab
meine Stelle schließlich auf und ging nach Guangzhou,
um mich persönlich weiterzuentwickeln“, erzählt Ding
Lei. „In meinen Augen war dies der erste Schritt dahin, mir
Möglichkeiten zu schaffen, die mein Leben verändern
können würden.“
Der erste mutige Schritt
Ein Adlerjunge
wurde von seiner Mutter an die Spitze einer Klippe gebracht,
und sie sagte zu ihm: „Du bist ein Adler, du kannst fliegen.“
Das Adlerjunge sagte: „Nein, das kann ich nicht, ich habe Angst.“
Seine Mutter schubste ihn hinunter. Das Junge strauchelte und
fiel, breitete dann seine Flügel aus und siehe da – es flog.
Diese Anekdote
erzählt Ding Lei seinen Angestellten immer wieder. Sie
sollen sich bewusst sein, dass jeder über ein persönliches
Potential verfügt, dieses aber durch Gewohnheiten und Umstände
verborgen oder gar im Laufe der Zeit verloren gegangen sein
kann.
In seinen
ersten Jahren in Guangzhou besaß Ding Lei weder Geld,
noch konnte er mit Unterstützung durch ein spezialisiertes Unternehmen
rechnen. Anfangs arbeitete er mit seinen zwei Mitarbeitern in
einem kleinen Büro und verdiente sein Brot mit dem Programmieren
von Software. Nach zwei Jahren hatte er einen ersten Notgroschen
zusammengespart.
1997, als
noch immer kaum jemand in China etwas vom Internet wusste, ließ
Ding Lei in Guangzhou die Firma Netease mit einem Kapital von
500 000 RMB eintragen. Mit einem Angebot aus kostenlosem E-Mail-Dienst
und Speicherplatz für persönliche Internetseiten gewann
das Unternehmen die Unterstützung von Millionen von Benutzern.
Ein Jahr später, 1998, heimste Netease in einer Wertung
der zehn besten Websites des Jahres, die vom China Internet
Network Information Center herausgegeben wurde, vier Auszeichnungen
ein.
Im April
1999 zog Ding Lei mit seiner kleinen Belegschaft nach Beijing
und gründete Netease Beijing. In der Hauptstadt entwickelte
sich das Unternehmen sehr rasch und verfügte bald über mehr
als 100 Mitarbeiter. Am 30. Juni 2000 startete Netease an der
NASDAQ mit 15,50 US-Dollar pro Aktie. Mit einem Anteil von 50%
am Unternehmen stieg Ding Lei bald zum Star des chinesischen
Internets auf und eroberte sich einen Platz auf der China-Liste
von Forbes.
Nicht verzagen
„Das Leben
ist wie eine Pralinenschachtel. Man weiß nie, was einen
erwartet.“ Diese berühmte Zeile aus dem Film Forrest Gump
beschreibt Ding Leis Erfahrung im Internetgeschäft sehr
zutreffend.
2001, als
sich Netease in einem anhaltenden Aufwärtstrend befand,
entdeckte das Unternehmen interne Verbuchungsfehler. Obwohl
sie sogleich behoben wurden, löste die Nachricht eine Vertrauenskrise
aus.
Es folgte
eine Untersuchung durch die NASDAQ, was die Zuversicht der Investoren
gegenüber Netease stark beeinträchtigte. Der Kurs der Firma
fiel im Sturzflug auf den absoluten Tiefpunkt von weniger als
1 US-Dollar pro Aktie, und Netease wurde angehalten, den Handel
mit seinen Papieren auszusetzen.
Glücklicherweise
nahm der Geschäftsgang des Unternehmens keinen Schaden.
Im Gegenteil, mit neuen Diensten wie Online-Bildung, virtuellem
Rendez-vous, Online-Spielen und dem Versenden von SMS, die sich
großer Beliebtheit erfreuten, hielt das Wachstum seiner
Benutzergemeinde an und übertraf alle Erwartungen.
Anders
jedoch auf der NASDAQ: Die Achterbahnfahrt des Aktienkurses
bescherte Ding Lei freudige Überraschungen, aber auch schlaflose
Nächte. Nach Abschluss der Untersuchung durch die Börsenaufsicht
wurde der Handel mit Netease-Aktien wieder freigegeben.
Dann machte
sich Netease daran, einen ehrgeizigen Plan zu verwirklichen,
um in die schwarzen Zahlen zu kommen: Das Internet-Werbegeschäft
sollte gefestigt werden, während gleichzeitig die Online-Spiele
und der Verkauf von SMS-Diensten verstärkt vorangetrieben
werden sollten. Im Quartalsbericht für das zweite Vierteljahr
2002 konnte Netease verkünden, als erstes der chinesischen Internetportale
einen Gewinn erzielt zu haben. Mit 38 000 RMB fiel er zwar bescheiden
aus, war aber nichtsdestoweniger ein Meilenstein.
In der
ersten Jahreshälfte 2003 legte sich eine riesige schwarze
Wolke – SARS – über den größten Teil des Landes,
doch für Netease leuchtete ein Silberstreifen am Horizont: die
riesigen Einnahmen aus den SMS-Diensten. Der Kurs an der NASDAQ
zeigte stetig nach oben und übertraf am 14. Oktober 2003 mit
70 US-Dollar den bisherigen Höchststand. Damit wuchs Ding
Leis Vermögen auf über eine Milliarde US-Dollar, was ihn
zum reichsten Mann auf dem chinesischen Festland machte.
Voraussicht bringt Vermögen
Die meisten
Internetportale erzielen ihre Einnahmen aus der Werbung, doch
ein Blick in den Geschäftsbericht von Netease zeigt, dass
es schon länger andere Profitquellen angezapft hat. Der
Bruttogewinn im dritten Quartal 2003 betrug 17,7 Mio. US-Dollar,
wovon 7,6 Mio. oder 43% aus Mobilfunk- und anderen Diensten
und 6,8 Mio. (38,4%) aus Online-Spielen stammten. Die Werbung
trug nur 20% zu den Einnahmen bei. Verglichen mit dem gleichen
Quartal 2002 stiegen die Einnahmen aus den Spielen um unglaubliche
366,8%.
Ding Lei
hatte es seiner Voraussicht zu verdanken, dass er auf dem Online-Spielmarkt
eine dominante Stellung erobern konnte. Bei einem Aufenthalt
in den USA im Jahr 2000 war er über die Reife und den Umfang
des amerikanischen Video-Spielmarkts überrascht. Er beschloss,
das erste größere Unternehmen für Online-Spiele in
China zu gründen, als sich die Konkurrenz, d. h. Sina, Sohu
u. a., noch darauf konzentrierte, mehr Werbekunden zu gewinnen.
Die erste
Aufgabe war, geeignete Spiele zu finden. Im März 2001 erwarb
Netease Tianxia Technology, einen führenden Software-Hersteller.
Darauf produzierte das Unternehmen das Spiel Die Reise nach
dem Westen Online, das zum Ende desselben Jahres herausgebracht
wurde. Seither ist Netease im mehrere Milliarden US-Dollar umfassenden
Online-Spielmarkt von einem „Handlanger“ zu einem Hauptakteur
aufgestiegen.
Ding Lei
sieht die Zukunft der Online-Spiele in interaktiven Ausgaben,
welche seiner Voraussage nach zur Regel werden werden. Er glaubt,
dass sich der Spielemarkt in den nächsten drei bis fünf
Jahren verzehnfachen wird, was auch verwandten Branchen zugute
kommen wird.
An neuen
Ideen fehlt es Ding Lei nicht. Noch brachte jede auch Gewinne
ein. Solange er so weitermacht, sollte Bill Gates auf der Hut
sein.